Jochen Spengler: Junckers Vorschläge stoßen wie gehört in etlichen EU-Ländern auf Ablehnung, und darüber wollen wir im Deutschlandfunk mit dem Politikwissenschaftler Professor Eckart Stratenschulte sprechen, dem Leiter der Europäischen Akademie Berlin, der nun live am Telefon ist. Guten Abend nach Berlin, Herr Stratenschulte.
Eckart Stratenschulte: Ja, guten Abend.
Spengler: Um einen Satz von eben aufzunehmen: Haben die Osteuropäer das Recht auf eine eigene Meinung in der EU oder nicht?
Stratenschulte: Hier geht es ja nicht um eine eigene Meinung, sondern es geht ja um die Frage, ob man als Solidarverbund miteinander auf ein Problem reagiert, oder ob jeder macht was er will. Also so zu tun, als sei hier die Meinungsfreiheit eingeschränkt, das ist schon eine ziemliche Chuzpe und geht an der Sache völlig vorbei. Natürlich hat jeder das Recht auf eine eigene Meinung, aber hier geht es nicht um eine Diskussion, sondern hier geht es darum, dass wir eine konkrete Situation gemeinsam bewältigen müssen. Und dass Länder, die viele Jahre lang Solidarität der anderen genossen haben, jetzt sagen, Solidarität nehmen gerne, aber geben nicht, da halten wir uns zurück und das kaschieren wir mit Meinungsfreiheit, das ist schon ziemlich frech.
Spengler: Sie haben gerade gesagt, wie bewältigen wir das gemeinsam. Ist nicht das Konzept der Bewältigung einfach völlig konträr? Die einen sagen, unter anderem Deutschland, wir müssen die Hilfesuchenden aufnehmen und gerecht verteilen, und die anderen sagen, nein, wir müssen sie abweisen und unsere Außengrenzen schützen. Ist nicht beides legitim?
Stratenschulte: Ja, beides ist legitim. Aber in Wirklichkeit müssen wir doch einen Dreischritt gehen. Erstens: Die Menschen, die da sind oder die unterwegs sind, die müssen doch versorgt werden. Die können wir doch jetzt nicht an der Autobahn kampieren lassen, oder in Bahnhöfen, oder wieder zusammenknüppeln und dann 200 Kilometer laufen lassen. Zweitens muss man natürlich die Fluchtursachen bekämpfen, das ist ja richtig. Aber das ist nichts, was über Nacht geschehen kann. Und drittens müssen wir natürlich auch sehen, dass wir die Außengrenzen schützen, da wieder zu normalen Verhältnissen kommen, aber das kann doch jetzt nicht zu Lasten derer gehen, die mittlerweile schon längst auf unserem Gebiet sind, oder unmittelbar vor der Grenze stehen und da nicht das Existenzminimum haben.
Spengler: Vertritt Deutschland in der Flüchtlingsfrage eigentlich die Mehrheit, oder befindet es sich möglicherweise in der Minderheit in der EU?
Stratenschulte: Ich glaube, Deutschland vertritt eher die Minderheit und wird ja nun kritisiert im Augenblick wegen zu viel Menschlichkeit. Da ist uns in der Geschichte schon Schlimmeres passiert, als eine solche Kritik zu kassieren.
Spengler: Ja, das kann man sagen.
Stratenschulte: Dahinter steckt allerdings Folgendes. Die Flüchtlingsproblematik ist eine Krise, aber sie ist auch Ausdruck der Krise der Europäischen Union, dass die Europäische Union oder die 28 Mitgliedsstaaten im Augenblick nicht wissen, wohin sie miteinander wollen. Und wenn man die Rede von Juncker richtig gehört hat, dann hat er die Hoffnung, die Ziele, die er genannt hat, mit den 28 zu erreichen, auch aufgegeben. In Wirklichkeit plädiert Juncker - das spielt bisher in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle - in seiner Rede für ein Kerneuropa, und dieses Kerneuropa ist für ihn die Eurozone. Da will er eine gemeinsame Sozialpolitik schaffen, da will er Konvergenz schaffen, da will er eine Art Schatzamt schaffen, und das bedeutet, wenn sich das realisiert, dass es ein Europa von mindestens zwei Kreisen gibt, weil offensichtlich Juncker auch sieht, dass mit denjenigen, die Sie jetzt ja auch gerade zitiert haben mit ihren ablehnenden Stellungnahmen, diese Ziele nicht erreichbar sind.
"Zur Quotenregelung gehört natürlich auch eine einheitliche Behandlung der Flüchtlinge"
Spengler: Lassen Sie, bevor wir auf Kerneuropa zu sprechen kommen, uns noch einen Moment bei der Flüchtlingspolitik selbst bleiben. Herr Juncker möchte ja so eine Art Quotenregelung. Aber kann das funktionieren, wenn wir heute sehen, dass die Flüchtlinge selbst sich nicht daran halten wollen, dass sie selbst entscheiden wollen, wo sie sich niederlassen, zum Beispiel in Schweden und deshalb wollen sie nicht in Dänemark bleiben?
Stratenschulte: Nein. Das liegt ja daran, dass sie in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich behandelt werden, dass einige Länder ja regelrecht Vergrämungsmaßnahmen eingeleitet haben und durchführen. Zu der Quotenregelung gehört natürlich auch eine einheitliche Behandlung der Flüchtlinge, wie das ja auch längst geregelt war. Solange es einem Flüchtling im Land A wesentlich besser geht als im Land B, wird er natürlich immer in das Land A wollen. Wenn die Menschen dann mal bei uns leben und integriert sind, dann werden sie auch von der Freizügigkeit Gebrauch machen können, und dann kann es ja immer noch sein, dass jemand nach Schweden zieht, wo seine Familie ist, oder von Schweden nach Österreich, oder wie auch immer. Also wir müssen auch einigermaßen gleiche Bedingungen schaffen, unter denen die Menschen leben können.
Spengler: Das wird ja dann noch viel schwieriger und die Europäische Union ist ja schon jetzt in keinem guten Zustand. Das hat der Kommissionspräsident heute gesagt. Zu wenig Europa, hat er gesagt, zu wenig Union. Wo sehen Sie die Ursachen dafür?
Stratenschulte: Die Ursachen liegen meines Erachtens darin, dass die Europäische Union die Erfolgsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist, alle Ziele erreicht hat, die ihr damals bei der Gründung gestellt worden sind, wir aber mittlerweile im 21. Jahrhundert leben und keine gemeinsame Vision von diesem Europa mehr haben. Da gibt es Länder, die wollen mehr Integration, dazu gehört im Prinzip auch Deutschland, und es gibt andere, die sagen, das reicht so wie es ist, und wiederum andere, die sagen, nein, wir müssen zurückfahren, bis hin zum Extrem Großbritannien, die sagen, wir überlegen uns, auszusteigen. Wir haben im Augenblick keine gemeinsame Zieldefinition und deshalb sucht jeder sein heil eigentlich jetzt in kurzfristigen nationalen Vorteilen. Das Ergebnis erleben wir gerade bei der Flüchtlingsdebatte.
Stratenschulte: Europa ist sich nicht einig, das zeigt auch die Flüchtlingskrise
Spengler: Jetzt muss ich mal ein bisschen Wasser in den Wein gießen, Herr Professor. Sie haben gerade gesagt, die Europäische Union ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte, alle Ziele erreicht. Ich erinnere mich noch gut, dass die Europäische Union im Jahre 2010 der wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum der Welt werden wollte. Dann müssen wir an die Eurokrise erinnern. Es gibt bis heute keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Es gibt, wie wir festgestellt haben, keine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Großbritanniens möglicher Austritt droht. Das ist doch eigentlich alles kein Zeichen für eine gemeinsame Erfolgsgeschichte.
Stratenschulte: Das stimmt. Ich sagte, alle Ziele erreicht, die ihr damals bei der Gründung gestellt worden sind. Das war die Sicherung des Friedens unter den Mitgliedsstaaten, das war der Wiederaufbau Europas, das war das Standhalten im Ost-West-Konflikt, das war auch die Vereinigung des europäischen Kontinents. Das alles ist gelungen und jetzt steht man an der Situation und sagt, wenn wir das Ziel erreicht haben, warum steigen wir nicht aus aus dem Zug. Das sagen die einen. Oder warum bleiben wir nicht sitzen, aber lassen den Zug nicht weiterfahren. Das sagen die nächsten. Oder warum fahren wir mit dem Zug nicht weiter. Darüber sind wir uns nicht einig und an dieser Flüchtlingskrise wird das jetzt sehr deutlich und es führt auch zu einem Mangel an Solidarität, der sich in dieser Situation auswirkt und in vielen anderen auch.
Spengler: Und da würden Sie sagen, Kerneuropa ist die Antwort, dann koppeln wir halt den Zug ab und fahren nur mit denen weiter, die wollen?
Stratenschulte: Das ist das, was Herr Juncker heute letztendlich in seiner Rede gesagt hat. Natürlich hat er das Reizwort Kerneuropa nicht benutzt. Er hat aber gesagt, wir brauchen mehr Konvergenz, ich möchte eine soziale Säule einziehen in die Europäische Union, und hat gesagt, das alles muss innerhalb der Eurozone geschehen, und das heißt, in 19 Staaten von 28, weil er ganz offensichtlich nicht die Hoffnung hat, dass das mit den anderen erreichbar ist. Das nehme ich erst mal zur Kenntnis. Das hat weitreichende Konsequenzen natürlich auch für das institutionelle Gefüge der Europäischen Union. Welche Rolle spielt dann das Europäische Parlament? Welche Rolle spielt die Kommission, wenn nicht mehr alle, die da drinsitzen, für alles eigentlich mitreden können? Das muss man durchdenken, aber man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass es im Augenblick einige gibt, die sagen, wir bremsen, wir wollen nicht weitergehen, und die anderen sich überlegen müssen, wie sie mit dieser Situation umgehen.