Peter Kapern: Fangen wir mit ein paar Zahlen an. Zwölfeinhalb Millionen Niederländer waren gestern wahlberechtigt und ein knappes Drittel von ihnen, also etwa vier Millionen haben auch tatsächlich an der Abstimmung über das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Ukraine teilgenommen. 61 Prozent davon, also etwa 2,4 Millionen Niederländer, haben mit Nein gestimmt und beanspruchen nun, den Kurs für 500 Millionen EU-Bürger und 45 Millionen Ukrainer vorgeben zu können. Der Schwanz wedelt mit dem Hund. Geert Wilders, einer der Organisatoren des Referendums - ich habe es eingangs gesagt -, der feiert bereits den Anfang vom Ende der EU, und sein Mitstreiter, Thierry Baudet, der geht noch nicht ganz so weit:
"Ich hoffe, dass das Assoziationsabkommen neu verhandelt wird. Das ist schlecht für die Ukraine, für die Niederlande und für Europa. Und ich hoffe, dass man neu nachdenkt über diese europäische Ideologie, die keine Kulturen und Unterschiede zwischen Ländern sehen will und aus allem einen Einheitsbrei macht. Das funktioniert nicht."
So kommt das also heute an, was einmal als völkerverbindendes Friedensprojekt gestartet ist: ein angeblich ideologisch angerührter Einheitsbrei. Bei uns am Telefon ist jetzt Karl Lamers, der langjährige Europapolitiker der CDU. Guten Tag, Herr Lamers.
Karl Lamers: Hallo, Herr Kapern. Guten Tag.
"Europa ist die Antwort der Europäer auf die Globalisierung"
Kapern: Herr Lamers, ziehen wir den Kreis doch mal ein bisschen größer. Schlagbäume runter, Grenzen zu, Abschottung gegenüber den anderen, ob innerhalb oder außerhalb der EU - das scheint die Botschaft zu sein, die die Bürger derzeit überall in der EU, aber auch bei jeder Gelegenheit aussenden. Was haben Sie als Europapolitiker falsch gemacht?
Lamers: Ich glaube nicht, dass wir etwas falsch gemacht haben, natürlich von Einzelheiten abgesehen. Und es ist auch richtig, was Manfred Weber gesagt hat. Wir müssen versuchen zu erklären, zu erläutern komplizierte Sachverhalte, ohne sie zu verfälschen, auf den Punkt zu bringen. Das ist alles richtig. Aber es war zu erwarten und es ist ja nicht das erste Mal, dass die Wähler sich versuchen, die nationale Decke über den Kopf zu ziehen vor dem, was auf sie einstürmt, das was wir als Globalisierung bezeichnen. Dass Europa aber die Antwort der Europäer auf die Globalisierung ist, das nehmen sie nicht wahr. Aber natürlich können wir die Globalisierung, diese überstaatliche, grenzenlose Wirklichkeit nicht rückgängig machen. Das ist aber das, was sie erwarten. Aber das ist die Wirklichkeit unserer Zeit und gegen die Wirklichkeit anzugehen, das ist immer zum Scheitern verurteilt. Wir haben dieses oder jenes bestimmt alle falsch gemacht, nicht richtig eingeschätzt und und und, das ist wohl wahr. Aber das Prinzip ist und bleibt richtig und wenn wir in der heutigen Welt, wo es ja nun neue Mächte gibt, die uns bald schon überholt haben, wenn wir nicht erkennen, dass wir entweder nur gemeinsam eine Zukunft haben, oder gemeinsam keine Zukunft haben, ja dann ist Europa nicht zu helfen. Aber ich glaube daran, dass ihm zu helfen ist.
"Am Ende wird sich Europa wieder zusammenraufen"
Kapern: Herr Lamers, diese Formulierung, diese Gedankenkette, dass Europa die Antwort auf die Globalisierung ist und dass man das den Leuten einfach nur erklären muss, das höre ich, ich glaube, solange wie ich hier im Deutschlandfunk am Mikrofon stehe, und das ist schon ein paar Jahre. Und trotzdem: Diese Botschaft kommt nicht an. Da stimmt doch irgendwas nicht?
Lamers: Ja, kommt nicht an. Es ist ja nicht so, das muss man auch jetzt im Falle Niederlande sehen, dass alle Bürger in den Niederlanden oder dass alle Bürger auch bei früheren Abstimmungen etwa über den Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden gegen Europa waren, sondern es sind zu viele nicht gegangen. Sie haben sich nicht beteiligt. Das ist vielleicht der Kern des Problems. Ich meine, natürlich war das etwas überraschend nach den Umfragen, das Ergebnis hier, aber man darf doch nicht vergessen: Zwei Drittel der Wähler sind nicht an die Wahlurne gegangen. Und mindestens kann man annehmen, dass sie dieses Ergebnis nicht gewollt haben. Aber das reicht natürlich nicht. Sie hätten eben auch gehen müssen.
Kapern: Aber das ist ja eine mutige Annahme, Herr Lamers. Die Ablehnung hätte ja noch viel deutlicher ausfallen können, wenn sie an die Urnen gegangen wären.
Lamers: Das glaube ich nicht. Sie haben es offensichtlich nicht für so wichtig gehalten, und das ist der Fehler. Also gut, ich kann auch nicht ausschließen, dass es eine generelle Mehrheit gibt, die sich aus Angst vor Europa ins nationale Schneckenhaus zurückziehen möchte. Das kann ich nicht völlig ausschließen. Aber das glaube ich nach wie vor nicht und ich bleibe dabei: Wir müssen schon versuchen, es noch besser und eindeutiger zu erklären. Und im Falle der Ukraine beispielsweise - wissen Sie, das ist ja nun wirklich ein strategisches Projekt. Die Alternative ist, dass die Ukraine wieder unter russischen Einfluss gerät, und dann werden wir mit Sicherheit einen Flüchtlingsstrom aus der Ukraine erleben, der auch vor den niederländischen Grenzen nicht Halt machen wird. Ich weiß, es ist ein Dilemma, dass man etwas in der Politik, dass Europa etwas betreiben muss, was bei den Menschen auch Ängste und Sorgen hervorruft. Vielleicht wäre es allerdings hilfreich, sich daran zu erinnern, dass Europa nicht nur aus solchen Elementen besteht, sondern dass die Vorteile, die Europa den Menschen bietet, doch enorm sind. Wenngleich Sie recht haben: Es hat immer schon solche Strömungen gegeben. Sie sind ohne Zweifel jetzt stärker geworden. Dazu hat der Flüchtlingsstrom ohne jeden Zweifel erheblich beigetragen. Aber ich bin wirklich sicher, Herr Kapern, am Ende wird sich Europa wieder zusammenraufen, wie es das in der Vergangenheit auch immer wieder getan hat.
"Referendum wirft die Frage auf, ob das ein sinnvolles Instrument ist"
Kapern: Dann lassen Sie uns doch mal der Frage nachgehen, wie das geschehen kann. Bislang hat die EU ja noch immer einen taktischen Umgang mit den Ohrfeigen gefunden, die ihnen die Wähler verpasst haben, nach den Referenden gegen die EU-Verfassung etwa, und dann hat die EU am Ende grosso modo doch gemacht, was in den Referenden abgelehnt worden ist.
Lamers: So ist es.
Kapern: Ist das Teil des Problems? Kann das so weitergehen?
Lamers: Sagen Sie mir mal, wie es sonst weitergehen soll.
Kapern: Indem man beispielsweise die Menschen die Konsequenzen ihrer Handlungen dann auch spüren lässt.
Lamers: Ja, okay, natürlich spüren lässt. Dann wird es noch schwieriger werden. Man muss die Menschen auch manchmal vor Unsinn bewahren. Wissen Sie, dieses Referendum wirft ja auch die Frage auf, ob das wirklich ein sinnvolles Instrument ist, ob das wirklich mehr Demokratie bedeutet.
"Es ist alles das Werk Europas"
Kapern: Sind die Menschen zu dumm für Europa?
Lamers: Sie sind nicht zu dumm für Europa, sie haben aber Ängste und Angst ist, wie Sie wissen, immer ein ganz schlechter Ratgeber im Leben, einer der schlechtesten überhaupt, und es ist eine der vielen Garantien für den Misserfolg. Angst führt immer ins Versagen. Es gibt nie eine Garantie für den Erfolg, aber es gibt leider viele Garantien für den Misserfolg. Das eine ist, die Wirklichkeit nicht anzuerkennen; das andere ist, damit verbunden, Angst davor zu haben. Das geht nicht! Es ist nun mal so wie es ist. Diese Wirklichkeit, diese Globalisierung, diese überstaatliche, alle Grenzen sprengende Wirklichkeit ist ja nicht zuletzt das Ergebnis dessen, was wir die europäische Ausbreitung nennen und die industrielle Revolution, ebenfalls ein europäisches Produkt. Es ist alles das Werk Europas. Das müssen wir allerdings den Leuten auch mal versuchen, ins Gedächtnis zu rufen. Und dabei haben die Niederlande, anders als Deutschland, eine wesentliche Rolle, von mir bewunderte Rolle gespielt. Sie haben diese Globalisierung maßgeblich mit herbeigeführt. Obwohl ein vergleichsweise immer schon kleines Volk, haben sie einen großen Beitrag dazu geleistet. Das muss man ihnen mal sagen. Und jetzt haben wir es mit den Folgen zu tun und Europa versucht, diese Folgen zu gestalten. Das ist die einfache Wahrheit. Man kann es versuchen, besser zu erklären. Nein, man muss es versuchen. Da stimme ich Manfred Weber ausdrücklich zu. Aber zu glauben, damit wären die Probleme gelöst, ist auch eine Illusion.
Kapern: … sagt Karl Lamers, der langjährige Europapolitiker der CDU. Herr Lamers, danke für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Lamers: Danke schön! Ihnen auch, Herr Kapern.
Kapern: Auf Wiederhören und tschüss!
Lamers: Tschüss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.