Archiv

Redeangst im Studium
"Dann musste ich das Referat abbrechen"

Von Dana Sindermann |
    "Wenn ich weiß, es steht ein Referat an, fünf oder zehn Minuten, dann geht das schon zwei Tage vorher los, dass ich mir Gedanken mach: Oh Gott, was werden die jetzt von mir denken?"
    Jonathan studiert im zweiten Semester den Masterstudiengang Umweltplanung an einer Berliner Hochschule. In vielen Seminaren muss er ein Referat halten, sonst gibt's keine Studienpunkte. Vor Kommilitonen und der Dozentin Fachinhalte zu präsentieren - das ist für Jonathan jedes mal eine Tortur. Sein ganzer Körper spielt dann verrückt.
    "Die Hände werden schwitzig, der Bauch krampft sich zusammen, der Puls geht hoch, manchmal zittern auch die Hände."
    Zusätzlich schießen ihm störende Gedanken durch den Kopf. Das kennt auch Camilla. Sie studiert im sechsten Semester Physik im Bachelor. Das ganze Semester über muss sie Gruppenpräsentationen leisten, bei denen die Note, die sie erhält, für alle Gruppenteilnehmer gilt. Eine verschärfte Situation, die Camilla körperlich und mental enorm strapaziert.
    "Jedes mal in diesem Moment ist es dieser Gedanke, dass wenn ich es nicht perfekt mache, wenn ich nicht alles weiß, wenn ich nicht alle Fragen beantworten kann, finden die anderen, dass ich doof bin, und die wollen daher dann nichts mit mir zu tun haben und dass ich dann halt keine Freunde habe und das wird dann halt so ein Teufelskreis."
    Redeangst erzeugt destruktive Gedanken
    Viele Studierende mit Redeangst kennen solche destruktiven Gedanken. Häufig münden sie in Denkblockaden und im Zweifel im Totalausfall. Nicht wenige Studierende mit Redeangst versuchen deshalb das Referat zu umgehen: Sie fragen den Dozenten, ob sie alternativ eine Hausarbeit schreiben können oder sie legen den Termin für das Referat möglichst ans Ende des Semesters und hoffen, dann nicht mehr dranzukommen. Andere erscheinen erst gar nicht zum Termin und zögern dadurch ihr Studium hinaus. Im Extremfall droht der Studienabbruch.
    Aber woher kommt die Angst, einen Vortrag zu halten oder einen Redebeitrag zu leisten?
    "Das war im Bachelor, das kam schlagartig eigentlich. Ich hab ein Referat gehalten und hatte einen Aussetzer, einen Blackout. Ich kannte das vorher nicht, ich wusste gar nicht, wie ich damit umgehen soll, dann musste ich das Referat abbrechen, musste rausgehen, weil ich nicht mehr klar kam mit der Situation. Und vorher eben hatte ich nie Probleme, in der Schule nicht, im Studium nicht."
    Wenn diese Störung auftritt, dann meist zu Beginn des Studiums, beobachtet Kai Wieters. Er ist Psychologe am Studentenwerk Berlin und leitet dort den Kurs Redeangst.
    "Ich glaube das tritt unbedingt in dieser Phase ein, weil mit der neuen Lebenssituation, in die sie dann kommen, zumindest auch eine neue Lebensphase beginnt, eine ganz neue Phase, wo es um Identität geht, wirklich um Fragen der persönlichen Identität: Wer bin ich? Was ist mein gesellschaftlicher Stellenwert? Was kann ich eigentlich und das große und verunsichernde Fragen sind, die natürlich in der zugespitzten Situation des Vortrags besonders zur Geltung kommen: Ich muss wirklich intellektuell etwas gut leisten, ich muss Dinge gut vorbereiten, ich muss sie technisch versiert präsentieren, ich muss sie inhaltlich logisch konsistent aufbereiten und dann auch vielleicht auf eine angenehme oder unterhaltsame Art vortragen - da kommt einiges zusammen, was natürlich das Anspruchsniveau innerlich noch mal enorm steigern lässt und damit auch die Angst, daran scheitern zu können."
    Wichtig ist ein Eingeständnis zur Redeangst
    Oft dauert es eine Weile, bis sich betroffene Studierende ihre übersteigerte Abneigung vor dem Reden im akademischen Rahmen eingestehen - auch die Schamgrenze gegenüber Kommilitonen und Freunden ist meist hoch.
    Professoren reagieren erfahrungsgemäß verständnisvoll, wenn sie von der Redeangst von Studierenden erfahren. Aber für sie sind die betroffenen Studenten schwer auszumachen, gerade an Massenuniversitäten, wo in den Seminaren häufig an die 60 Leute sitzen. Professor Christian Kassung, Kulturwissenschaftler an der HU-Berlin:
    "Ich kann an der Humboldt-Universität auch nicht mehr jeden Studenten hinterm Ofen hervorlocken und ich find, es ist auch ein Persönlichkeitsrecht, wenn ein Student sagt, okay, ich möchte nur dieses Seminar als passiver Konsument für mich produktiv machen, dann ist das seine Entscheidung. Es kann sicher noch einen kleinen Prozentsatz an Studenten geben, die sich dann verstecken, aber gut, wie komm ich an die ran? Das ist die Schwierigkeit."
    Von den Betroffenen selbst ist also das Selbstbewusstsein gefragt, sich ihre gesteigerte Redehemmung einzugestehen, sowie Eigeninitiave, wenn sie das Hindernis überwinden möchten. Anlaufstelle können hier die Studentenwerke sein. Die Mitarbeiter dort bieten zumindest Rat und in den größeren deutschen Städten auch gezielt Kurse gegen Redeangst an. Hier erlernen die Teilnehmer Strategien und ein Handwerkzeug, um ihre Angst in den Griff zu bekommen - und um letztlich entspannter durchs Studium und in den Beruf zu gehen.