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Antje Rávik Strubel „Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss“
Reden einer ungehaltenen Frau

Antje Rávik Strubel gehört zu den herausragenden Denkerinnen und Autorinnen des Landes. Im vergangenen Jahr erhielt sie für ihren Roman „Blaue Frau“ den deutschen Buchpreis. Jetzt bringt der S. Fischer-Verlag einen Band mit Essays der ebenso streitlustigen wie streitbaren Autorin heraus.

Von Shirin Sojitrawalla |
Antje Rávik Strubel: "Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss"
Antje Rávik Strubel positioniert sich in "„Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss“ deutlich politisch. (Buchcover: S. Fischer Verlag)
Der Band beginnt mit Antje Rávik Strubels Dankesrede anlässlich der Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis, einem Text, den manche noch im Ohr haben dürften. Damals attestierte sie der Gegenwart, eine zänkische Zeit zu sein, und meinte damit auch die Auseinandersetzungen um –  für sie längst selbstverständlich gewordene –  gendersensible Sprache. Ihre kurze Rede prägte das, was alle hier versammelten Essays auszeichnet: eine poetisch klare Sprache und präzises Denken. In ihrem Text „Gendergewänder“ setzt sie sich abermals mit dem Gendersternchen auseinander:
„Mit seiner Hilfe werden ehemals in schattenhaftes Dasein Verbannte nicht konformen Geschlechts sprachlich sichtbar. Das gefällt mir. Vielleicht gefällt mir daran vor allem, dass das *  kein Wort ist, keine Benennung im herkömmlichen Sinne, kein weiteres Label, das ein Leben aufspießt wie einen toten Schmetterling, sondern einfach zwischen den Buchstaben hervorstrahlt. Es sorgt für einen leichten Schwindel, eine Ver* rückung innerhalb eines Wortes. Der gewohnheitsmäßige Trott unserer Wahrnehmung kommt kurz ins Stolpern.“

Verfechterin des „Sowohl-als-auch“

Die Texte sind in den vergangenen zehn Jahren entstanden, die meisten wurden zuvor schon anderswo veröffentlicht. Feministische und queere Themen liegen Rávik Strubel am Herzen. Immer mal wieder kommt sie auf Virginia Woolf zu sprechen, deren bahnbrechender Text „Ein Zimmer für sich allein“ auch nach fast hundert Jahren zitierfähig bleibt.
Rávik Strubels Schreiben ist der Versuch anzumerken, Widersprüche auszuhalten. Dabei ist sie keine Freundin eines strengen „Entweder-oder“, sondern Verfechterin eines „Sowohl-als-auch“. Geschlechterungerechtigkeit regt sie allenthalben auf, auch in der Literaturbranche.
„Von diesem Unterschied leitet sich nicht nur die Bewertung von Inhalt und Ästhetik ab, sondern auch die Entlohnung (laut einer Studie der Künstlersozialkasse von 2017 verdienen männliche Schriftsteller im Durchschnitt doppelt so viel wie ich – unabhängig davon, ob sie Schrott oder hot schreiben). Vom 'Fräuleinwunder' werden Sie gehört haben; von einem 'Buben- oder Knabenwunder' sicherlich nicht.“
Angesichts solcher Zustände kann sie bitter ironisch werden. In der ehemaligen DDR geboren, umweht sie in den Wendejahren das Gefühl, eine Nischenbewohnerin zu sein. Dem Westen wiederum attestiert sie schon mal rückwärtsgewandte Strukturen, vor allem im Vergleich mit schwedischen Verhältnissen, die Rávik Strubel aus eigener Anschauung kennt. In ihrem Furor versteigt sie sich bisweilen, etwa wenn sie verbale Demütigungen mit dem Gefühl, tatsächlich missbraucht worden zu sein, vergleicht.

Anstiftung zum Lesen

Wohltuend dann das dritte Kapitel, in dem sie sich der Literatur zuwendet. Ihre Hymne auf den Briefwechsel zwischen Astrid Lindgren und Louise Hartung schließt eine Bildungslücke und stiftet wie die profunden Ausführungen zur widerständigen ersten weiblichen Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf zum Lesen an. Selbiges gilt für die genaue Interpretation ihres Lieblingsstücks, Kleists "Penthesilea", vor dem Hintergrund heutiger Diskurse.
„Diese Grausamkeit, von der auch die überfällige metoo-Debatte einmal mehr handelt, kann nur durch das Überschwärmen der Grenzen, das Verschwimmen der Kategorien beendet werden. Nur so können die fixen Machtpositionen ausgehebelt werden; ein Gedanke, der dieses 200 Jahre alte Stück so grandios zeitgemäß macht. Hierarchien sind damit nicht aus der Welt. Aber sie zerstreuen sich, lassen produktive Instabilitäten zu, die den Differenzen und der Vielfalt gerechter werden, in denen wir leben könnten. Ich vermute, wir wären glücklicher so.“
Die Genauigkeit ihrer Lektüren ist beeindruckend. Kein Wunder, dass eine solche Leserin dasselbe von ihren Kritikerinnen und Kritikern erwartet. Ein bisschen seltsam wirkt es aber schon, wenn sie jetzt die in ihrem Roman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ ausgelegten Fährten erklärt. Als wären das Geschriebene und das Gelesene nicht seit jeher zwei – je nach Geist und Laune – sehr unterschiedlich geformte Paar Schuhe.

Gedankliche Frischluft

Im vierten und letzten Teil des Bandes erzählt sie von ihrer Kindheit in einem Plattenbau, von für sie wichtigen Orten, davon, was sie mag und was nicht. Landschaftliche Prägungen interessieren Rávik Strubel schon lange. Das gilt für tatsächliche Landschaften wie für innere und literarische. Was die polyglotte Autorin und Übersetzerin nicht versteht, sind Schubladensysteme. Die Kästchen scheinen ihr einfach zu klein, nicht nur für Geschlechter, sondern auch für Nationalliteraturen.
„Die Rede von einer dezidiert deutschen Literatur erschien mir immer merkwürdig. Als Jugendliche trug mich gerade das Lesen über alle Grenzen hinweg. Wo aus dem einen Land und seiner ideologiegetränkten Sprache nicht herauszukommen war, öffneten die Bücher andere Gegenden, andere Zeiten, andere Denkweisen. Kurz: Da war Weite. Frische Luft. Warum also sollte sich eine Literatur in nationalsprachlicher Begrenzung verrammeln und verriegeln?“
Gedankliche Frischluft verbreitet auch Rávik Strubel. Sie denkt und schreibt im emphatischen Sinne des Wortes: frei. Selbst wenn das hier und da ins Rigorose kippen mag, bleiben ihre Analysen unerhört aufklärerisch und sinnstiftend.
Antje Rávik Strubel: „Es hört nie auf, dass man etwas sagen muss“
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
186 Seiten, 24 Euro.