Liao Yiwu hielt eine eindrucksvolle Rede, lieferte einen eindringlichen Appell, all diejenigen nicht zu vergessen, die in China von Verfolgung bedroht sind oder schon in Haft sind. "Für die Freiheit der Anderen" war seine "Rede zum Exil" in der Hamburger Körber-Stiftung überschrieben. Gleich zu Beginn schilderte der Schriftsteller aber seine eigene Ankunft im Exil.
"Als ich nach vielen Strapazen im Sommer 2011 in Berlin landete, schmeckte die Luft des Exils - oder besser gesagt: die Luft der Freiheit - durchaus süß. Obwohl die acht Jahre, die folgten, nicht immer ein Zuckerschlecken waren, war es die friedlichste und produktivste Zeit meines Lebens. Die ständige Angst ist gewichen - die Angst, aufgrund der sogenannten Einladungen zum Tee bei der chinesischen Polizei das Schreiben unterbrechen zu müssen, oder beim Katz- und Mausspiel um meine versteckten Manuskripte doch noch erwischt zu werden."
Erinnerung an inhaftierte Freunde
Liao Yiwu erinnerte an den in der Haft gestorbenen Nobelpreisträger Liu Xiabo, an seine inhaftierten Freunde aus Sichuan, an Liu Xianbin, Huang Qi, Chen Wei und Chen Bing. Von Li Bifeng, mit dem er zusammen im Gefängnis saß, las Liao Yiwu dessen Gedicht "Winterschlaf" vor und begleite den Text mit einem so genannten Daumenklavier.
Das Gedicht - ist Liao Yiwu überzeugt - wird trotz der hochgerüsteten chinesischen Zensurmaschine als Zeugnis der Zeit nach dem Tiananmen-Massaker in die Literaturgeschichte des Landes eingehen. "Für alle Zeiten", so der Schriftsteller.
Vor dem Hamburger Publikum schilderte er die Folter, die er selbst erlitten hat, die Erniedrigungen und auch die fast überlebenswichtige Hilfe eines ebenfalls inhaftierten, über 80 Jahre alten Mönchs. Der hatte ihm hinter den Gefängnismauern nicht nur das Flötespielen beigebracht, sondern auch klar gemacht, dass "Freiheit im Inneren entspringt", so Liao Yiwu.
Internet als Überwachungsinstrument
"Wer innerlich frei ist, ist der natürliche Feind jedes diktatorischen Regimes. Der jeweilige politische Standpunkt ist zweitrangig", so der Schriftsteller, der heute mit Frau und Kind in Berlin lebt. Ernüchtert analysierte er die derzeitige Situation in China. Das Internet - einst gefeiert als Instrument der Freiheit, als Nährboden für demokratische Bewegungen in aller Welt - nutze die chinesische Führung heute als Instrument der Massenüberwachung und -beeinflussung und werde trotzdem von westlichen Staaten als Handelspartner hofiert.
"Wo man sich auch befindet, man muss nur ein Dissident sein und kann abgehört und verfolgt werden. Jede Bankverbindung und jede Wortmeldung im Netz wird aufgezeichnet und kann später als Beweis für staatsgefährdende Umtriebe verwandt werden. Im Restaurant, im Bahnhof, am Flughafen: Dein Gesicht kann von der Polizei auf dem Handy oder dem Computer automatisch identifiziert werden."
Sprengkraft der Metaphern
Am Schluss seiner Rede zitierte Liao Yiwu aus George Orwells "1984". Das reale "1984" so Liao Yiwu könne entmutigen, das Buch dagegen Ermutigung schaffen.
"In dieser Zeit musst du ein Gedicht schreiben, das die Anführer fürchten. Eine Metapher ist ein nuklearer Sprengkopf. In dieser Zeit musst du ein verdächtiges Gedicht schreiben. Als Verbeugung vor den Verdächtigen."
Nach dem Zitat stand Liao Yiwu ganz vorn auf der Bühne, griff zu seiner Flöte, deren Spiel ihm über die Zeit hinter Gittern geholfen hat.