Martin Zagatta: In der britischen Hauptstadt ist jetzt der britische Journalist Peter Bild am Telefon. Guten Tag, Herr Bild!
Peter Bild: Guten Tag!
Zagatta: Herr Bild, ominöse Umfragen von Hedgefonds erwähnt unser Korrespondent da gerade. Deutet das alles auf einen Verbleib der Briten in der EU hin, denn das sagen ja die Buchmacher auch?
Bild: Ja. Dass Hedgefonds ihre eigenen Umfragen, die gar nicht so teuer sind, dass sie dann private Umfragen haben wollen, damit sie damit spekulieren, das ist weder ominös und deutet weder in die eine noch in die andere Richtung. Es ist vielleicht ein Symptom von großer Neoliberalität in Großbritannien, eine übertriebene, aber sie ist wahrscheinlich auch nicht zu verhindern. Ich war schon wählen heute, etwa vor einer halben Stunde, und ich kann Ihnen sagen, die Atmosphäre ist sehr rege und die Wahlbeteiligung ist in meinem Kreis, in meinem Wahlkreis in Südlondon viel höher zur gleichen Zeit als zum Beispiel bei der letzten Wahl. Es haben sich inzwischen 40 Millionen - das ist ein Rekord - Menschen registriert und die Wahlbeteiligung, glaube ich, wird sehr, sehr hoch sein.
Zagatta: Ist das eine Abstimmung, die tatsächlich jeden Briten bewegt? Das kann ich aus Ihren Worten schließen.
Bild: Das scheint, so zu sein. Man wird mit großer Erleichterung nicht mehr diese Reden von den beiden Kampagnen, zum Teil auch Drohungen von beiden Seiten nicht mehr hören müssen. Aber trotzdem: Jüngere Leute haben anscheinend diesmal wirklich sich für eine Abstimmung interessiert, was nicht immer der Fall ist.
Abstimmung ist "eine Frage des Alters"
Zagatta: Bei Ihnen gehe ich mal davon aus, dass Sie für den Verbleib in der EU gestimmt haben. Sie waren ja auch lange Korrespondent in Deutschland. Kann man denn grundsätzlich sagen in Großbritannien, wer dafür ist und wer dagegen? Lässt sich das irgendwie einordnen?
Bild: Manchmal ja. Sie haben mich schon eingeordnet. Mit großen, großen Zweifeln wegen, sagen wir, vor allem der institutionellen Haltung von Brüssel habe ich für Remain, also Bleiben gestimmt, aber es war für mich nicht fifty-fifty, aber vielleicht 55:45. Es ist sehr schwer, Leute einzuordnen. Meistens ist das nicht eine Frage von Mittelklasse, die immer für Europa abstimmt. Es ist mehr eine Frage des Alters, dass die älteren Leute etwas mehr euroskeptisch sind, weil sie noch immer vielleicht diese verletzte Eitelkeit haben, wir sind wer oder wir waren schon wer und wollen es wieder sein. Great Britain, wir wollen wieder Great Britain sein. Ich halte das für sehr töricht, aber die Jungen sind viel eher für Europa, weil sie damit leben und herumreisen. Die sind ja diese EasyJet-Generation, was die Älteren nicht sind, und ich glaube, wenn es so ist, dass die Jungen diesmal viel mehr wählen als früher, dann werden wir wahrscheinlich schon drin bleiben.
Zagatta: Ist das eine grundsätzliche Einstellung jetzt zur EU, eine Generationsfrage, wie Sie uns das geschildert haben, oder gibt es ein Thema, das die Menschen jetzt bewegt, das jetzt vielleicht zum entscheidenden Thema wird?
Bild: Es gibt kein einzelnes Thema und es ist wirklich sehr schwer einzuordnen. Es gibt natürlich dieses Immigrationsthema, was eigentlich sehr töricht ist. Die Leute, die sagen, aha, wir werden überschwemmt und wir haben hier viel zu viele Ausländer, die schieben das irgendwie der EU in die Schuhe, und natürlich, mit Freizügigkeit kann man ja Leute nicht hindern, hier herzukommen.
Aber es kommen immer noch mehr aus dem alten Commonwealth oder aus den arabischen Ländern. Es kommen immer noch 180.000 jährlich netto nach Großbritannien und der Zufluss aus der EU ist netto etwa 150.000. Das ist natürlich sehr hoch und ich habe heute gehört, im letzten Jahr sind es wieder eine halbe Million Leute netto mehr gewesen in Großbritannien. Das ist schon wirklich sehr viel, ein ganz großer Zufluss, und das beeinflusst natürlich viele Leute, die sagen, ich habe keinen Platz für meine Kinder in der Schule, ich kann beim Arzt nicht am nächsten oder übernächsten Tag einen Termin bekommen, weil da nur lauter Ausländer sind, und das ist ein sehr großes, ein sehr wichtiges Thema.
Auf der anderen Seite die Wirtschaft, diese Drohung von beiden Seiten, vor allem, sagen wir, von George Osborne, von unserem Chanceller of the Exchequer, unserem Finanzminister, wenn wir jetzt rausgehen, dass die Wirtschaft kollabiert und dass dann plötzlich alle Ausgaben gekürzt werden müssen. Das glauben die wenigsten. Zum Beispiel die Drohung, dass es uns wirtschaftlich sehr, sehr schlecht gehen würde, wenn wir jetzt austreten, das glauben die wenigsten Leute. Da gibt es Umfragen, die zeigen, 19 Prozent nur glauben wirklich an diese Prognosen.
Cox-Mörder vermutlich "rechtsgerichteter Nationalist"
Zagatta: Herr Bild, wie schaut das heute aus? Glauben Sie, hat die Ermordung der Labour-Abgeordneten Jo Cox, hat das Einfluss noch auf das Abstimmungsergebnis? Wie sieht das heute aus?
Bild: Es ist wirklich sehr schwer zu sagen. Manche werden sich vielleicht überlegen, dass ein übertriebener Nationalismus dazu geführt hat. Man vermutet, dass ihr Mörder ein Nationalist, ein rechtsgerichteter Nationalist war. Es könnte sein, dass manche sagen, na ja, okay, so nationalistisch wollen wir nicht sein, vielleicht sollen wir uns doch ein bisschen europäischer verhalten. Aber das ist wirklich nur eine Vermutung und ich glaube, das wird keinen großen Einfluss auf das Ergebnis haben.
Zagatta: Wenn das alles so schwierig vorauszusagen ist, wenn die Briten da so gespalten sind, wie Sie uns das schildern, wieso haben sich dann die Medien, zumindest die meisten, wenn wir das hier recht sehen, so eindeutig positioniert und ihren Lesern den EU-Austritt empfohlen, und ja nicht nur die Boulevard-Medien? Gibt es dafür eine Erklärung?
Bild: Da muss man wirklich sagen, es ist ein differenziertes Bild. "Daily Mail" ist immer für Brexit, aber "Mail on Sunday", die Sonntagsausgabe mit einem anderen Redakteur, die sind für Remain, wir sollen dabei bleiben. Bei Murdoch zum Beispiel die "Sun" natürlich für Austritt, aber "The Times" nach langer Skepsis sagt nein, wir sollen bleiben. Es ist nicht so eindeutig und einseitig, wie man es eigentlich erwartet hätte. Wie groß der Einfluss von den verschiedenen Zeitungen ist, dieser Rat von den Zeitungen? Inzwischen sagt man, diese Editorials, die haben weniger Einfluss eigentlich als der Ton einer Zeitung, als irgendwie die Art, Schlagzeilen zu machen.
Zagatta: Der Tag der Entscheidung, die Briten stimmen heute endlich ab, ob sie weiter in der EU bleiben wollen oder nicht. Das waren Informationen und Einschätzungen unseres britischen Kollegen, des britischen Journalisten Peter Bild. Herr Bild, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Bild: Ich bitte Sie!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.