Viele Menschen verlören den Glauben an die Demokratie, sagte der Historiker und Autor Philipp Blom im DLF. Das sei wie in den 30er-Jahren. Demokratie gehe langsam, verlange nach Kompromissen. Es würden auch keine einfachen und schnellen Antworten geboten. Das sei aber das, was viele Menschen wollten.
In der Welt mache sich eine neue Trennung breit, sagte Blom. Es gehe nicht mehr um rechts oder links, sondern es gebe "einen liberalen Traum und einen autoritären Traum". Diese Sehnsucht nach einfachen Antworten, das verbinde auch den IS mit Pegida. Es wäre töricht auszuschließen, dass sich dieser autoritäre Traum durchsetze. In den 20er- und 30er-Jahren habe auch niemand geglaubt, dass man Hitler ernst nehmen müsse.
"Wir merken, dass uns riesige Veränderungen bevorstehen, in der Bevölkerung und der Gesellschaft", sagte Blom. Unsere Gesellschaft schrumpft und überaltert. Wir brauchten auch deshalb die Zuwanderung. Das könne zum Austausch oder zur Konfrontation führen. Es könne aber auch eine Chance sein, "einen denkfaulen Kontinent wiederzubeleben".
Das Interview in voller Länge:
Peter Kapern: Es kommt ja selten vor, dass die konservative Tageszeitung "Le Figaro" und die kommunistische Zeitung "L'Humanité" mit der identischen Schlagzeile auf der Titelseite erscheinen. Am Montagmorgen war das so. Da hieß es auf beiden Titelseiten: "Le Choc". Geschockt waren die Zeitungsmacher vom Wahlsieg des Front National. Geschockt sein müsste aber ganz Europa, und das schon seit geraumer Zeit, geschockt vom Vormarsch rechter nationalistischer Parteien in Europa. Ein ganzer Kontinent auf dem Rückweg in seine Vergangenheit? - Am Telefon bei uns der Historiker und Publizist Philipp Blom. Guten Morgen.
Philipp Blom: Guten Morgen, Herr Kapern.
Kapern: Herr Blom, Ungarn, Slowakei, Polen, Dänemark, Finnland, Niederlande, Belgien, Frankreich, Schweiz, Österreich - das ist eine lange Liste von Ländern, die alle sehr unterschiedlich sind, die aber doch auch eines eint: In all diesen Ländern greifen rechte, teils rechtsextreme, jedenfalls extrem nationalistische Parteien nach der Macht, oder haben sie sogar schon erlangt. Frisst sich da der Bazillus des Rechtsnationalen und des Rechtsextremen gerade durch Europa?
Blom: Das ist auf jeden Fall sehr möglich und ich glaube, wir erleben gerade, dass angesichts der Herausforderungen an unsere Gesellschaften Menschen den Glauben an die Demokratie verlieren und sich denken, das müsste doch eigentlich auch anders gehen, und das tatsächlich haben sich Menschen in den 1930er-Jahren auch gedacht.
"Historische Parallelen können fürchterlich in die Irre führen"
Kapern: Welche Parallelen sehen Sie da noch? Auch in den Ursachen?
Blom: Ich meine, historische Parallelen sind immer schwierig. Sie sind immer sehr verlockend, aber sie können einen auch fürchterlich in die Irre führen. Aber die Tatsache ist, dass Demokratie etwas ist, was langsam geht und was immer Kompromisse liefert, und viele Menschen fühlen, dass ihnen hier nicht die Antworten geboten werden, die einfachen, schnellen Antworten, die man gerne hätte, und dass man die doch lieber woanders herbekommt, dass den Ländern die Kontrolle zu entgleiten scheint und man deswegen zurückkehren will zur nationalen Souveränität, was, glaube ich, eine völlige Illusion ist, weil alle Herausforderungen, die an uns gestellt sind, gerade transnational und global sind, das heißt mit Nationalstaaten eigentlich nichts zu tun haben. Aber es scheint, eine einfache Antwort zu sein, und ich glaube, es ist ganz wichtig, dass man sich daran erinnert, dass diese Errungenschaften, für die in Europa viel gekämpft worden ist, um die viel gekämpft worden ist, Demokratie, Menschenrechte und so weiter, die können auch wieder verschwinden. Wir leben damit, dass wir denken, die sind stabil, die haben wir sozusagen für alle Zeiten uns errungen, aber vom historischen Standpunkt muss man sagen, die sind sehr rezent. Wir haben sie überhaupt noch nicht lange: Menschenrechte zwei, 300 Jahre, Demokratie eigentlich erst 80 Jahre oder so etwas. Und die können genauso schnell wieder weg sein, wie sie gekommen sind.
Kapern: Und das andere, das hat eine längere Tradition, wie auch immer man das dann bezeichnet und fassen will?
Blom: Natürlich! Autoritäres Denken hat eine viel längere Tradition. Das hat Jahrtausende hinter sich. Und das ist sozusagen ein konditionierter Reflex, der bei uns besteht. Ich glaube, wir erleben im Moment, wie sich die Welt in zwei neue Lager teilt, und das ist ganz wichtig. Die alte Unterscheidung zwischen rechts und links ist eigentlich völlig bedeutungslos geworden. Aber wir erleben jetzt, dass es einen Teil der Welt gibt, der einen liberalen Traum träumt, und einen anderen Teil, der einen autoritären Traum träumt, und das verbindet die IS mit Pegida und Boko Haram mit evangelikalen Predigern in den USA und eben mit Herrn Orbán und mit den Verfassungsänderungen in Polen und Ähnlichem. Es ist überall die einfachen Antworten, die nationale Souveränität, die Tatsache, dass wir wertvoller sind als irgendjemand anders, eine Rückkehr zu einer gefühlten Sicherheit, die aber keine Sicherheit ist oder sein wird.
Kapern: Und ein Obsiegen dieses autoritären Traums schließen Sie nicht aus?
Trumps Forderungen entsetzt die Menschen nicht
Blom: Ich wäre töricht, das auszuschließen. Es ist nicht wahrscheinlich und wir stehen am Anfang von etwas, aber ich meine, in den 1920er- und 30er-Jahren hat niemand geglaubt, dass man Hitler ernst nehmen müsste, diesen komischen kleinen Korporal mit seinem absurden Schnurbart. Donald Trump wird wohl nicht amerikanischer Präsident werden, aber wenn sie sich ansehen, was er sagt, und wenn sie sich ansehen, wie viele Menschen das augenscheinlich unterstützen, dann sehen Sie, was für ein Potenzial da für solche Sachen ist. Und wenn jemand kommt und sagt, wir müssen alle Moslems daran hindern, in unser Land zu kommen, und die, die bereits da sind, müssen wir registrieren und internieren - es fehlt nur noch, dass er sagt, wir müssen sie an der Kleidung kenntlich machen -, dann natürlich hat das fürchterliche historische Resonanzen. Aber das entsetzt Menschen nicht, sondern Millionen von Menschen stimmen dem sehr zu.
Kapern: Was genau ist es, was diese Zustimmung der Menschen derzeit auslöst? Sie haben gesagt, sie verlangen schnelle Antworten auf Fragen, statt die langsamen Antworten der Demokratie abzuwarten. Aber auf welche Fragen denn eigentlich?
Blom: Wissen Sie, es ist auch ein gewisser kultureller Essenzialismus, die Idee, Kultur hat so ein bisschen als Kampfbegriff Rasse abgelöst in unseren Gesprächen. Vor 80 Jahren sprach man über Menschen von einer anderen Rasse, die in unsere Kultur nicht integrierbar sind, die einfach zu anders sind. Heute kann man das nicht machen; deswegen spricht man heute von Kultur und sagt zum Beispiel, Moslems haben eine andere Kultur und sind deswegen nicht integrierbar. Dahinter steht die Idee, dass die Kultur eine unbewegbare Säule ist, von der man sich nicht wegbewegen kann. Das ist natürlich Unsinn, wie wir wissen, aber das ist sozusagen der Kampfbegriff, den wir heute haben. Und die Idee, dass jeder als seine eigene Kultur weiterleben könnte, dass er nicht verunreinigt wird durch irgendetwas - ich weiß nicht, ob Sie meine Anführungszeichen mithören -, das scheint, immer mehr an Popularität zu gewinnen, und das scheint, auch Politik mit zu bestimmen, und man darf in der langen Liste von Ländern, die Sie eingangs erwähnt haben, nicht vergessen, dass natürlich mit der sogenannten Alternative für Deutschland und Pegida in ihren verschiedenen Ausprägungen auch in Deutschland solche Gedanken nicht nur erwähnt werden, sondern auch Tausende von Menschen auf die Straßen treiben.
"Es gibt kein Menschenrecht auf ein ungestörtes Leben in Wohlstand"
Kapern: Da gibt es die Idee, man könne eine kulturelle Reinheit bewahren, die ja als Idealtyp ohnehin nicht existiert auf einem europäischen Kontinent, wo sich die einen nicht nur versuchen, von Muslimen abzugrenzen, sondern dann auch gleich noch von Roma oder von Menschen aus, ich weiß es nicht, Osteuropa. Das heißt, diese Abgrenzungsstrategie würde ja zwischen den Europäern und den Muslimen gar nicht zu einem Endpunkt kommen.
Blom: Sie würde nicht zu einem Endpunkt kommen. Aber ich glaube, wir merken im Moment in Europa, dass uns riesige Veränderungen bevorstehen. Das sind nicht nur Veränderungen in der Energiepolitik, die viel größer sind, als wir sie machen werden. Ich glaube, daran werden wir scheitern und das wird uns noch beißen. Aber das sind auch Veränderungen in unserer Bevölkerung und damit in unserer Gesellschaft. Die Europäer haben seit 100 Jahren zu wenige Kinder gekriegt, und das ist ganz einfach eine Realität, und das heißt, dass unsere Bevölkerung schrumpfen und überaltern wird, dass wir also neue Arbeitskräfte, neue Menschen in unseren Gesellschaften brauchen. Und wenn diese Menschen von woanders herkommen, dann sind die anders und bringen andere Denkmuster mit, und das wird natürlich zu Austausch, aber auch zu Konfrontation führen. Aber ich glaube, es ist gar nicht abwendbar, dass das passiert. Ich glaube allerdings auch, man könnte es auch als eine riesige Chance sehen, einen alternden und etwas denkfaul gewordenen Kontinent wieder zu dynamisieren. Aber das sehen nicht alle Menschen als Chance. Viele Menschen denken sich, aber das, was wir hatten, uns geht es doch gut, wir haben Wohlstand, wir haben ein ungestörtes Leben, und das wollen wir behalten. Dem gegenüber kann man nur sagen, es gibt ein Menschenrecht darauf, auf körperliche Unversehrtheit. Deswegen kommen Flüchtlinge zu uns, deswegen haben wir denen gegenüber eine ethische Verpflichtung. Es gibt aber kein Menschenrecht auf ein ungestörtes Leben in Wohlstand, und das würden sich viele Europäer sehr gerne halten.
Kapern: Der Historiker und Publizist Philipp Blom heute Morgen im Deutschlandfunk. Herr Blom, vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und sage auf Wiederhören.
Blom: Danke Ihnen.
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