Die EU-Kommission will mit ihrem neuen Asyl- und Migrationspaket einen Neuanlauf starten. Die fehlende Bereitschaft von Ländern wie Polen und Ungarn zur verpflichtenden Aufnahme von Migranten hatte zur Blockade in der Politik geführt.
Der Vorschlag sieht nun vor, dass auch andere Formen der Solidarität möglich werden sollen. Zum Beispiel könnten sich Polen und Ungarn um die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber kümmern. Die EU-Kommission besteht allerdings darauf, dass es eine verpflichtende Solidarität sein muss. Der Vorschlag sieht auch eine stärkere externe Dimension vor. Das bedeutet unter anderem mehr Zusammenarbeit mit Transit- und Herkunftsländern. Es soll darum gehen, die Lage der Migranten vor Ort zu verbessern, um die Fluchtursachen zu bekämpfen.
Der CSU-Abgeordnete im Europäischen Parlament Markus Ferber bewertet die neue Dynamik in den Verhandlungen positiv. Allerdings könnte durch die neuen Regelungen auch ein "zynisches Modell" entstehen, warnte Ferber. Man dürfe sich durch finanzielle Beteiligungen nicht einfach freikaufen dürfen.
Müller: Herr Ferber, kann jetzt etwas besser werden?
Ferber: Zunächst mal kommt eine neue Dynamik in die Verhandlungen. Wir haben ja Vorschläge der Juncker-Kommission gehabt, nach der großen Flüchtlingswelle 2015. Diese Vorschläge sind nie mit Leben erfüllt worden. Sie sind nie fertig geworden. Wir haben als Parlament unsere Stellungnahme abgegeben, der Rat hat im Prinzip bis heute keine. Und wenn diese neuen Vorschläge von Ursula von der Leyen und den zuständigen Kommissaren wieder neue Bewegung dazu bringt, dass man aufeinander zugeht, dann haben diese Vorschläge ihren Zweck schon erfüllt.
Müller: Das ist mehr als kosmetisches aufeinander Zugehen?
Ferber: Ja. Aufeinander zugehen heißt, sich am Ende zu einigen. Entschuldigung! Das ist natürlich das Ziel. Eine Gesetzgebung kann ja nur beschlossen werden, wenn es am Ende von den Mitgliedsstaaten und dem Europäischen Parlament eine Zustimmung gibt. Insofern war es notwendig, eine neue Dynamik in diese ganzen Verhandlungen zu bringen, und das macht man am besten, indem man alte Vorschläge, die nicht zur Einigung führen, zurückzieht und neue Vorschläge einbringt. Genau das hat jetzt Ursula von der Leyen gemacht.
Müller: Wenn wir das richtig verstanden haben – Sie haben das Ganze auch studiert -, gibt es nach wie vor oder soll es dann nach den neuen Vorschlägen keine Verpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen geben – mit Blick vor allem auf Ungarn und Polen. Ist das so?
Ferber: Ich habe die Vorschläge auch so verstanden. Ob das am Ende so beschlossen wird, ist ja noch eine andere Frage. Es gilt ja auch die Regel, die wir mal im Deutschen Bundestag gelernt haben: Kein Gesetzesvorschlag verlässt Parlament und Rat so, wie er von der Kommission eingebracht wurde. Wie gesagt, das ist jetzt der Vorschlag der Kommission. Darüber werden wir uns jetzt zu unterhalten haben.
Müller: Ist das nicht absurd? Wenn es keine Verpflichtung zur Aufnahme gibt, bleibt alles beim alten?
Ferber: Herr Müller, ich habe doch gerade gesagt, jetzt schauen wir uns das mal in Ruhe an und schauen, was ist mehrheitsfähig. Was interessant ist in dem Vorschlag ist, dass Solidarität weitergedacht wird als nur mit der Frage, wer nimmt Flüchtlinge auf. Aber man muss auch aufpassen: Dieser Vorschlag der Kommission hat natürlich auch einen gewissen Zynismus in sich. Gibt es einen Preis für Flüchtlinge, wie man sich freikaufen kann. Und das ist sicherlich ein Aspekt, der nicht akzeptabel ist.
"Aufpassen, dass nicht ein zynisches Modell entsteht"
Müller: Erklären Sie uns das bitte, Herr Ferber, was Sie da meinen. Wie kann man sich freikaufen?
Ferber: Nein, ich sage ja, im Kommissionsvorschlag gibt es die Möglichkeit, dass man sagen kann, ich nehme keine Flüchtlinge auf, aber dafür beteilige ich mich in anderer Art und Weise. Die Kommission sagt, bei der Rückführung. Das ist natürlich spannend, weil weder Ungarn noch Polen über die Netzwerke in den Herkunftsländern verfügen, um solche Möglichkeiten zu schaffen. Noch gibt es die Möglichkeit nicht, aber wir hatten schon im Zusammenhang mit den jetzigen Vorschlägen diese Diskussion, dass Solidarität auch anders erbracht werden kann als durch die Aufnahme, und da muss man aufpassen, dass nicht ein zynisches Modell entsteht. Nichts anderes habe ich gesagt.
Müller: Sie weisen darauf hin. Das ist diese verpflichtende Solidarität, die jetzt in diesen Vorschlägen zu finden ist, wenn wir das richtig verstanden haben. Keine Aufnahmeverpflichtung, haben Sie gerade ja auch gesagt. Wir reden jetzt über die Vorschläge, nicht über das, was jetzt kommt – ist ja klar.
Ferber: Ja, ja!
Müller: Aber dafür könnte sich Polen und Ungarn dann an der Abschiebung, an der Rückführung beteiligen. – Ich möchte das jetzt nicht polemisch formulieren, aber das heißt, da gibt es jetzt polnische, ungarische Gruppierungen, Truppen, die da vorbeikommen, beziehungsweise Beamte, und die helfen dann bei der Abschiebung. Ist das so gemeint?
Ferber: So habe ich die Vorschläge verstanden, dass das ein Teil der Solidarität ist, und ob das wirklich solidarisch ist, darüber werden wir uns jetzt in Ruhe zu unterhalten haben. Ich habe ja selbst darauf hingewiesen, dass ich da ein bisschen Angst habe, dass ein zynisches Modell entstehen kann.
Ferber: Deutsches Asylrecht ist nicht mehrheitsfähig
Müller: Und das zynische Modell bezieht sich vor allem darauf, dass es doch darum geht, möglichst viele Flüchtlinge wieder nachhause zu schicken?
Ferber: Nein! Zunächst mal müssen wir ja schon in Europa uns auch einen zweiten Schwerpunkt klarmachen. Kein Mitgliedsland kann verlangen, dass sein bisheriges System am Ende das europäische System wird. Und ich sage schon ganz offen: Wenn Sie sich die 27 nationalen Asylrechte anschauen, dann ist das deutsche Asylrecht sicherlich das am breitesten gefasste, ist aber nicht das mehrheitsfähige.
Auch das haben wir ja nach 2015 erlebt. Deswegen gehört natürlich zu dem Dreiklang einer vernünftigen und einer zukunftsorientierten Asylpolitik, dass man beim Eintritt genau schaut, besteht da wirklich ein Fluchtgrund, oder sind das andere Gründe, die motiviert haben, in die Europäische Union zu kommen, dass wir zweitens natürlich für eine ordentliche, menschenwürdige Unterbringung sorgen, solange das Verfahren läuft, und dass wir drittens die, die zu uns gekommen sind und wo objektiv kein Fluchtgrund vorliegt, auch wieder in ihre angestammte Heimat zurückführen. Nur in diesem Dreiklang wird ein Asylrecht in Europa funktionieren. Das ist das Kernelement aller Asylregelungen, die wir in den 27 Mitgliedsstaaten finden, und das ist auch richtig, dass das die Kommission in der Deutlichkeit noch mal zum Ausdruck gebracht hat.
Müller: Sie haben gerade gesagt, das deutsche System, relativ liberal, wie auch immer, ganz gleich, wo wir jetzt den Maßstab ansetzen, aber wir setzen ihn europäisch an, ist nicht mehrheitsfähig, polarisiert, spaltet teilweise noch mehr oder zieht die Gräben noch tiefer. Das heißt, in der Konsequenz, das europäisch zu vereinheitlichen, müsste das deutsche Asyl- und Flüchtlingsrecht restriktiver werden?
Ferber: Nein! Das deutsche Asylrecht, nur dass wir uns noch mal im Klaren sind, worüber ich da rede, das deutsche Asylrecht kennt ein Individualrecht. Das heißt, es muss individuell geprüft werden, unabhängig davon, wo jemand herkommt. Das heißt, auch ein Österreicher, der bei uns an die Grenze kommt und Asyl beantragt, muss individuell geprüft werden. Obwohl wir alle davon ausgehen, dass in Österreich wohl keine Verfolgung stattfindet, könnte es ja sein, dass es in diesem Einzelfall einen Verfolgungsgrund gibt. Das ist das Problem Nummer eins.
Und das Problem Nummer zwei, was natürlich die Väter und Mütter des Grundgesetzes sich nie vorstellen konnten, ist, man muss an die deutsche Grenze klopfen. Das deutsche Asylrecht geht davon aus, dass man auf irgendeinem Weg die deutsche Grenze erreicht, und auch das ist ein Thema, das natürlich mit einem europäischen Asylrecht nicht vereinbar ist, sondern das muss natürlich auf die europäische Grenze übertragen werden. Wer an die EU-Grenze anklopft, muss entsprechend geprüft werden. – Das sind die zwei ganz großen Unterschiede, die wir auch im Verhältnis zu allen anderen Ländern haben.
Ferber: Mehr legale Wege für Einwanderung schaffen
Ich will hier auch sagen: Die Kommission hat ja in ihrem Vorschlag auch Möglichkeiten geschaffen der legalen Einreise, um Menschen auch Perspektive zu geben. Das ist ja immer auch vermisst worden bei den Juncker-Vorschlägen, dass man keinen anderen legalen Weg schafft, um in die Europäische Union zu kommen. Ich denke, in diesem Zweiklang, auf der einen Seite ein klares Asylrecht für die, die wirklich verfolgt sind, denen Schutz gewährt werden muss, aber auf der anderen Seite auch die Möglichkeit der legalen Einreise in die Europäische Union, in den Arbeitsmarkt der Europäischen Union, das ist der andere Teil des Kommissionsvorschlages. Der sollte auch nicht vergessen werden.
Müller: Das war, Herr Ferber, ja auch eine deutsche Forderung. – Jetzt gehen wir noch einmal auf dieses Dublin-System zurück. Da waren viele jetzt überrascht, vielleicht Sie auch, dass das nicht revidiert werden soll. Sie haben das gerade ja noch einmal angesprochen, die Regelung, dass man an die Grenze klopfen muss, und dieser Staat, diese Nation muss dann dementsprechend reagieren. Dublin soll erhalten bleiben. Ist das kontraproduktiv?
Ferber: Ich gebe ganz offen zu, Herr Müller: Das hat mich auch überrascht, weil eigentlich das Dublin-Problem ja seit Jahren eklatant ist. Hier wird die Verantwortung an die Außengrenzen delegiert. Ein Land wie Deutschland kann sich da auch bequem einrichten und sagen, es klopft ja keiner an unsere Grenze, die sitzen ja in Griechenland, in Lampedusa, in Italien, die sitzen auf Malta und Zypern, sie versuchen, nach Spanien zu kommen – alles weit, weit weg von uns. Andere Länder haben sich ja auch so eingerichtet. Ich nenne mal die Tschechische Republik, die auch keine Außengrenze der EU hat. Die haben sich nie groß geäußert, weil sie gesagt haben, zu uns kommt am Ende gar keiner.
"Ich war selber überrascht, dass am Dublin-System festgehalten wird"
Müller: Aber dann ist das ja alles andere als solidarisch?
Ferber: Das ist genau das Problem. Nun sage ich ja, ich war selber überrascht, dass am Dublin-System festgehalten wird. Das muss sich jetzt in den Verhandlungen zeigen, ob das wirklich der Weisheit letzter Schluss ist. Ich habe da meine Zweifel. Es macht Sinn, dass man eine Vorprüfung an den Außengrenzen macht, aber dann muss bei denen, wo eine hohe Anerkennungswahrscheinlichkeit ist, schnell verteilt werden auf die gesamte Europäische Union, weil es gilt schon, 27 Schultern können mehr tragen als vier oder fünf Schultern.
Müller: Jetzt haben wir eben vielleicht gemeinsam auch die Kommentare aus den Tageszeitungen in unserer Presseschau hier im Deutschlandfunk gehört. Da haben einige Kommentatoren gesagt, das sind klare Zugeständnisse gegenüber den osteuropäischen Staaten, eingeknickt gegenüber den osteuropäischen Staaten sei die Kommission – so die Meinung der Kommentatoren. Ist da was dran?
Ferber: Das wage ich nicht zu bewerten und das sollten Sie dann die zwei Kommissare, Herrn Schinas und Frau Johansson, fragen, ob sie eingeknickt sind. Ich kann das so jetzt nicht rauslesen. Man kann natürlich immer alles boshaft der Kommission unterstellen, aber ich glaube, in den Gesprächen in den 27 Hauptstädten haben sie schon so einen Konsens, einen Grundkonsens gefunden, was machbar ist und was nicht machbar ist. Wir haben ja auch viele in Europa, die sich hinter Polen und Ungarn gerne versteckt haben, ohne sich selber geäußert zu haben. Das gehört zur Wahrheit auch mit dazu. Sonst hätten wir in der Flüchtlingssituation 2015 mehr als neun Staaten gehabt, die wirklich Flüchtlinge aufgenommen haben.
"Viele haben sich zurückgelehnt"
Müller: Von wem reden Sie jetzt? Wen meinen Sie jetzt? Die Niederlande, Skandinavien?
Ferber: Ja! Wir haben durchaus ein paar Mitgliedsstaaten – Sie haben jetzt mal zwei genannt -, die sich versteckt haben mit ihrer Kritik, weil sie gesagt haben, solange die so laut schreien und alles verhindern, muss ich mich nicht outen. Aber wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen ging, haben sie sich auch immer angenehm zurückgehalten. Auch jetzt, als es darum ging, solidarische Lösungen zu finden bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Schiffen, bei der Aufnahme jetzt von Moria, da haben ja nicht 27 sofort "hier!" geschrien und gesagt, jawohl, wir nehmen auch jemanden, sondern da haben sich viele, viele zurückgelehnt. Insofern würde ich es nicht nur auf zwei Länder konzentrieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.