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Referendum in der Türkei
Was die Zahlen aus Deutschland bedeuten

In Deutschland lag die Zustimmung zum Präsidialsystem in der Türkei bei 63,1 Prozent. Das heißt aber nicht, dass eine Mehrheit der Deutschtürken das Präsidialsystem befürwortet. Und das hat mehrere Gründe. Die Debatte über Integration läuft parallel dazu dennoch.

    Sie sehen ein silbernes Auto mit einer Türkeifahne in Berlin. Es ist Nacht.
    In Deutschland gab es mehr Zustimmung zu dem Referendum als in der Türkei. (picture-alliance / dpa / Paul Zinken)
    Nach inoffiziellen Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu votierten die Türken, die in Deutschland ihre Stimme abgeben durften, fast mit einer Zweidrittelmehrheit für das von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Präsidialsystem. Der Auszählung zufolge stimmten hier 63,1 Prozent mit Ja, während es insgesamt nur 51,3 Prozent waren.
    In allen 13 Generalkonsulaten, denen die Wahlberechtigten in Deutschland zugeordnet sind, wurde öfter mit "Ja" als mit "Nein" gestimmt. Der höchste "Ja"-Anteil wurde nach einer Übersicht der regierungsnahen türkischen Zeitung "Daily Sabah" mit 75,9 Prozent im Ruhrgebiet (Generalkonsulat Essen) verzeichnet. Die meisten "Nein"-Stimmen kamen mit 49,9 Prozent im Generalkonsulat Berlin zusammen, wo das "Ja"-Lager dennoch mit 50,1 Prozent einen hauchdünnen Sieg davontrug.
    Man sieht ein Balkendiagramm zu den Ergebnissen der Generalkonsulate in Deutschland beim Türkei-Referendum.
    Türkei-Referendum in Deutschland (picture-alliance / dpa / dpa-infografik)
    Debatte über Interpretation der deutschen Zahlen
    Aber heißt das nun, dass die Mehrheit der Türken in Deutschland das Präsidialsystem von Erdogan befürworten? Hier spielt unter anderem die Wahlbeteiligung eine wichtige Rolle. In Deutschland lag sie den Angaben zufolge bei knapp 50 Prozent - im Vergleich zu 86 Prozent insgesamt. Politiker verschiedener Parteien mahnen jedoch zur Vorsicht. Der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz reagierte in diesem Zusammenhang auf Facebook auf einen Post von Hamed Abdel-Samad. Der ägyptisch-deutsche Politologe hatte geschrieben, dass nur 36 Prozent der Deutschtürken gegen das "Ermächtigungsgesetz" seien.
    Polenz fragte und erläuterte daraufhin: "Woher weiß er, was die 50% der Deutschtürken denken, die nicht zur Wahl gegangen sind? Außerdem waren von den 3,5 Millionen Deutschtürken 2 Millionen garnicht wahlberechtigt, weil sie keine türkischen Staatsbürger mehr sind. Für die Verfassungsänderung haben 450.000 Deutschtürken gestimmt. Das sind knapp 13 %."
    Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), warnte vor Pauschalkritik an den Türken in Deutschland. Özoguz sagte der "Saarbrücker Zeitung", "unterm Strich haben nur etwa 14 Prozent aller hier lebenden Deutsch-Türken mit Ja gestimmt. Das ist klar nicht die Mehrheit."
    Autokorsos und Böller im Ruhrgebiet
    Vor allem in den Ruhrgebietsstädten haben Hunderte Türken den Sieg von Präsident Erdogan beim Türkei-Referendum bejubelt. Mit kleineren Autokorsos und Hupkonzerten feierten sie auf den Straßen von Krefeld und Duisburg, Dortmund und Gelsenkirchen. Bereits vor Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses versammelten sich nach Polizeiangaben rund 200 Erdogan-Anhänger vor dem Amtsgericht im Duisburger Stadtteil Hamborn. Mehrere Stunden lang schwenkten sie türkische Fahnen und zündeten kleinere Böller.
    Türkische Gemeinde in Deutschland e.V. in Sorge
    Die "Türkische Gemeinde in Deutschland", TGD e.V., äußerte sich indes besorgt über das Abstimmungsverhalten. "Wir - also die Parteien und Organisationen - müssen das Ergebnis genau analysieren und Wege finden, wie man diese Menschen besser erreicht, die in Deutschland in Freiheit leben, aber sich für die Menschen in der Türkei die Autokratie wünschen", sagte der Vorsitzende Gökay Sofuoglu der "Heilbronner Stimme" und dem "Mannheimer Morgen".
    Der Vorsitzende der Islamischen Gemeinschaft Milli Görus, Kemal Ergün, verwies darauf, dass das türkische Volk in einer demokratischen Wahl entschiede habe. "Jetzt gilt es, diese Wahl zu respektieren und gemeinsam nach vorne zu schauen." Er hoffe, dass das Ergebnis "zur ersehnten politischen und gesellschaftlichen Harmonisierung" beitrage. Die Islamische Gemeinschaft Milli Görus, kurz IGMG, ist die zweitgrößte muslimische Religionsgemeinschaft in Deutschland.
    Harms: EU muss kühlen Kopf bewahren
    Die Grünen-Europaabgeordnete Rebecca Harms sagte im Deutschlandfunk, es habe sie erschüttert, dass hierzulande die Zustimmung beim Referendum sehr viel höher gewesen sei als in der Türkei selbst. Das sei eine große Herausforderung für Deutschland. Harms mahnte zugleich, die Europäische Union müsse einen "kühlen Kopf bewahren", gerade auch, weil das kritische Lager in der Türkei so stark abgeschniten habe. Alles spreche dafür, dass in der Türkei heftige Konfrontationen bevorstünden. Die EU müsse hier mäßigend einwirken.
    Die AfD wertet das Abstimmungsergebnis in Deutschland als Beweis für die misslungene Integration vieler Türken. "Erdogans fünfte Kolonne" solle dahin gehen, wo es ihnen offensichtlich am besten gefalle und wo sie hingehörten: in die Türkei, sagte Parteivorstandsmitglied Alice Weidel.
    "Referendum wird Auswirkungen haben"
    Die CDU-Vize-Vorsitzende Julia Klöckner ist überzeugt, dass das Ergebnis des Referendums Auswirkungen auf das Verhältnis Deutschlands zur Türkei haben werde. Das erklärte sie auf Twitter. Zugleich kritisierte sie, dass die Türken, die beim Referendum mit Ja gestimmt hätten, die Freiheit hierzulande genössen:
    Der stellvertretende CSU-Vorsitzende Manfred Weber erklärte im ZDF, die Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU könne nach dem Ausgang des Referendums kein Thema mehr sein. Die Verhandlungen darüber müssten abgebrochen werden. Ähnlich äußerte sich der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff. Die Fraktionschefin der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Der heutige Tag ist eine Zäsur für die Türkei." Dem türkischen Präsidenten Erdogan sei es durch Manipulationen gelungen, eine Mehrheit für eine Diktatur zu erreichen. Bundesaußenminister Sigmar Gabriel von der SPD erklärte in Berlin: "Wir sind gut beraten, jetzt kühlen Kopf zu bewahren und besonnen vorzugehen." Gabriel veröffentlichte gemeinsam mit Bundeskanzlerin Merkel eine Erklärung auf Twitter:
    Anadolu zufolge stimmten nicht nur die Türken in Deutschland, sondern auch die in anderen Ländern mit einer größeren Mehrheit für eine Verfassungsänderung als in der Türkei selbst. In Österreich, den Niederlanden und Belgien konnten die Unterstützer des Präsidialsystems sogar mehr als 70 Prozent der Stimmen für sich verbuchen.
    (tj/kis/tsg)