Stefan Heinlein: 1790 hielt George Washington die erste Rede zur Lage der Nation. Seither ist die State oft he Union ein festes Ritual der US-Politik. Einmal jährlich erläutert der Präsident vor beiden Kammern des Kongresses die Agenda seiner Politik. Bei uns in Europa hat die Rede zur Lage der Europäischen Union noch keine so lange Tradition. Erst 2009 entschloss sich die EU-Kommission, dem Vorbild der USA zu folgen. Seither tritt der EU-Kommissionspräsident einmal jährlich in Straßburg vor das Parlament. Heute ist es wieder so weit.
Mitgehört hat der Vizepräsident des Europäischen Parlamentes, der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Guten Morgen, Herr Lambsdorff.
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Heinlein.
Heinlein: Herr Lambsdorff, ist das heute echte Politik oder nur eine Schaufensterrede für ein besseres Marketing der EU-Kommission, die letzte Chance für Jean-Claude Juncker, wie unser Korrespondent gerade berichtet hat?
Graf Lambsdorff: Ich halte diese Rede für eine gute Tradition. Ich halte sie auch für wichtig als einen Punkt, an dem mal die Europäische Union sich wirklich auf sich selbst fokussiert und fragt, wo sind unsere Stärken, wo sind unsere Schwächen. Und die Europäische Kommission ist ja eine politische Regierung Europas, wenn man so will, seit den Zeiten von Jacques Delors. Das ist vor Juncker etwas ins Hintertreffen geraten, in der Zeit von José Manuel Barroso, aber Juncker macht das ganz bewusst, dass er es wieder politisiert, und ich finde es richtig. Insofern: Ich erwarte hier echte politische Ansagen.
Heinlein: Sie erwarten tatsächlich echte Politik, Jean-Claude Juncker wird erklären, wohin es geht mit Europa in der Zukunft? Er hat ja schon fünf Szenarien skizziert in seinem Weißbuch.
Graf Lambsdorff? Richtig, und hier in Straßburg erwarten wir eigentlich, dass es eine Art sechstes Szenario gibt, also nicht ein Festhalten an diesen fünf Szenarien, die ja sozusagen von praktisch keiner Integration mehr bis hin zum europäischen Bundesstaat alles aufmachen, sondern er wird das tun, was hier viele erwarten, nämlich sagen, was sind die konkreten Herausforderungen, wo muss noch etwas geschehen, wo läuft es auch ganz ordentlich im Moment. All das wird er sagen. Der Korrespondent, Herr Otto hat es ja eben gesagt: In der Eurozone haben wir wieder Wachstum. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Wir sehen einen sehr energischen Aufbruch in der Wirtschaftspolitik in Frankreich. Das ist natürlich sehr positiv. Aber wir laborieren andererseits immer noch an den Spätfolgen der Flüchtlingskrise von 2015, dem deutschen Alleingang von damals und der Frage, wie gehen wir weiter mit dieser Situation um. Auch hier ist Macron im Grunde derjenige, der das Heft des Handelns in die Hand genommen hat. Juncker wird diese Dinge mit Sicherheit erwähnen und ich glaube, er wird eine Lage der Europäischen Union zeichnen, die nicht so dramatisch ist, wie es manche vielleicht sehen.
"Ich erwarte, dass er ganz gezielt die Hand nach Mittelosteuropa ausstrecken wird"
Heinlein: Herr Lambsdorff, ich habe nicht ganz verstanden, was Sie erwarten von diesem sechsten Weg. Ist das ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, das ja viele favorisieren, oder ein Rückbau, oder einfach ein weiter so mit unterschiedlichen Akzenten?
Graf Lambsdorff: Nein. Ich glaube, er wird einen Versuch machen. Und zwar haben wir im Grunde zwei Spaltungslinien in der Europäischen Union. Das eine ist die Nord-Süd-Spaltungslinie. Die ist, gerade was Italien, Griechenland, Spanien angeht, in der Flüchtlingskrise deutlich geworden. Da arbeitet Emmanuel Macron daran, die zu überwinden. Und wir haben eine zweite Spaltungslinie, das ist die Ost-West-Spaltungslinie. Auch das ist angeklungen im Beitrag eben, dass die östlichen Mitgliedsstaaten sich zu oft benachteiligt, abgehängt, nicht ernst genommen fühlen. Ich erwarte, dass er ganz gezielt die Hand nach Mittelosteuropa ausstrecken wird, um dort ein Angebot zu machen, dass die Länder in Mittelosteuropa sich der europäischen Politik insgesamt anschließen. Ob das dann angenommen wird, ist eine völlig andere Frage, aber in meinen Augen wird das im Grunde der Schwerpunkt sein, dass er sagt, wir müssen als Europäer zusammenstehen, denn die Lage um uns herum, Russland, Türkei, Afrika, Brexit, Donald Trump, ist so dramatisch, dass wir wirklich uns nicht an Unterschieden aufhalten sollten, die wir innerhalb Europas vielleicht für groß halten, die aber bei genauerer Betrachtung überwindbar sind. Und wenn dann die mittelosteuropäischen Staaten darauf eingehen, sich sozusagen auch, ich sage mal, an europäische Praxis, an europäisches Recht besser halten, dann hat man eine Chance, gemeinsam voranzugehen. Wenn nicht, dann wird man in der nächsten State oft he Union, in der nächsten Rede zur Lage der Europäischen Union ganz sicher in Richtung Europa der mehreren Geschwindigkeiten gehen müssen.
"Die EU ist ja keine Zwangsgemeinschaft, sondern eine Rechtsgemeinschaft"
Heinlein: Herr Lambsdorff, Sie erwarten ein Angebot von Jean-Claude Juncker an die Adresse Ost- und Mitteleuropas. Was kann denn drinstecken in diesem Angebot an Ost- und Mitteleuropa? Denn zuletzt schien ja Jean-Claude Juncker nicht den richtigen Ton zu treffen für Bratislava, für Prag, für Budapest. Sein Ton ist ja sehr, sehr harsch, wenn er auf diese Länder blickt.
Graf Lambsdorff: Es gibt natürlich auch objektive Probleme. Die Reaktionen aus Budapest zum Beispiel auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, so was ist ja eine Gefahr für die Rechtskultur der Europäischen Union. Und man darf eines nicht vergessen: Die EU ist ja keine Zwangsgemeinschaft, sondern eine Rechtsgemeinschaft. Insofern: Es gab da auch schon Grund, sich streng zu äußern. Nur: Der Weg zum Beispiel in die Eurozone ist für die mittelosteuropäischen Staaten bisher nicht vorgezeichnet. Hier könnte man Fortschritte machen. Es gibt einige Länder, die gehören dem Schengen-Raum noch nicht an. Es gibt ganz praktische Fragen beispielsweise der Dienstleistungsfreiheit im europäischen Binnenmarkt. Hier will man insbesondere aus Paris und Berlin starke Einschränkungen. Das sieht man in Warschau und in den anderen Hauptstädten sehr skeptisch. Und dann gibt es ein ganz praktisches Problem: Viele europäische Unternehmen bieten auf den Märkten in Mittelosteuropa Produkte an, die von der Qualität niedriger sind als das, was in Westeuropa angeboten wird. Das ärgert die Menschen, das ärgert die Regierungen und sie erwarten von der Europäischen Kommission, dass sie hier dafür sorgen, dass das abgestellt wird. Also es gibt eine ganze Reihe von Punkten, wo man wie gesagt von Tallin bis Sofia vielleicht das eine oder andere anbieten kann. Die entscheidende Frage wird sein: Geht eine Regierung wie die in Warschau, geht eine Regierung wie die in Ungarn anschließend auf solche Angebote ein, ja oder nein.
Heinlein: Herr Lambsdorff, wie konkret kann denn Jean-Claude Juncker werden bei diesen Angeboten? Denn im Unterschied zu einem US-Präsidenten, der ja seine State oft he Union Rede auch einmal jährlich hält, kann Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionspräsident ja nur sehr beschränkt aktiv Politik gestalten. Er ist ja abhängig von den nationalen Regierungen.
Graf Lambsdorff: Gut, der amerikanische Präsident ist natürlich auch abhängig vom Kongress. Das ist das Wesen der Gewaltenteilung.
"Den Versuch, die Europäische Union wieder zu einen"
Heinlein: Aber ein bisschen mehr als Jean-Claude Juncker kann Donald Trump schon entscheiden.
Graf Lambsdorff: Gut, das mag so sein. Nur der Punkt ist der: Wenn die Europäische Kommission, die ja als einzige das Recht hat, Gesetzentwürfe vorzulegen, andeutet, dass sie bei Schengen, beim Euro oder bei der Gestaltung des Binnenmarktes Maßnahmen ergreifen will, die für die mittelosteuropäischen Länder von Interesse sind, dann ist das schon eine Ansage. Und ich hoffe, dass sie positiv aufgenommen wird. Am Ende des Tages haben wir ja alle kein Interesse daran, dass die Spaltung vertieft wird, sondern eher, dass die Spaltung aufgehoben wird. Ich rechne fest damit, dass Juncker das quasi als sechstes Szenario macht, den Versuch, die Europäische Union wieder zu einen entlang dieser Spaltungslinien.
Heinlein: Ist das nicht nur die letzte Chance für Europa, für das Zusammenwachsen von Ost-, Mittel- und Westeuropa, sondern auch eine letzte Chance für Jean-Claude Juncker, seiner Amtszeit neue Impulse zu verleihen? Unser Korrespondent hat es angesprochen. Denn in knapp zwei Jahren endet ja bereits wieder seine Amtszeit.
Graf Lambsdorff: Ja, das ist richtig. Im Sommer 2019 endet die Amtszeit. Aber bis dahin kann er durchaus noch das eine oder andere aufs Gleis setzen. Das würde ich nicht überhöhen. Zwei Jahre sind auch in der Politik eine Zeit, in der man noch einiges erreichen kann. Vieles wird vielleicht in zwei Jahren nicht abzuschließen sein, aber wenn man die Weichen richtig stellt für die Zukunft, da hat diese Kommission durchaus noch Chancen, und sie hat ja auch einige Punkte, bei denen sie stark ist. Denken wir bitte mal an die Frage, wie sollen sich Staaten und Bürger gegen international operierende Großkonzerne wie Apple, Google, Facebook wehren. Das geht nur auf der europäischen Ebene. Die Wettbewerbskommissarin Vestager ist da sehr aktiv. Wie sieht es aus mit Handelsabkommen, globalen Handelsabkommen, aber auch regionalen Handelsabkommen? Auch hier ist die Kommission derjenige, der handeln kann auf der globalen Bühne für Europa. Es gibt durchaus Punkte, wo die Europäische Kommission handlungsfähig ist und wo Juncker auch etwas tun kann.
Heinlein: Wie groß ist denn nach Ihrem Eindruck die Bereitschaft der nationalen Parlamente, Jean-Claude Juncker zu unterstützen auf diesem sechsten Weg?
Graf Lambsdorff: Das werden wir abzuwarten haben. Ich bin sehr gespannt auf den Inhalt der Rede. Ich bin auch gespannt auf die Reaktionen aus den nationalen Parlamenten. Ich bedauere, dass ich oft aus dem Rat, da wo sich die nationalen Regierungen treffen, zu oft Uneinigkeit sehe, zu oft auch intransparentes Vorgehen und eine häufig abschätzige Haltung gegenüber der Europäischen Kommission. In den nationalen Parlamenten ist das manchmal genauso. Deswegen kommt es auch auf den Ton an, der in dieser Rede gesetzt wird. Wird Juncker es schaffen, hier eine Brücke zu schlagen in die Hauptstädte? Das ist, glaube ich, die wichtigste Frage. Denn ich sage es noch mal: Die globale Lage ist so, dass wir in Europa gut beraten sind, uns nicht an kleineren Unterschieden aufzuhalten, sondern den Versuch zu machen, zusammenzustehen. Wenn wir uns auseinanderdividieren lassen in einzelne Staaten, dann werden wir alle darunter leiden.
Heinlein: Ganz kurz zum Schluss, Graf Lambsdorff. Vor Jahresfrist war das Parlament in Straßburg kaum gefüllt, als Jean-Claude Juncker geredet hat. Erwarten Sie heute, dass die Reihen dicht sind mit allen Parlamentariern?
Graf Lambsdorff: Ich erwarte, dass eine ganze Menge von Parlamentariern zuhören werden. Das ist eine wichtige Rede. Ich bin gespannt darauf, wie viele Kollegen da sein werden. Aber ich gehe mal davon aus, dass es gut gefüllt sein wird.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.
Graf Lambsdorff: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.