Ferat Kocak ist 39 Jahre alt und arbeitet als Marketing Direktor der Berlin International University. Er wurde in Kreuzberg geboren und wuchs in Neukölln auf. Seit zweieinhalb Jahren ist er im Vorstand der Linken in seinem Bezirk engagiert. Ferat Kocak lebt in Angst.
"Ich wechsle den Wohnort so oft wie möglich. Es gibt einige Orte, die ich immer wieder besuche, aber auch dort bin ich sehr vorsichtig. Es ist kein normales Leben mehr, sondern es ist ein Leben in Angst und in Flucht, und das wünsche ich niemandem."
In der Nacht zum 1. Februar vergangenen Jahres wurde Kocaks Auto angezündet. Es stand neben dem Haus seiner Eltern, ganz dicht an einer Gasleitung.
"Ich weiß nicht, wie ich wach geworden bin, ob es ein Knall war draußen, aber ich bin wach geworden, habe gesehen, dass es sehr hell ist, hab meine Eltern aus dem brennenden Haus rausgeschrien, aufgeweckt sozusagen, und in der Hektik habe ich auch gleich angefangen, mit dem Feuerlöscher das Feuer zu dämmen."
Überleben durch Glück
Es war Glück, dass Kocak und seine Eltern den Brandanschlag überlebten. Heute weiß Ferat Kocak, dass die Behörden den Anschlag hätten verhindern können. Nach Erkenntnissen des RBB beschatteten der Berliner Verfassungsschutz und auch der Staatsschutz des Landeskriminalamts zwei Neonazis, die als verdächtig gelten. Die Behörden hörten die Handy-Gespräche der Rechtsextremisten vor dem Anschlag ab. Sie können nachweisen, dass ein ehemaliger Neuköllner NPD-Funktionär und ein früheres AfD-Mitglied Kocak verfolgten und seinen Wohnsitz ermittelten.
Der Verfassungsschutz gab dies an das Landeskriminalamt weiter. Doch LKA und Polizei taten nichts.
"36 Stunden, nachdem der Verfassungsschutz dem LKA mitgeteilt hatte, dass die Neonazis wissen, wo ich wohne, wurde der Brandsatz gelegt, und wir sind nur mit sehr viel Glück mit dem Leben davon gekommen."
Ferat Kocak lebt seit 14 Monaten in der Angst vor einem weiteren Angriff von Rechtsextremisten auf ihn. Sie wollten ihn verletzen oder töten, und sie verfolgen ihn.
"Im Endeffekt haben sie es dann herausgefunden. Sie wussten, wo ich wohne, der Verfassungsschutz und das LKA wussten, dass sie es wissen, und ich wurde nicht gewarnt. Und das verunsichert mich."
"Ein klarer Aufruf zum Mord"
Ein ähnlicher Anschlag geschah am 16. März. Unbekannte sprühten im Flur eines Neuköllner Hauses eine Morddrohung an die Wand: "9mm für" stand da – hinzugefügt war der Name eines Mitarbeiters der "Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus", MBR. Auf den Briefkasten des Bedrohten sprühten sie mit roter Farbe ein Fadenkreuz. Bianca Klose, Projektleiterin der Beratungsstelle für Opfer rechtsextremistischer Angriffe in Berlin, deutet die gesprühten Botschaften.
"'9 Millimeter' ist ein klarer Aufruf zum Mord, ist eine konkrete Morddrohung gegenüber dem mobilen Berater der MBR", sagt sie. "Sie möchten Menschen, die sie als politische Feinde betrachten, markieren und ihnen Angst einflößen. Das Ziel der Rechtsextremen ist es, diese Menschen zu erschüttern, indem sie sie auch zu Hause aufsuchen."
Doch warum ist es in drei Jahren weder dem Verfassungsschutz noch dem Berliner Landeskriminalamt noch der Polizei gelungen, die Täter zu überführen? Ferat Kocak stellt fest:
"Irgendwas läuft schief, und wir Betroffene wollen wissen, was schief läuft."
Eine schriftliche und eine mündliche Anfrage bei Martin Pallgen, dem Pressesprecher der Senatsverwaltung für Inneres, erbringen nichts. Pallgen ist auch Pressesprecher des Berliner Verfassungsschutzes. Zu "nachrichtendienstlichen Maßnahmen" dürfe er sich nicht äußern, sagt Pallgen. Ihm seien "die Hände gebunden". Man befinde sich in einem "laufenden Ermittlungsverfahren". Diese Antworten wären verständlich, wenn sie nicht schon seit drei Jahren gegeben würden. Für Ferat Kocak liegt der Schluss nahe, dass die zuständigen Behörden bewusst nicht konsequent gegen die Täter vorgehen.
Fragen nach "rechtsextremen Einstellungen bei der Polizei"
"Für mich ist es wichtig, dass der Innensenator in seinem Ressort aufräumt und dass die regierenden Parteien auch dazu stehen und das unterstützen, dass da endlich aufgeräumt wird."
Sowohl die Opfer der Anschlagsserie als auch die Öffentlichkeit werden von staatlichen Stellen nicht über den Stand der Ermittlungen informiert. Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus fragt sich vor allem, wie die Täter die Wohnorte ihrer Opfer erfahren.
"Die Frage ist, ob es mehr oder weniger ein Datenleck gibt seitens der Behörden, eine Datendurchlässigkeit an die Außenwelt gibt, also dementsprechend auch an die möglichen rechtsextremen Täter, und wie weit letztlich auch rechtsextreme Einstellungen bei der Berliner Polizei verbreitet sind."
Haben Ermittler beim Landeskriminalamt möglicherweise vorsätzlich aus vorliegenden Informationen über die rechtsextremen Täter keine Konsequenzen gezogen? Haben die Ermittler die Täter gar bewusst gedeckt?
Berlins Innensenator Andreas Geisel regte eine Untersuchung der Vorfälle durch den Generalbundesanwalt in Karlsruhe an. Und Ferat Kocak fordert einen Untersuchungsausschuss über "rechte Strukturen bei der Berliner Polizei".