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Rechtsradikalismus im Jugendroman
"Junge Menschen sind nicht unpolitisch"

Damit die Sprache nicht zunehmend von Rechtspopulisten gekapert werde, schreiben Martin Schäuble und Christian Linker Romane über rechte Ideologie - für Jugendliche. Und stellen fest, dass manchmal selbst die abwegigsten literarischen Szenarien von der Wirklichkeit übertroffen werden.

Martin Schäuble und Christian Linker im Gespräch im Gespräch mit Ute Wegmann |
    Christian Linker (l) und Martin Schäuble (r) als Gäste im Deutschlandfunk
    "In einer dienenden Rolle": Die Autoren Christian Linker (l) und Martin Schäuble (r) beschäftigen sich intensiv mit rechter Ideologie und Literatur für Jugendliche. (Ute Wegmann)
    Ute Wegmann: Es geht heute im Büchermarkt für junge Leser um Politik im Jugendroman. Es geht um Geschichten, die von rechts motivierten Gewalttaten gegen Personen aufgrund ihrer Nationalität oder Religion berichten. Rechts motivierte Gewalt- und Straftaten erlebten einen ersten statistisch erfassten Höhepunkt Anfang der 90er Jahre und steigern sich seither mit Schwankungen auf drastische Weise.
    Hoyerswerda, die Mordanschläge von Mölln 1992, von Solingen 1993, das Nagelbombenattentat in Köln 2002, die Ceska-Mordserie an neun Männern mit Migrationshintergrund, nachweislich verübt von der Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Aber auch rassistische Aufrufe und das rechtsextreme Netzwerk unter Bundeswehrsoldaten, die Regierung prüft zur Zeit 200 Fälle von Rechtsextremismus. All das hat uns die letzten Monate parallel zur Flüchtlingskrise, den Terroranschlägen des IS, den Zäunen in Ungarn und Ausschreitungen in Calais beschäftigt.
    "Die rechtsnational Denkenden sind sehr laut"
    Die Opfer der meisten rechts motivierten Gewalttaten sind schnell verortet, schnell definiert. Immer waren es Menschen mit Migrationshintergrund. Nun aber hat man eine Liste mit Namen gefunden, im Jägerbataillon 291 der Bundeswehr, auf der linke Abgeordnete und unter anderem Justizminister Heiko Maas in den Focus geraten. Die rechtsnational Denkenden werden plötzlich hörbar, sind sehr laut und erinnern nicht selten an Bilder, die wir aus den Filmen über das Dritte Reich kennt.
    Wer sind die Täter? Woher kommen sie? Was bewegt sie?
    Meine beiden Gäste haben die gesellschaftlichen Ereignisse literarisch verarbeitet. Die Schriftsteller Martin Schäuble und Christian Linker.
    Von beiden erscheint in diesen Wochen ein neuer Roman: Zwei politische Jugendromane, die das Thema Rechtsextremismus und "Alternativen für Deutschland", in den Mittelpunkt ihrer Geschichten stellen.
    Christian Linker, geboren 1975 in Leverkusen, studierte Theologie und Jugendpolitik. Lebt mit seiner Familie in Leverkusen. Er schreibt Romane, auch für Kinder, sein Schwerpunkt liegt jedoch auf dem wirklichkeitsnahen Jugendroman. Letztes Jahr erschien "Dschihad Calling". Ein deutscher Junge verliebt sich in ein muslimisches Mädchen, die Salafistin ist, und radikalisiert sich durch den Kontakt zu ihrem Bruder.
    Martin Schäuble, geboren 1978, lebt mit seiner Familie in Stuttgart. Er beschäftigt sich im Sachbuch ebenso wie im Roman mit Politik und Religion. Absolvierte ein Politikstudium in Berlin, Israel und Palästina. Nach Sachbüchern über Israel und Palästina folgte "Blackbox Dschihad": Die Doppelbiografie zweier Dschihadisten - einem Palästinenser und einem Deutscher. Jetzt schrieb er eine futuristische Geschichte mit dem Titel "Endland". Christian Linkers Roman heißt "Der Schuss".
    "Bücher zu schreiben ist per se nicht unpolitisch"
    Zwei politische Jugendromane. Sie haben sich beide zuvor dem Thema Radikalisierung im Milieu des IS gewidmet, jetzt geht es um die Radikalisierung in der rechten Szene. Was reizt Sie an der Verarbeitung aktueller politischer und gesellschaftlicher Prozesse?
    Christian Linker: Es sind zwei Dinge: Ich denke Bücher zu schreiben ist per se nicht unpolitisch, denn in dem Moment, wo man ein Buch schreibt, das gelesen werden soll, tritt man ja in Beziehung. Ich finde, man kann sich nicht nicht verhalten. Das ist das zweite, was mich umtreibt, denn es geht um unser Ureigenes als Schriftsteller und Schriftstellerin - nämlich um die Sprache, die zunehmend gekapert werden soll, von den Rechtspopulisten, oder Rechtsextremisten, im Diskurs. Und ich finde, das ist unser Job, das irgendwie aufzugreifen und literarisch zu verarbeiten.
    Martin Schäuble: Ich merke es bei Lesungen, wenn ich junge Menschen vor mir habe, was für eine wahnsinnige Herausforderung das ist, sie für politische Themen zu interessieren, aber auch eine Chance. Es ist erstaunlich, dass Lehrer zu mir kommen und sagen, die Klasse hat mal richtig zugehört. Das lag dann nicht an mir, sondern daran, dass man mit einem Roman eine Sprache spricht, die wunderbar Jugendliche anspricht. Und genau das wollte ich bei "Endland", eine Sprache finden, die Jugendliche erreicht und sie dazu bringt, sich bis zur letzten Seite damit zu beschäftigen.
    Keine vorgerfertigten Meinungen anbieten
    Wegmann: Inwieweit betrachten Sie es als Ihre gesellschaftliche Aufgabe, als öffentliche Person, die mit Jugendlichen in Kontakt ist, zu den politischen Ereignissen Stellung zu beziehen?
    Linker: Ich würde gar nicht so weit gehen, dass ich Stellung beziehe. Beide Romane, über die wir heute sprechen, sind multiperspektivisch erzählt, das heißt, es gibt die Möglichkeit, dass ich mich in Leute hineinversetze, die ich auf Facebook niemals als Freunde hätte. Das hat auch erst Mal Spaß gemacht, da tauchen so Abgründe auf, wenn man den Leuten etwas in den Mund legt, die sogenannte Hatespeech, und sich dann fragt: Wie kommt jemand dazu? Wieso denken die so? Warum halten die das für wahr, was die sagen? Und man versucht, in die Haut der Leute zu schlüpfen und zu gucken, wie sich das anfühlt.
    Und das ist natürlich im zweiten Schritt eine Einladung an Leserinnen und Leser, sich dem auch mal zu stellen. Gerade im Jugendbuch müssen wir sehr aufpassen, dass wir nicht direkt mit der Message durch die Tür trompeten, sondern die jungen Menschen ernst nehmen, dass sie sich selber ihr Urteil bilden und im Idealfall, am Ende das Buch weglegen und sagen: Ich hab so noch nie darüber nachgedacht. Das ist das Beste, was wir erreichen können. Und ein Statement abgeben, das tun die dann, im Idealfall. Ich sehe uns da eher in einer dienenden Rolle. Ich glaube, im Gegensatz zu dem, was oft erzählt wird, sind junge Menschen überhaupt nicht unpolitisch, sie können sich artikulieren, ihre Meinung vertreten, und wenn literarische Arbeit das ein bisschen unterfüttern kann, dann machen wir im gesellschaftlichen Sinne einen guten Job als Autorinnen und Autoren.
    Reizvolle Perspektivenwechsel
    Schäuble: Was du sagst, mit der Perspektive, das finde ich überhaupt das Reizvolle beim Schreiben. Bei mir gibt es Anton, das ist der, der an die Nationale Alternative glaubt, eine Partei, die der AfD sehr ähnlich ist. Und man ist als Leser voll auf seiner Seite, weil man noch gar nicht weiß, wie er denkt. Man hat also die Möglichkeit, durch seine Augen die Welt zu sehen. Und dann aber - wie es mein Protagonist auch macht - muss man sich fragen, ob das die Augen sind, durch die man ein Leben lang schauen möchte. Das ist die Chance von Literatur, dass wir in solche Rollen schlüpfen können, in die wir uns normalerweise nicht im Entferntesten hineinversetzen können.
    Wegmann: An dieser Stelle kurz zum Inhalt der Geschichten: "Endland" spielt in der Zukunft, man bezahlt wieder mit D-Mark, an der Macht ist die Nationale Alternative. Erzählt wird aus drei Perspektiven: Fana flieht aus Äthiopien, um in Deutschland Medizin zu studieren. Anton dient als junger Soldat in der Bundeswehr und möchte den Flüchtlingsstrom eingedämmt wissen. Noah, sein Freund, absolviert ebenfalls den Wehrdienst, und betrachtet die Regierung als Diktatur, die gestürzt werden muss, da Deutschland sich zu einem Überwachungsstaat entwickelt hat, ein "Endland". Anton erhält wegen seiner politischen Haltung ein Angebot, dass er nicht ausschlagen kann: Er soll als Ukrainischer, als V-Mann unter die Flüchtlinge geschleust werden, um in einem Flüchtlingslager eine Bombe zu zünden.
    Inspiration in der düstereren Wirklichkeit
    "Der Schuss" ist ebenfalls aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Robin, ein Junge aus einem sozialschwachen Milieu, der Protagonist und Ich-Erzähler. Daneben personal erzählt, aus der Perspektive seiner jüngeren Schwester, seiner türkischverwurzelten Ex-Freundin, unterschiedliche Figuren aus der rechten Szene, unter anderem Fred, der mit seiner Partei (DAP: Deutsche Alternative Partei) in den Bundestag einziehen möchte.
    Ein junger Mann aus der rechten Szene wird ermordet, am gleichen Ort ein investigativer Journalist schwer verletzt. Robin rettet den einen, kennt die Mörder, ist aber selber auf Bewährung wegen Drogendeals und möchte unter keinen Umständen in irgendetwas hineingezogen werden. Die rechtsradikale Szene versucht, sowohl Mord als auch den Brandanschlag auf eine Moschee auf Mitbewohner mit Migrationshintergrund abzuwälzen. Robin gerät durch eine Mitarbeiterin des Journalisten - Henry, die weiterkämpft, während ihr Kollege im Koma liegt - immer tiefer in die Geschichte, bis er sich nicht mehr entziehen kann und will.
    "Ähnlichkeiten sind ... völlig unvermeidlich"
    Vieles, was ich bei Ihnen beiden, Martin Schäuble, Christian Linker, lese, ist mir nicht fremd, erscheint mir weder futuristisch noch überhöht erfunden, sondern ich erkenne Elemente aus Nachrichten und Zeitungsartikeln. Bei ihnen beiden steht eine AfD-ähnliche Partei mit ihren Vertretern und markigen Parteisprüchen im Mittelpunkt, der Begriff "Fake News" fällt, es geht um Korruption und Vernetzung in der rechten Szene, das Drama der 71 toten Flüchtlinge in einem Kühllaster, der auf der Autobahn gefunden wurde, wird aufgegriffen. Und es geht um von rechts motivierte Gewalttaten. Es scheint, dass das Wahlprogramm der AfD und ihre laute Präsenz für Sie beide ein starker Motor waren, ihre Geschichte zu entwickeln?
    Linker:: Wir mussten ja in der Schule alle "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" lesen, da ist vorne so ein schöner "Disclaimer" drin, von Heinrich Böll in Bezug auf die BILD-Zeitung: "Ähnlichkeiten sind weder Absicht noch Zufall, sondern völlig unvermeidlich." Ich glaube, das können wir hier für uns auch in Anspruch nehmen.
    Schäuble: Hast du auch überlegt, das abzudrucken, als Einstieg?
    Linker: Nein, aber jetzt wo du es sagst...
    Schäuble:: Genau dieses Zitat hatte ich lange vor Augen beim Schreiben. Ich dachte, das müsste man vorwegstellen, aber es führt auf eine falsche Fährte mit der BILD-Zeitung.
    Die Wandlung des Begriffs "Alternative"
    Linker:: Das drängt sich auf, und was ich vorhin sagte: Es geht vor allem um den Umgang mit Sprache. Und ich finde, das sind Leute, diese sogenannte Alternative für Deutschland, die es ja jetzt schon geschafft hat, den Diskurs soweit nach rechts zu verschieben, dass Talkshow-Themen oder -überschriften so heißen, wofür man vor fünf Jahren noch geächtet worden wäre. Und zwar zu Recht. Überhaupt werden sämtliche Begriffe umgewertet. Der Begriff Alternative, der lange so besetzt war, dass es um mehr Offenheit ging, nach positiver Veränderung zu streben, ist plötzlich ein Begriff, der dafür steht, sich nach rückwärts zu wenden, enger zu werden, so könnte man noch lange fortfahren. Ich finde, das ist eine Kampfansage an die Kultur, auch und gerade an die deutsche Kultur, wenn ich das jetzt mal etwas markig oder kitschig sagen darf, wenn man sich schon das Volk der Dichter und Denker schimpft, dann sind die Dichter und Denker die Ersten, die sich mit aller Macht wehren müssen, auf irgendeine Art und Weise vereinnahmt zu werden. Deswegen finde ich das wichtig, Teil der Debatte zu sein.
    Schäuble: Ich hab mir vor allem die Wahlkampfveranstaltungen der AfD angeschaut, in Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen-Anhalt, dann aber auch die Landtagsitzung in Baden-Württemberg, denn es ist ja kein Phänomen der nordostdeutschen Bundesländer. Da genau hinzuschauen und zuzuhören, was da gesagt wurde, fand ich hoch spannend. Diese Sprache, da muss man nicht groß erfinderisch sein, ich musste das nicht, es hat gereicht, sie zu übernehmen. Ich musste nicht mal den Kontext ändern, ich konnte in dem Szenario bleiben, dass diese Partei regieren will. Da sieht man erst Mal, was hinter diesem Vokabular alles steckt.
    Die Literatur ist nicht so abwegig wie die Realität
    Wegmann: Martin Schäuble, Ihr Roman ist vor der Bundeswehr-Affäre um Franco A. entstanden. Ein ehemaliger Berufssoldat, der unter falscher Identität als syrischer Flüchtling Terroranschläge verüben wollte. Wie kamen Sie auf das Thema? Hat die Wirklichkeit Sie eingeholt?
    Schäuble: Ja, die Wirklichkeit hat mich eingeholt. Es ist an der Stelle ein historischer Roman. Es ist als Dystopie gedacht: Was wäre wenn eine Partei wie die AfD gewinnt, aber in dem Fall hat mich die Gegenwart eingeholt. Als das damals in den Nachrichten lief, da war das Buch längst geschrieben, bei mir war es ein Bundeswehrsoldat, der an der Grenze Wache schiebt, der als getarnter Flüchtling ins Flüchtlingsheim eingeschleust wird. Ich erinnere mich sehr genau an die Diskussionen, die wir auch im Verlag hatten, ob das nicht zu abwegig wäre, wer glaubt das später, das kann nach hinten losgehen in der Kritik - ein getarnter Flüchtling, wer glaubt das? Und ganz vorsichtig hab ich ihn deswegen als Ukrainer einschleusen lassen. Die Realität war noch viel abgedrehter, da war es jemand, der sich als Syrer ausgab. Als syrischer Flüchtling!
    Wegmann: Der nicht mal Arabisch sprach.
    Schäuble: Der nicht mal Arabisch sprach. Genau!
    "Das sind keine Rechtsextremisten"
    Wegmann: Christian Linker, Sie thematisieren vor allem, wie die rechtsorientierte Partei Menschen fängt. Mit welchen Argumenten Sie auftritt. Wie tief sind Sie bei Ihrer Recherche eingedrungen in die rechte Szene?
    Linker: Ich hab mich nicht wahnsinnig tief eingearbeitet, weil ich eher auf der Ebene der sogenannten besorgten Bürgerinnen und Bürger geblieben bin. Die wohnen ja nebenan, da muss man ja nur hören, was in der S-Bahn gesprochen wird oder im Bekanntenkreis, das ist das, was ich meine, es sind Dinge salonfähig geworden, auch Ansichten, die ich sehr krass finde. Und letztendlich ist es alles einer sehr großen Vereinfachung geschuldet. Das sind keine Rechtsextremisten, sondern Menschen, denen unsere Zeit viel zu kompliziert geworden ist, die eine Sehnsucht nach einfachen Erklärungen haben und nach Zusammenhalt. Das ist auch ein bisschen das Dilemma, in dem wir stehen und das hoffentlich in dem Buch deutlich wird.
    Sie haben vorhin von den Opfern gesprochen, mit Migrationshintergrund. Bei mir haben alle Migrationshintergrund, auch die Rechtspopulisten. Die sind zum Teil Spätaussiedler oder so etwas. Unter Russlanddeutschen bekommt die AfD Zustimmungsraten weit über 40 Prozent, und man denkt, das ist doch absolut absurd. Aber es sind natürlich gerade die absurden Geschichten, die einen literarisch reizen, die mich als Schreibender ein Stück weit ratlos machen, aber es ist auch eine Motivation, die Ratlosigkeit mit anderen zu teilen.
    Das Milieu der rechten Szene
    Wegmann: Martin Schäuble, Ihr Roman beginnt mit einem Prolog, der uns in eine Situation hineinführt, die wir nicht einordnen können, eine Szene, die vorgreift auf Späteres: Befinden wir uns in einer Kriegssituation? Wurde ein Attentat verübt? Wer rettet wen? Wollten Sie, dass wir zum Schluss noch mal mit einem anderen Blick auf das Personal schauen?
    Schäuble: Hm, genau! Mir war wichtig, ein Szenario zu entwerfen, das jeder anders sieht, jeder hat einen anderen Film vor Augen. Es gibt so viele Möglichkeiten, das zu interpretieren, und das war mir ganz wichtig, das man sich fragt, welche Filme haben wir schon im Kopf aufgrund der ganzen Nachrichtenbilder, die sich sofort bei einer Schlagzeile eines Übergriffes abspielen.
    "Wer unter prekären Bedingungen lebt, ist ja nicht blöd"
    Wegmann: Christian Linker, Sie führen uns gleich zu Beginn in ein ganz bestimmtes Milieu: Hochhaussiedlung, der leere Spielplatz, der Junge, der keine Perspektive hat. Wir wissen heute, dass viele Personen aus der rechten Szene, konkret Mitglieder der AfD einem sozial starken Milieu angehören. War die Verortung trotzdem von Anfang an für Sie klar?
    Linker: Ja, nicht nur trotzdem, sondern gerade weil das Programm der Parteien wie der AfD konsequent antisozial ist nach allen Maßstäben, was wir landläufig unter Sozialpolitik verstehen, und trotzdem immer auf die sogenannten kleinen Leute fokussiert. Und das war auch der Reiz, aus der Perspektive solcher Menschen zu erzählen, die man landläufig als die Abgehängten beschreibt. Robin sagt dann irgendwann: "Wenn du gar nichts mehr zu verlieren hast, dann ist dir auch scheißegal wer regiert, Hauptsache, es passiert mal irgendwas." Das ist die Motivation von vielen Menschen in dem Roman. Aber, wer unter prekären Bedingungen lebt, ist ja nicht blöd, und das werden dann einige Figuren in dem Roman zeigen, dass man sich verhalten kann, egal, welchen Bildungsgrad oder sozialen Status man hat.
    Wegmann: Der junge rechte Politiker Fred denkt, und ich zitiere aus einer Stelle im Buch: "Bürgerkriege sind das Feuer, an denen Nationen zu neuer Härte geschmiedet werden", und er wünscht sich somit einen Zusammenprall der Gruppierungen. Die Gruppe um das Mädchen Henry, Praktikantin des Journalisten, und den Journalisten sagt: "Wir versuchen irgendwie, die Errungenschaften unserer Eltern zu verteidigen." Die Rechten in Angriffsposition, die Linken in Abwehrhaltung.
    Linker: Das ist ein Zustand, den ich konstatiere, in dem Roman. Und was ich ja eben schon mal gesagt habe: Der Begriff alternativ wird völlig anders besetzt, und die Leute, die früher gedacht haben, wir bringen die Gesellschaft gemeinsam nach vorne, sehen sich jetzt auf dem Rückzug.
    "Dramaturgie lebt vom Konflikt"
    Wegmann: In beiden Romanen sind es die persönlichen Beziehungen, die Bindungen, die im miteinander Leben entstehen, die Ihren Protagonisten den Impuls zur Umkehr geben: Antons Begegnung mit Fana und ihre Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit; Robins Begegnung mit dem Mädchen Henry, die als journalistische Praktikantin für Gerechtigkeit kämpft.
    Linker: Dramaturgie lebt vom Konflikt und Konflikt entsteht in der Begegnung, aber das richtige Leben ist genau so. In der Begegnung mit anderen Menschen entwickeln wir uns weiter und so geht es auch den Figuren in dem Buch. Und natürlich macht es beim Schreiben Spaß, wenn man die Leute möglichst breit aufstellt. Wenn ich überlege, in meiner Biografie, welche Menschen mich geprägt haben ... natürlich prägt einen nicht, dass man mal ein Buch liest - hoffentlich auch, sonst würden wir diese Sendung nicht machen – viel prägender aber sind die Menschen dahinter. Und wenn es um Bücher geht, dann sind es auch die Menschen in den Büchern.
    Wegmann: "Es muss mal was passieren!- war immer schon das Motto des Journalisten, der sich in große Gefahr begab. Etwas unternehmen, aus der eigenen Bequemlichkeit herauskommen, etwas wagen, sich nicht weiter unter Druck setzen lassen, sich nicht mehr verbiegen. Das betrifft die Figuren Anton bei Martin Schäuble und und Robin bei Christian Linker gleichermaßen. Selbstfindung, Mut zur eigenen Meinung und Zivilcourage sind die wichtigen Themen.
    "Meine Identität ist nicht für nichts zu haben"
    Linker: Das ist ja generell das Thema von Jugendromanen, würde ich sagen. Spannend wird es in dem Moment, wo man merkt, meine Identität ist nicht für nichts zu haben, sondern ich muss dafür kämpfen. Und hier verstärken sich die Themen wie unter einem Brennglas.
    Schäuble: Und zu schauen: Wer macht was mit uns. Wer kann uns beeinflussen. Bei Anton gibt es die Suche nach Autoritäten. Es gibt positive, die brauchen wir auch, aber es können auch die sehr starren Über-Autoritäten sein, die einen verführen. Und dieses Spiel mit dem Verführen, das man politisch verführt wird, das fand ich sehr reizvoll für einen Roman, weil die Gefahr immer da ist. Und da ist das Erschreckende für mich, wie austauschbar radikale Ideologien sind. Und die Frage ist oft, zu welchem Zeitpunkt entscheidet sich, in welche Richtung sich jemand radikalisiert. Bei vielen Biografien wundert man sich eher, dass sich die Menschen nicht viel früher radikalisiert haben, weil sie schon so viel erlebt haben. Es gibt keine einfachen Antworten, wir müssen genau zuhören, um verstehen zu können.
    Wegmann: Das wäre ein schönes Schlusswort, aber ich habe noch eine Frage an Sie beide. Gibt es für Sie eine Art Fazit oder Erkenntnis nach der langen Beschäftigung mit dem Thema?
    Linker: Es lohnt sich immer, aufzustehen und nicht nur dagegen zu halten, sondern für Freiheit und Gerechtigkeit aufzustehen. Jeder Satz auf Facebook zählt da und auch jedes Buch, das man dazu schreibt.
    Die Frage nach der Manipulation
    Schäuble: Hinschauen ist ganz wichtig. Was wollen die eigentlich von mir? Werde ich instrumentalisiert? Deshalb: Parteiprogramme lesen. Steht ja alles im Internet. Genau hinschauen. Was betrifft denn den eigenen Lebensbereich? Eine Partei wie die AfD, die den Klimawandel als Irrweg bezeichnet. Das ist einfach nur Blödsinn. Und das darf man sagen. Das muss man sich anschauen, um zu wissen, für was diese Menschen stehen.
    Wegmann: Zwei sehr spannende Romane, die neben ihrer literarischen Qualität die Wichtigkeit aufzeigen, wie Sie gesagt haben – hinzuhören, hinzuschauen, mit Jugendlichen über Politik zu diskutieren, sie zu informieren und sie zu stärken, einen eigenen Standpunkt zu vertreten. Und dass letztendlich Jugendlichen Zukunftsperspektiven aufgezeigt werden müssen.
    Das war der Büchermarkt mit den Schriftstellern Martin Schäuble und Christian Linker. Hören Sie nun im Anschluss die Kollegen von Forschung aktuell mit neusten Erkenntnissen aus dem Bereich Computer und Kommunikation.
    Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Am Mikrofon verabschiedet sich Ute Wegmann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Martin Schäuble: "Endland". 2017, Roman, Hanser Verlag, 224 Seiten, 15,00 Euro
    Christian Linker: "Der Schuss", Roman, dtv Verlag, 320 Seiten, 14,95 Euro