Wahlkampf in Istanbul. Noch eine Woche bis zum Referendum – und längst kein Ort, keine Tageszeit mehr, zu der man nicht daran erinnert würde. "Für eine starke Türkei – alle zusammen sagen wir Ja", dröhnt es aus den mit Erdogan-Plakaten vollgehängten Zelten am Bosporusufer. Frauen mit geblümten Kopftüchern stehen davor, verteilen Flyer, werben mit Süßigkeiten für ein "Evet", ein "Ja", am 16. April.
Auch die Zeitungstitel am Kiosk nebenan sind voll mit Bildern des Präsidenten – von Bussen, Leinwänden und Hochhäusern verspricht er Wirtschaftsaufschwung, Terrorbekämpfung und Stärke, immer wieder Stärke. "Wer traut sich bei all dieser Propaganda schon noch offen 'Nein' zu sagen?", schimpft Rentner Adnan, der trotz allem auf einem Wochenmarkt im säkular geprägten Viertel Kadiköy steht und Flyer mit der Aufschrift "Hayir", "Nein", verteilt. "Die Regierung versucht alles, um uns als Verbrecher hinzustellen. Überall verbreiten sie: Wer beim Referendum 'Nein' sagt, sei ein Terrorist oder gar ein Unterstützer des Putschversuchs vom letzten Sommer. Gegen dieses Image müssen wir anarbeiten."
Mediale Übermacht der AKP
Adnans Flyer sind bewusst fröhlich und farbenfroh. Kein finsteres Ein-Mann-System sondern eine bunte, vielfältige Gesellschaft brauche die Türkei, heißt es auch in den Kampagnen der großen Oppositionsparteien CHP und HDP. Doch sowohl in den Straßen als auch medial finden solche Stimmen kaum Gehör. Eine aktuelle Analyse der 17 größten türkischen Fernsehsender zeigt, dass Erdogan und der AKP im März zehn Mal so viel Sendezeit eingeräumt wurde wie der oppositionellen CHP: 470 gegen 45 Stunden!
"Wir haben keine Chance gegen diese mediale Übermacht", gesteht Kerem Avciergün von der Istanbuler Bürgerinitiative ArtiSen. Deren mehr als 10.000 freiwillige Mitglieder haben Massenmedien und großangelegte Kampagnen deshalb längst aufgegeben. "Sowieso weiß doch jeder, dass die beste Werbung die Mund-zu-Mund-Propaganda ist. Menschen hören am ehesten auf die, die ihnen nahe stehen. Denen sie vertrauen. Deswegen bilden wir Leute aus, die wie Satelliten in ihren Bekanntenkreisen wirken sollen."
Überzeugungsarbeit lässt sich trainieren
In zweistündigen Trainings überall im Land lernen Freiwillige bei ArtiSen, wie das am besten gelingt. Kerem Avciergün bittet in einen provisorischen Seminarraum im Uferviertel Besiktas. Knapp 20 Teilnehmer sitzen um einen großen Konferenztisch: Unistudenten, einstige Gezi-Aktivisten, Akademiker… Die typische Klientel des so genannten Nein-Lagers.
Trainerin Bade – eine selbstbewusste Marketingspezialistin im Businesskostüm – arbeitet wie alle ArtiSen-Mitglieder ehrenamtlich. "Ich glaube, dass das größte Problem unserer gespaltenen Gesellschaft ist, dass wir nicht mehr wirklich miteinander sprechen. Wir hören uns nicht mehr zu, argumentieren, ohne die Ängste der anderen Seite wahrzunehmen. Wer aber nicht zuhören kann, wird auch niemanden auf seine Seite bringen können."
In Rollenspielen sollen die Teilnehmer üben, wie sie den Schlachter an der Ecke, den eigenen Schwiegervater oder den Sitznachbarn im Bus zum Nachdenken anregen können, ohne überheblich zu wirken oder in die polarisierende Sprache der türkischen Politik zu verfallen. "Wenn ihr hingeht und sagt 'Wir sind besser, gebildeter, erfolgreicher als ihr, also hört auf uns', dann habt ihr schon verloren. Erste Regel ist: Wir sagen nie 'ihr' – im Sinne von 'ihr', die Erdogan-Anhänger – und 'wir' – im Sinne von 'wir', die Erdogan-Gegner. Es geht hier um uns alle. Das müssen wir betonen. Denn ein Hauptmotiv für viele Ja-Wähler ist ihr traditionelles Gefühl der Unterlegenheit, ihre Angst davor, dass jetzt wieder die Säkularen an die Macht kommen und sie unterdrücken. Um das zu verhindern, wählen die Leute Erdogan. Wer sich überheblich gibt, wird diesen Effekt nur noch verstärken!"
Argumente allein genügen nicht
Tarik, ein 50-jähriger Steuerberater, der direkt aus dem Büro zum Seminar gekommen ist, nickt zustimmend. Önce dinle!, erst Zuhören, schreibt er mit Ausrufezeichen auf seinen Notizblock. "Ich habe bisher immer nur Argumente gegen das Präsidialsystem aufgezählt, wenn ich jemanden überzeugen wollte. Jetzt ist mir klar, dass das nicht reicht."
Nach zwei Stunden intensiven Trainings geht Tarik motiviert nach Hause. In den verbleibenden sieben Tagen bis zum Referendum will er jeden Tag mindestens einen Menschen in seiner Umgebung zum Nein-Wählen bringen. Gleich morgen wird er mit seinem Assistenten sprechen, einem desillusionierten jungen Mann, der überhaupt nicht mehr wählen will. Gerade diese Menschen seien jetzt wichtig, so ArtiSen-Mitbegründer Kerem Avciergün zum Abschied.
"Unser größter Gegner bei diesem Referendum ist gar nicht das Ja-Lager. Es ist die allgemeine Überzeugung der Menschen, dass Erdogan sowieso gewinnen wird. Viele Leute bleiben deswegen zu Hause. Da müssen wir ansetzen. Eingefleischte Erdogan-Anhänger umzustimmen ist fast unmöglich. Aber wenn wir es nur schaffen, die Nichtwähler zu mobilisieren, dann können wir noch gewinnen."
Tatsächlich zeigt die allgegenwärtige Ja-Propaganda in den Straßen Istanbuls Wirkung: Acht von zehn Türken glauben, dass Erdogan am 16. April gewinnen wird. Und das, obwohl Umfragen auch zeigen: Eine Woche vor der historischen Entscheidung liegen die Gruppe der Befürworter und die der Gegner des Präsidialsystems in etwa gleich auf. Noch ist alles möglich.