EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat zum ersten Mal in ihrer Amtszeit in einer Grundsatzrede im Europaparlament ihre wichtigsten Zukunftsvorhaben vorgestellt, unter anderem ein verschärftes Klimaziel, einen Kompromiss in der Asylpolitik und eine "europäische digitale Identität".
Auseinanderdriften von Süd- und Nordeuropa kam zu kurz
Den Rahmen und allgegenwärtigen Hintergrund ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union bildete die Coronakrise. Diese habe Schwächen und Verletzlichkeit offenbart, könne aber als Chance genutzt werden, sagte von der Leyen. Für Guntram Wolff, Leiter des Bruegel Institut in Brüssel, hätte die Kommissionspräsidentin in diesem Zusammenhang auf ein Thema noch stärker eingehen sollen: Das durch die Coronakrise weiter verstärkte wirtschaftliche Auseinanderdriften von Süd- und Nordeuropa. Dieses aufzuhalten müsse für die EU - ebenso wie die Bekämpfung des Klimawandels - oberste Priorität haben. Zudem sei von der Leyen zu vage geblieben, mit welchen konkreten Entscheidungen sie die selbst gesetzten ambitionierten Klimaziele erreichen wolle.
Silvia Engels: Es waren viele Punkte in der Rede. Starten wir mit dem zuletzt genannten Punkt. Da ging es ja um die Werte der Union. Ursula von der Leyen will einen Anti-Rassismus-Beauftragten einsetzen und hat noch einmal die Mitglieder gemahnt, die Anstrengungen einer gemeinsamen Migrationspolitik zu verstärken. Ist das reine Symbolik ohne Durchschlagskraft?
Guntram Wolff: Na ja, bei vielen Punkten dieser Rede ist es so, dass große Ziele genannt werden, aber am Ende kommt es darauf an, was man wirklich umsetzen kann und wie man es umsetzen kann. Aber ich denke, gerade bei dem Thema Rassismus ist es tatsächlich wichtig, dass die Kommissionspräsidentin dieses Thema überhaupt genannt hat. Das ist früher in den Reden der früheren Kommissionspräsidenten eher nicht geschehen. Das Rassismus-Problem wurde tendenziell nicht als ein europäisches Problem wahrgenommen, sondern eher als eine Aufgabe, mit der sich Mitgliedsländer auseinandersetzen. Ich denke, da kann man sicherlich auf europäischer Ebene auch darüber nachdenken, wie man Rassismus in Brüssel und in den europäischen Institutionen selber bekämpft und adressiert. Insofern denke ich: Dass das Thema thematisiert wird, ist da, würde ich sagen, eher ein positiver Schritt.
Begrenzte Kompetenzen in der Migrationspolitik
Engels: Bei Anti-Rassismus-Maßnahmen kann man etwas tun. Aber bei der Migrationspolitik zum Beispiel kann die EU-Kommission ja den Staaten bekanntlich keine Vorschriften machen.
Wolff: Ja, in der Tat. Das Problem bei vielen dieser Ansagen, auch bei der Migrationsansage ist natürlich, dass die Kommission nur begrenzte Kompetenzen hat und die Initiativen dann auch oft ins Leere laufen, und gerade das Migrationsthema ist wirklich immer noch so toxisch in Europa, dass ich nicht sicher bin, wieviel die Kommission da am Ende umsetzen kann.
Bei konkreten Politikentscheidungen sehr vage
Engels: Dann machen wir hier einen harten Schnitt. Wechseln wir zur Klimapolitik. Ursula von der Leyen hatte sie ja schon vor der Corona-Pandemie zu ihrem inhaltlichen Schwerpunkt gemacht. Sie will nun den CO2-Ausstoß in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent im Vergleich zu 1990 reduzieren, also ambitionierter als die bisherigen 40 Prozent. Ein richtiger Schritt?
Wolff: Die Bekämpfung des Klimawandels und die Reduktion der Emissionen ist eine Generationenaufgabe und muss eine absolute Priorität für uns alle sein. Klimawandel ist real und ist das große Problem unserer Welt. Insofern ist es richtig, dass die Europäische Union versucht, dort wirklich starke Fortschritte zu machen. Was mir fehlt in dieser Rede bei dem Thema ist tatsächlich eine Konkretisierung, wie denn das erreicht werden soll. Das Ziel 55 Prozent ist sehr begrüßenswert, 55 Prozent Reduktion bis 2030. Aber in der Rede wird das so dargestellt, als ob das eine ganz einfache Sache wäre und am Ende würden wir alle noch davon profitieren.
Nein, es ist natürlich so, dass es da ganz harte Trade offs gibt, dass es da tatsächlich auch Verlierer geben wird, dass es sozial nicht leicht sein wird, dass es auch für die Wirtschaft nicht leicht sein wird in Teilen, dass es auch natürlich für viele Menschen nicht leicht sein wird, die ihre Reisetätigkeiten, reise- und beruflichen Muster verändern werden müssen. Und mir fehlte ein bisschen in der Rede eine Anerkennung, dass das wirklich nicht so einfach sein wird, sondern eine große Herausforderung sein wird. Und mir fehlte auch eine konkrete Ansage, wie man das denn erreicht. Werden wir eine CO2-Steuer einführen? Wie teuer wird sie sein? Ich meine, das sind ja ganz konkrete Politikentscheidungen, die jetzt gefällt werden müssen, und da war sie doch sehr vage, dass man bestimmte Dinge mal jetzt anstoßen möchte.
Unterstützende Maßnahmen beim Klimawandel nötig
Engels: Nicht wenige Beobachter fragen sich auch, ob sich die EU neben den geplanten dreistelligen Milliarden-Hilfen zur Bewältigung der unmittelbaren Corona-Folgen in den Mitgliedsländern überhaupt noch um ambitionierten Klimaschutz in diesem Ausmaß kümmern kann.
Wolff: Ja, genau. Ich glaube, viele Bürger – und die Bürger sind in dieser Rede, meiner Meinung nach, ein bisschen zu kurz gekommen – stellen sich genau diese Frage. Klimawandel bekämpfen ist ja schön und recht, aber ich möchte erst mal meinen Job zurückbekommen oder meinen Job behalten. Und wenn jetzt auf einmal hohe Steuern erhoben werden, vielleicht verliere ich meinen Job, und das ist ja eine Angst, die die Bürger haben.
Die Kommission macht es sich, glaube ich, ein bisschen zu leicht, wenn sie sagt, Klimapolitik ist auch eine Wachstumsstrategie. Ja, vielleicht in zehn Jahren, aber jetzt anfänglich wird diese Klimapolitik, die ich für richtig halte, um das noch mal zu sagen, natürlich auch in bestimmten Bereichen Schwierigkeiten verursachen, und genau darum muss man sich kümmern. Genau da muss man sich überlegen, was können wir für unterstützende Maßnahmen für bestimmte Sektoren haben, dass sie zwar einerseits Klimawandel machen, aber dass das nicht zu Lasten von Jobs geht.
Weiteres Auseinanderdriften der EU verhindern
Engels: Da werden auch wieder viele auf Deutschland innerhalb der EU schauen. Die gerade veröffentlichte OECD-Wirtschaftsprognose sieht nämlich so aus, dass die deutsche Wirtschaft demnach vielleicht doch nicht so hart wie andere Industriestaaten von der Rezession getroffen wird. Das Bruttoinlandsprodukt, so die Schätzung, dürfte nur um 5,4 Prozent zurückgehen. Frankreich sieht da mit 9,5 Prozent minus und Italien gar mit 10,5 Prozent minus schlechter aus. Heißt das, auch beim Thema Klimaschutz plus Corona-Hilfen ist Deutschland wieder mehr in der Pflicht, sich über das Gegebene hinaus noch zu engagieren in der EU?
Wolff: Ja, ich meine, das ist ein großes Thema, was auch die Kommissionspräsidentin stärker hätte thematisieren können. Wir haben in der Tat eine Divergenz in Europa. Der Süden Europas ist aus verschiedenen Gründen besonders hart getroffen, Deutschland und der Norden eher weniger stark getroffen. Und dieses Auseinanderdriften unserer Wirtschaft ist eine massive Belastung für die Menschen, für die Menschen Südeuropas, und ist natürlich auch eine Belastungsprobe für den Zusammenhalt der Europäischen Union.
Das historische Finanzpaket der Europäischen Union
Im Juli haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs auf das größte Haushalts- und Finanzpaket in der Geschichte der Staatengemeinschaft geeinigt. In den Verhandlungen mit dem EU-Parlament fordern die Abgeordneten nun Nachbesserungen.
Im Juli haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs auf das größte Haushalts- und Finanzpaket in der Geschichte der Staatengemeinschaft geeinigt. In den Verhandlungen mit dem EU-Parlament fordern die Abgeordneten nun Nachbesserungen.
Natürlich haben wir mit dem Finanzpaket, das jetzt geschnürt wird, einen Anker, der versucht, dieses Auseinanderdriften zu verhindern, aber sicherlich wird das in den nächsten Jahren eine der großen Herausforderungen für die Europäische Union sein. Deutschland engagiert sich Gott sei Dank jetzt sehr stark. Aber ich denke, die Kommission muss wirklich auch ein klares Signal setzen, dass das Zusammenhalten der Union und das Verhindern eines weiteren Auseinanderdriftens eine absolute Priorität sein muss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.