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Recycling auf hohem Niveau

Auch die Weihnachtsmusik wurde durch die Innovationsschübe der "Neuen Musik" geprägt. Auf der anderen Seite erlebt aber auch historische Musik eine Rennaissance.

Von Frieder Reininghaus |
    Peter Sellars/John Adams, "El Niño", Nonsuch CD 7559-79634 2, Take 2, "Hail Mary, gracious"

    Darüber, was die nachhaltigsten Errungenschaften des Musik- und Opernbetriebs in den zurückliegenden 100 Jahren sind, gehen die Meinungen der Konzert- und Theatergänger eben so weit auseinander wie die der Experten. Für die einen ist die Durchsetzung der keineswegs homophonen Moderne in Teilen des Musiklebens und deren Transformation in den weitgefächerten Pluralismus der Postmoderne das Entscheidende.

    Auch das Kontingent der Weihnachtsmusik wurde durch die von Innovationsschüben wie von retardierenden Momenten geprägte "Neue Musik" immer wieder aktualisiert. Werke wie die 1935 entstandenen Orgel-Meditationen "La Nativité du Seigneur" von Olivier Messiaen oder Krzysztof Pendereckis auf die Weihnachtsthematik bezogene Zweite Symphonie "Wigilijna" (1980) belegen dies ebenso exemplarisch, wie die Oratorien-Oper "El Niño" von John Adams aus dem Jahr 2000.

    Den Befürwortern einer Moderne, deren Errungenschaften unumkehrbar sein mögen, steht ein großes Lager von Musikfreunden gegenüber, die gegenläufige Erweiterungen der Horizonte für das eigentlich bemerkenswerte Kennzeichen der zurückliegenden Epoche ansehen: die große Reprise historischer Musik. Die besaß zwar Vorläufer im 19. Jahrhundert, kristallisierte sich jedoch nach dem Ersten Weltkrieg mit einer wachsenden Zahl wissenschaftlicher Projekte und als grenzüberschreitende antimoderne Strömung in verschiedenen Ländern Europas heraus. Monteverdi, Heinrich Schütz und Henry Purcell avancierten zu Galionsfiguren; erfasst wurde freilich eine wachsende Zahl von Komponisten, die im Dunkel der Vergangenheit verschwunden war – wie zum Beispiel Johann Rosenmüller oder Andreas Hammerschmidt.

    Andreas Hammerschmidt, "Ehre sei Gott in der Höhe"; Gli Scarlattisti, Jochen Arnold (Dirigent); CD Carus 83.375; Take 5

    Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die auf Reanimation der "historischen Musizierpraxis" gerichtete "Bewegung" an Breite. Sie wurde im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem beachtlichen Marktfaktor, partiell zum gewinnträchtigsten des "klassischen" Sektors. Und diese "Renaissance" der Alten Musik belebte auch, alle Jahre wieder, im Besonderen das Weihnachtsgeschäft – mit einem anschwellenden Sortiment von früh- oder vorklassizistischen, meist als "barock" annoncierten Werken der unterschiedlichsten Stilhöhen. Zu den ernsthaftesten und interessanten "Wiederentdeckungen" gehören Arbeiten des in Dresden tätigen Jan Dismas Zelenka, in denen der Jubel der Engel über den Feldern von Bethlehem seine liturgischen Plätze einnimmt.

    Jan Dismas Zelenka, Missa votiva VWV 18, Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius (Dirigent); CD Carus 83.223, Take 5

    Aus der Musikergeneration nach Zelenka rückten die Söhne Johann Sebastian Bachs, die nie ganz aus der musikalischen Rezeption herausgefallen waren, wieder stärker in den Fokus des Interesses. Wie stark der mit seinen Klavierstücken dem "Zeitalter der Empfindsamkeit" beziehungsweise des "Sturm und Drang" zuzuordnende Carl Philipp Emanuel Bach bei geistlichen Werken in der Tradition des Vaters stand und zugleich neue Bahnen einschlug – das und viele weitere mehr oder weniger illustre Beispiele wurden in den letzten Jahren reaktiviert und in Hochglanzpolierung frisch eingespielt.

    Carl Philipp Emanuel Bach, "Meine Seele erhebt den Herrn" (Magnificat); Staats- und Domchor zu Berlin, Kai-Uwe Jirka (Dirigent), CD Carus 83.443, Take 1

    Der musikalische Historismus, der sich zunächst vor allem auf die Komponisten neben Bach und Händel sowie die des 17. Jahrhunderts richtete, erreichte längst auch das zunächst von der "Bewegung" verschmähte beziehungsweise entschieden bekämpfte 19. Jahrhundert. Zu den originelleren Beiträgen dieser Epoche zum Kontingent der Weihnachtsmusik gehört das Oratorium "Die Festzeiten" des preußischen Musikkritikers, Musikdirektors und Balladen-Komponisten Carl Loewe:

    Carl Loewe, "Die Festzeiten", CD Carus 83.443, Take 21

    Weihnachtliches klingt nicht selten auch in der Musik des langen 19. Jahrhunderts an, das man - wie es zunehmend die allgemeine Geschichtsschreibung handhabt - von der Ära Napoleons bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ansetzen sollte. Freilich wird dies heute kaum mehr mit dem in der Christnacht spielenden zweiten Akt von Giacomo Puccinis "La bohème" assoziiert, der ein spezifisch französisch-italienisches Aroma von "Noël" und "Natale" ausströmt, oder gar einer Oper wie Hans Pfitzners einst am Hoftheater in München uraufgeführten Oper "Das Christ-Elflein", sondern mit den "romantisch" getönten Sakralkompositionen selbst - auch, wenn diese dem Konzertsaal anvertraut wurden. Da dies ebenfalls erfolgreich war, nimmt nicht Wunder, dass die Reaktivierung und neuerliche Anverwandlung des "romantischen Weihnachten" sogar bis tief hinein in den Sacro-Pop unserer Tage wirkt.

    Calmus Christmas Carols, "Jingle bells", Calmus Ensemble Leipzig; Carus 83 432

    Weihnachten ist nicht nur die Zeit des Sterns von Bethlehem, sondern in musikalischer Hinsicht insbesondere auch die der aktualisierten alten Meister. Zwar haben sich die Methoden und der Sound der musikalischen Ausführung in den letzten Jahrzehnten vielfältig modernisiert, aber der Kern des Geschäftszweigs ist die mehr oder minder treu gemeinte Ausbeutung des Historischen: Recycling auf hohem Niveau.

    Johannes Eccard (1553–1611), "Fröhlich will ich singen"; Lautten Compagney Berlin, Kai-Uwe Jirka (Dirigent), CD Carus 83.449, Take 4