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Rede des Bundespräsidenten in Yad Vashem
"Steinmeier musste Dinge sagen, die man erwartet"

Der Bundespräsident habe bei seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag Klischees verwendet, weil sie unvermeidbar seien, sagte Germanist Karl-Heinz Göttert. Er betonte zugleich den hohen Stellenwert politischer Reden, gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem wiedererstarkten Rechtsextremismus.

Karl-Heinz Göttert im Gespräch mit Anja Reinhardt |
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier während seiner Rede auf dem Fünften World Holocaust Forum in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem am 23. Januar 2020. anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz
Frank-Walter Steinmeier hielt als erster Bundespräsident eine Rede in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (Abir Sultan / picture alliance / UPI Photo via Newscom)
Der Rhetorikprofessor Göttert hält die vereinzelte Kritik an Bundespräsident Walter Steinmeier, seine Rede zum Holocaust-Gedenken habe zum Teil abgenutzte Begriffe enthalten, für überzogen. "Bestimmte Klischees wie 'Erinnerung wachhalten' müssen immer enthalten sein, sie sind unvermeidlich verbunden mit einer solchen Rede, die auch ein Ritual darstellt."
"Kunst, Klischees lebendig zu gestalten"
Es sei eine Kunst, diese Klischees lebendig erscheinen zu lassen und das Gesagte so zu sagen, dass man es noch nie gehört habe, sagte Germanist Göttert, verwies aber zugleich darauf, dass Steinmeier für seine Rede relativ wenig Zeit gehabt habe. "Den Holocaust in Worte zu fassen, dies in zehn Minuten zu gestalten, ist fast eine Überforderung."
Steinmeier habe durchaus versucht, die Rede lebendig zu gestalten, etwa indem er ins Persönliche gegangen sei. In der knappen Redezeit musste er aber auch Dinge unterbringen, die man von ihm erwartet habe. Aus diesem Grund sei auch der Vergleich mit der berühmten Rede Richard von Weizsäckers aus dem Jahr 1985 anlässlich des 40. Jahrestags ungerecht, sie stelle einen Sonderfall in der Nachkriegsgeschichte dar.
Wert der Rede - gerade in der Auseinandersetzung mit der AfD
Germanist Göttert, Autor des Buches "Mythos Redemacht", betonte zugleich den hohen Stellenwert politischer Reden in der heutigen Zeit, gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem wiedererstarkten Rechtsextremismus und rechtsextremistischer Rhetorik: "Ohne Reden geht es nicht in der Demokratie. Es wird immer schwieriger."
Der deutsche Politikbetrieb sei geprägt von zurückhaltenden Rednern, so Göttert. Es sei für Politiker aber weiterhin möglich, mit Reden zu glänzen, dies sei auch sehr willkommen, glaubt er: "Gerade in der jetzigen Situation, der Auseinandersetzung mit der AfD, würde ich mir dies wünschen."