Anja Buchmann: Wie sollte der Pop mit dem Populismus umgehen, beziehungsweise: Sollte er das überhaupt? Was war auf den Panels zu hören?
Adalbert Siniawski: Tatsächlich hat sich die Idee "Pop als Retter der Gesellschaft" wie ein roter Faden durch viele Panels gezogen. Nur ist die Frage: Kann "der Pop" dem tatsächlich gerecht werden? Ganz häufig hörte man den Appell: Musiker mit einer großen Reichweite hätten die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen und sich zu Fällen wie Chemnitz oder Köthen zu äußern. Das wurde ja bei dem Soli-Konzert "Wir sind mehr" in Chemnitz getan, das geschieht aber auch in Musikvideos: Die Band OK Kid zum Beispiel hatte zwei Tage vor der Bundestagswahl den Clip "Warten auf den starken Mann" veröffentlicht und sich damit gegen Rechtspopulimus positioniert. Und doch klang Jonas Schubert, Frontmann von OK Kid, ziemlich ernüchtert.
"Ich persönlich kenne keinen AfD-Wähler"
Jonas Schubert: "Wir hätten uns das tatsächlich ein bisschen gewüscht, dass man Leute erreicht, die nicht Fans von uns sind. Tatsächlich haben wir aber überwiegend positives Feedback bekommen von Leuten, die die gleiche Meinung teilen wie wir. Die Diskussion fand nicht statt, weil: Man kriegt sehr viel Schulterklopfen aus den eigenen Reihen dafür, dass man vielleicht den Mut hat, eine Meinung hat, eine Haltung hat. Aber es erreicht nicht die Leute. Also ändert es auch nichts. Ich persönlich kenne keinen AfD-Wähler, ich persönlich kenne niemanden, der für Pegida auf die Straße geht. Deswegen ist es immer sehr, sehr schwierig, die Blase zu verlassen.
Ich finde: Kunst muss erstmal gar nichts. Ich habe lieber einen guten Love-Song oder einen geilen Pop-Song - und nicht einen schlecht gemachten politischen Song. Und es ist ja ein Teil von Populismus auch, dass jetzt jede Band den Mund aufreisst und dann wird man gehört; und alle sagen: 'Yo, Du bist auch auf der richtigen Seite, geil.' Der Song ist aber scheiße. Also: Was haben wir davon? Das bringt uns auch nicht weiter."
Helene Fischer bricht ihr Schweigen
Siniawski: Spannender wird es also, wenn - sagen wir mal - ambivalente Künstler sich äußern, die sowohl ein bürgerliches als auch ein rechtskonservatives Publikum ansprechen, wie zum Beispiel...
Buchmann: Wie Helene Fischer.
Siniawski: Genau, sie hat vor wenigen Wochen ihr langes Schweigen gebrochen und sich auf der Bühne und im Netz gegen Fremdenfeindlichkeit ausgesprochen und könnte so AfD- und Pegida-Sympathisanten unter ihren Fans vielleicht zumindest nachdenklicher machen.
Auch der Popjournalismus hat eine Verantwortung, wurde hier gesagt. Eben über solche Toleranz-Aktionen, aber auch Veröffentlichungen auf der rechten Seite möglichst ausgewogen zu berichten. Auf dem Podium hieß es von einer Radiomacherin, man würde jetzt manche Platten nicht mehr spielen. Und ein Musikmagazinjournalist sagte, auf Plattenrezensionen von zweifelhaften Musikerin würde man jetzt verzichten. Letzteres kommt meiner Meinung einer Quasi-Zensur gleich. Vielmehr sollte man fragwürdige Songtexte kritisch auseinandernehmen, statt sie zu ignorieren.
Das wurde ja vor der Echo-Verleihung ja zum Beispiel nicht gemacht, niemand - weder die Jury, die Entscheider in der Musikindustrie noch die Musikjournalisten - haben sich mit den antisemitischen Texten von Kollegah und Farid Bang auseinandergesetzt.
Spaltung zwischen Rappern und Bildungsbürgern
Buchmann: Stichwort Echo-Skandal und Rap, welche Schlüsse wurden mit zeitlichen Abstand aus diesem Fall gezogen?
Siniawski: Zum einen, dass der Rap nun ernster genommen wird, auch vom Feuilleton der großen Medienhäuser - der Fall Kollegah/Bang wurde ja breit aufgearbeitet. Aber - so ein Panel zum "Status Quo Deutschrap" mit einer Runde aus Hiphop-Journalisten (übrigens: es war kein einziger Musiker dabei) ... in dieser Runde hieß es, der Rap würde von vielen Menschen weiterhin nicht wirklich verstanden. Das läge an dem großen Spalt zwischen den Rappern, die häufig Migrationshintergrund haben und bildungsfern sind - eben von der Straße kommen, oder zumindest damit kokettieren - und den Bildungsbürgerkindern in den Redaktionen.
Der Rap spiele mit Übertreibungen und Provokationen, die eine Wirkung haben sollen auf die Fans und die gegnerischen Rapper; das werde aber außerhalb der Rapszene nicht verstanden. Manches umstrittene Statement wird sicher auch gemacht, um wieder in die Schlagzeilen zu kommen, aber auch schlichte Dummheit kann man nicht ausschließen.
Buchmann: Ausgrenzung auf Festivals war auch ein großes Thema, vor allem die Ausgrenzung von Frauen in der Musik. Das Reeperbahn Festival hat sich der Keychange-Initiative angeschlossen. Was tut man, um die Situation von Musikerinnen zu verbessern?
Siniawski: Erstmal: sich als Festivalmacher zu verbünden; weltweit sind mehr als 125 Festivals dabei. Keychange - dis ganz kurz zur Erklärung - wurde von der britischen PRS-Foundation gegründet, dem Interessenverband britischer Musikerinnen und Musiker. Gemeinsames Ziel ist, bis 2022 ein ausgeglichenes Verhältnis an männlichen und weiblichen Musikern bei Festivals zu erreichen.
"Gleichheit wird es nur auf einem anderen Planeten geben"
Was sich in der Musikbranche ändern muss, diskutierten Linda Perry - Songschreiberin unter anderem von Pink und Ex-Mitglied von der Band 4 Non Blondes...
Buchmann: Mit dem Hit "What's up?", wir wissen es, 1993.
Siniawski: Genau. Und Bowie-Produzent Tony Visconti waren da. Und Visconti sagte: "Labels verstehen sich heutzutage mehr denn je als Unternehmen. Sie nehmen zwar mehr Frauen unter Vertrag. Aber eben keine rebellischen Frauen, sie sich nicht in hübsche Kleider stecken lassen - das ist eine Barriere."
Starkes Statement von Linda Perry, die häufig das böse F-Wort in den Mund nahm: "Gleichheit wird es nur auf einem anderen Planeten geben. Weg mit den Etiketten! Frauen müssen rein ins Studio. Sie müssen taffer sein als die Männer." Und sie selbst, Linda Parry, sei es satt, nur über das Problem zu reden.
Eine Frau, die vieles vorbildlich macht, ist offenbar die deutsche Musikerin Bernadette La Hengst - sie bekam beim Reeperbahn Festival den "Keychange Inspiration Award" der Organisation.
Buchmann: Auf den Bühnen haben in Hamburg erstaunlich viele Musikerinnen gespielt, wie der Blick ins Programm zeigt - da scheint das Festival seine eigenen Ziele gut umgesetzt zu haben. Eine der weiblichen Acts war US-Musikerin Mikaela Davis aus New York. Die junge Frau ist studierte Harfenistin und vermischt auf ihrem Debütalbum "Delivery" viele Musikstile zu einem harmonischen Ganzen. Was finden Sie an Mikaela Davis spannend - ich vermute mal, es ist die Harfe.
Siniawski: Nicht nur! Auch, weil sie Musik voller spannender Widersprüche macht und nicht nur stilistisch sehr unterschiedliche Genres in sich vereint, sondern auch textlich: Der Song "Get Gone" geht mit verzerrten Stimmen und der verzerrten Harfe nach vorne, ist ziemlich tanzbar. Und doch geht es um ein trauriges Thema: das Alleinsein in der Großstadt und Suizidgedanken. Auch auf der Bühne spielt die junge Davis mit Extremen: Sie trat mit ihren langen blonden Haaren in einem goldglänzenden Anzug auf und wirkte wie ein schillernder Engel - gleichzeitig raucht und trinkt sie auf der Bühne. Aber klar: Im Zentrum steht dieses besondere Instrument, über das ich mit ihr hier auf dem Festival gesprochen habe.
"Weniger ist beim Songwriting mehr"
Siniawski: Die Harfe gibt ihren Song etwas Süßes und Schwebendes, ohne sie auf ein bestimmtes Genre festzulegen. Wie wichtig ist Ihnen diese Offenheit?
Mikaela Davis: Ich mag es nicht, auf ein bestimmtes Genre festgenagelt zu werden. Ich höre ganz unterschiedliche Musik: Rock, Klassik, Psychedelia, Country. Zum Beispiel Doc Watson und Leadbelly. Ich liebe Melody's Echo Chamber von Melody Prochet aus Frankreich, ihre Sachen sind sehr psychedelisch. Seit Kurzem höre ich viel Neil Young. Seitdem denke ich: Weniger ist beim Songwriting mehr, und ich versuche, nicht allzu sehr beim Schreiben nachzudenken. Mein Musikgeschmack ist vielfältig - und so sind auch meine Songs.
Siniawski: Sie komponieren auf der Harfe?
Davis: Ja. Früher habe ich nur auf dem Klavier komponiert, denn ich hatte Sorge, dass die Harfe seltsam ankommt. Mein Schlagzeuger hat mich aber dazu ermutigt: "Hey, das ist cool, das macht sonst niemand!" Sein Vater gab mit eine Kassette mit Songs von Joanna Newsom, die hat Harfe in einer Radiosendung gespielt - und das hat mich überzeugt.
"Als Harfenspieler hat man es auch in der Klassik schwer"
Siniawski: Denn Harfe und Popmusik - das passt nicht recht zusammen, oder?
Davis: Absolut. Aber das gibt es. Heutzutage kann jeder Musik machen und eine Band gründen. Und je mehr Du in der Nische bist, desto mehr hebst Du Dich vom Rest hervor. Ich habe eine klassische Musikausbildung; und als Harfenspieler hat man es auch in der Klassik schwer. Jeder bewirbt sich um diese eine Stelle im Orchester. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Du die Stelle bekommst, denn es gibt immer den einen, der besser ist als Du. Aber jetzt mache ich etwas, was nicht viele tun. Und nun habe ich mehr Chancen auf Erfolg.
Siniawski: Was ist das Tolle an der Harfe?
Davis: Hm… Zu versuchen, sie neben dem ganzen Equipment ins Auto zu bekommen. Ich weiß nicht ... Ich liebe dieses Instrument. Es ist wundervoll. Es kann ein Solo-Instrument sein, es passt zu einem Kammer-Ensemble oder in ein Orchester. Es ist so vielfältig - das liebe ich am meisten.
Siniawski: Der Sound driftet manchmal schon in Kitschige ab - etwa wenn Mikaela Davis im Country-Stil über das Land, als "ihr Country", singt. Es wird interessant zu beobachten sein, wie sie sich weiterentwickelt und ob sie noch mehr Ecken und Kanten in ihre Musik einbaut.
Horror in der Kirche
Buchmann: Welche Highlights gab es noch?
Siniawski: Gestern spielte die britische New-Prog-Rock-Band Muse auf der Reeperbahn, sie wurde kurzfristig als Überraschungs-Act angekündigt. Richtig gut gefallen hat mir der Auftritt von Konstantin Gropper alias Get Well Soon. Er hatte gestern Abend eines von drei Exklusiv-Konzerten von Künstlern gegeben, mit denen sich das Reeperahn Festival von anderen Veranstaltungen abheben will - und das ist sehr gelungen!
Get Well Soon spielte mit Gastmusikern im Hamburger Michel, der Kirche St. Michaelis, seine orchestralen Songs vom Album "The Horror" - bot also quasi Horror in der Kirche.
Auf dem Album verarbeitet er unter anderem seine Alpträume und die alptraumhaften politischen Zustände -- und unterlegt das mit rockig-jazzigen-sphärischen Klängen im Crooner-Stil. Die Platte ist an sich schon toll, aber in dem erhabenen Raum der Kirche kam die Musik zu neuen Höhen, es war der perfekte Ort für ein ausgezeichnetes Pop-Album - unterstützt von Musikern Kat Frankie, Sam Vance-Law und sogar Groppers Vater an der Kirchenorgel, was auch gut aufging.
Und als die tunesische Sängerin Ghalia Benali in ihrer Landessprache sang und Gropper darauf antwortete: "the world must change now", das war Gängehautgefühl angesichts der Kriege, die wir in der Welt haben.
Das Paradies mit guten Texten
Buchmann: Gab es weitere deutsche Künstler, die Sie gut fanden?
Siniawski: Ja, und zwar Das Paradies - dahinter steckt Florian Sievers aus Leipzig. Ich sage mal: Wer PeterLicht mag und auch die Band Die Höchste Eisenbahn, der wird auch diese Musik mögen. "Goldene Zukunft" heißt das aktuelle Album von Das Paradies - Gitarre, Gesang, Schlagzeug und Keyboard, mehr nicht. Sievers schreibt deutsche Indie-Pop-Texte, in denen es häufig um die Alltagsbefindlichkeiten geht, aber nie so platt, wie bei anderen deutschen Singer-Songwritern.
Buchmann: Heute Nacht geht das Reeperbahn Festival zu Ende - haben Sie noch Tipps für Kurzentschlossene?
Siniawski: Heute Abend um 20:30 Uhr auf dem Spielbudenplatz in Hamburg und um 23:10 Uhr im Grünspan tritt Darwin Deez auf. Ich sage es mal ganz kurz: elektronischer Pop aus New York mit Witz und Ironie - sowohl in den Texten als auch mit seinem Sound - so entzieht sich Darwin Deez immer knapp dem Maintream. Ich bin gespannt, wie er das auf der Bühne rüberbringt.