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Reform der Pflegeversicherung
Gohde: "Das ist eine große Herausforderung"

In der Pflegeversicherung stehe Deutschland eine gewaltige Anstrengung bevor, sagte der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altershilfe, Jürgen Gohde, im DLF. Mit der geplanten Reform würden erhebliche Verbesserungen angestrebt. Ihre Wirkung lasse sich derzeit aber noch nicht abschätzen.

Jürgen Gohde im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Zwei Spaziergänger gehen am 13.01.2014 in Ostfildern bei Stuttgart (Baden-Württemberg) durch den Scharnhauser Park, einer von ihnen nutzt einen Rollator.
    Mit der Reform der Pflegeversicherung sollen künftig Leistungen und Betreuung verbessert werden. (picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)
    Heute stimmt der Bundestag über eine weitere Reform der Pflegeversicherung ab. Es geht vor allem um Leistungsverbesserungen und eine bessere Betreuung. "Das ist eine große Herausforderung", so Gohde. Zentrale Themen würden mit dieser Reform aufgegriffen und die Tendenz verstärke sich, dass die ambulante Versorgung verbessert werde.
    Die Reform, über die die Abgeordneten abstimmen, sei aber nur ein erster Schritt. Wolle man endgültig beurteilen, ob die Änderungen erfolgreich seien, müsse man den zweiten Schritt abwarten, sagte Gohe. Nämlich dann, wenn ein neuer Pflegebegriff eingeführt werde. Dabei geht es um die Frage, mit welchen körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen ein Mensch als pflegebedürftig gilt und Leistungen beziehen kann. Aus Sicht Gohdes gibt es dabei zurzeit noch eine erhebliche gesetzliche Ungleichbehandlung.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Seit Jahren sind sich alle, die etwas von der Sache verstehen, einig: Auf dem Feld der Pflege muss endlich etwas geschehen. Zu viele Menschen werden im Alter zu schlecht versorgt, zu viele Pflegende mit dem Problem allein gelassen.
    Das Jahr 2011, das hatte der damalige Gesundheitsminister Philipp Rösler deshalb zum "Jahr der Pflege" ausgerufen. Beobachter monieren aber, viel getan hat sich nichts, und das habe sich auch unter seinem Nachfolger Daniel Bahr nicht geändert. Das will die Große Koalition jetzt ändern. Der Bundestag entscheidet heute endgültig über die Pflegereform. Kernpunkte: Der Pflegebeitrag steigt, dafür werden auch die Leistungen erhöht. Außerdem sollen auch Demenzkranke in Zukunft besser versorgt werden. Doch dabei handelt es sich wohl nur um einen Schritt in die richtige Richtung.
    Am Telefon ist jetzt Jürgen Gohde, evangelischer Theologe, Vorstandsvorsitzender des Kuratoriums Deutsche Altershilfe. Er war viele Jahre lang Präsident des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche und auch Vorsitzender des Beirats zur Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Aus Protest gegen die Politik von Daniel Bahr hatte er damals sein Amt niedergelegt. Schönen guten Morgen, Herr Gohde!
    Jürgen Gohde: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: 3,6 Milliarden Euro mehr stehen in Zukunft für die Pflege bereit. Das hört sich nach einer schönen Summe an. Was bessert sich konkret?
    Gohde: Das ist eine gewaltige Anstrengung. Das kann man ganz offen sagen. Es passiert eine Dynamisierung der Leistungen, es passiert eine Flexibilisierung von Leistungen, und darüber hinaus ist es ganz deutlich, dass auch Leistungsansprüche verbessert werden.
    Dabei steht die Stabilisierung der häuslichen Pflege im Vordergrund, die Veränderungen im Bereich der Kurzzeit- und Verhinderungspflege, im Bereich der teilstationären Pflege und bei den allgemeinen Betreuungsleistungen.
    Es werden weitere Entlastungsleistungen eingeführt und eine Ausdehnung von zusätzlichen Betreuungsangeboten in stationären Pflegeeinrichtungen. Darüber hinaus: Die Finanzierung von Zuschüssen für die Wohnumfeldverbesserung ist vorgesehen und dann als Letztes ist die Absicherung der langfristigen Finanzierung der Pflegeversicherung durch den Vorsorgefonds zu nennen.
    Das sind zentrale Themen und wenn man sich diese Aspekte vor Augen führt, kann man sehen, dass eine Tendenz sich verstärkt, die die ambulante Versorgung besserstellt, und insoweit ist deutlich, dass wir an der weiteren Qualifizierung auch des stationären Bereichs arbeiten müssen.
    Das ist eine große Herausforderung angesichts dieses Gesetzes, denn die Reform heute ist ja angekündigt als der erste Schritt einer großen Reform.
    "Man braucht ein Gesamtkonzept für die Pflegereform"
    Heckmann: Und der Gesundheitsminister, Hermann Gröhe, der spricht von einem entscheidenden guten Schritt nach vorne. Hat er damit recht?
    Gohde: Wenn man das endgültig beurteilen will, muss man den zweiten Schritt abwarten. Der Minister hat angekündigt, dass im Jahr 2017 der neue Pflegebegriff kommen soll, und wenn dieser neue Pflegebegriff kommt, kann man sagen, ob die jetzt eingegangenen Verpflichtungen, ob die Schritte, die jetzt gegangen werden, tatsächlich zielführend sind.
    Man braucht ein Gesamtkonzept und die Reformen, die sich in kleinen Schritten nach vorne bewegen, haben immer die Tendenz, dass sich Entwicklungen herausstellen, die im Nachhinein neue Besitzstände gestalten und die dann Probleme bereiten für eine grundsätzliche Gestaltung. Es ist zu fragen, ob 2017 für den neuen Begriff dann genügend Geld vorhanden ist.
    Heckmann: Sie haben es angesprochen: Bis 2017 soll dann dieser neue Pflegebegriff umgesetzt werden. Weshalb ist das so wichtig? Was wird das ändern?
    Gohde: Das ist keine Frage von Rechtstechnik. Es ist ja viel für Menschen mit Demenz in den letzten Jahren gemacht worden: Im Pflegeneuausrichtungsgesetz, auch jetzt wird es wieder Leistungsverbesserungen geben. Der neue Begriff verändert die Perspektive. Er verändert insoweit auch die Situation von Menschen mit Einschränkungen ihrer Selbstständigkeit durch psychisch-kognitive Beeinträchtigungen, also das große Thema der demenziellen Erkrankungen, aber natürlich auch andere chronische Erkrankungen.
    Man darf das Ganze nicht auf die Frage der Demenz reduzieren. Es geht um eine inklusive teilhabeorientierte Pflege, und insoweit ist die Einführung dieses Begriffs Ausdruck der Tatsache, dass man eine Ungleichbehandlung im Pflegeversicherungsgesetz behebt. Das ist eine ganz zentrale Ungleichbehandlung, die vorhanden ist und die dazu führt, dass sich auch Leistungsansprüche in ungleicher Weise entwickeln.
    "Bei dem neuen Pflegebegriff wird die Perspektive verändert"
    Heckmann: Wer genau wird da ungleich behandelt?
    Gohde: Im Augenblick fokussiert sich die Pflegeversicherung auf die somatischen Beeinträchtigungen. Jetzt hat man kompensatorische Änderungen zugunsten von Menschen mit Demenz eingeführt, in einem durchaus inkrementalistischen Verfahren durch Addition von bestimmten Perspektiven. Das ist so ungefähr, wie wenn Sie einem Menschen, der eine Kurzsichtigkeit und eine Weitsichtigkeit hat, zwei Brillen aufsetzen. Es kommt darauf an, dass er im Idealfall natürlich mit einem geschliffenen Glas dann einen klaren Blick hat.
    Und bei dem neuen Pflegebegriff wird die Perspektive verändert. Das ist der entscheidende Punkt. Deswegen warten eigentlich seit 2006 alle auf diese Einführung des Begriffs. Das braucht Zeit. Es ist sehr zu begrüßen, dass das sehr ordentlich vorbereitet wird, wie das jetzt geschieht. Von den 18 Monaten haben wir damals auch schon gesprochen. Von daher muss man die endgültige Bewertung im Jahr 2017 vornehmen und man muss in diesem Zusammenhang dem Minister schon die notwendige Unterstützung geben, dass es gestaltet werden kann. Das ist das zentrale gesellschaftspolitische Ziel einer Reform.
    Heckmann: Herr Gohde, Faktum ist, dass Pflegekräfte in Deutschland relativ schlecht bezahlt werden. Der Gesundheitsminister Gröhe, der sagt, da muss sich was ändern. Derzeit gibt es einen Mindestlohn von acht Euro im Osten und neun Euro im Westen. Kann man damit Menschen motivieren, in der Pflege zu arbeiten?
    Gohde: Es ist eine neue Regulierung für den Mindestlohn zum 1.1. ja vorgesehen, die höher liegt, und es ist auch sehr deutlich, dass dieser Mindestlohn nicht die Regelvergütung für die Fachpflegekräfte ist. Es handelt sich um die Hilfskräfte in diesem Bereich. Und bei der neuen Regelung, die vom Januar an dann in Kraft tritt, sind auch zum Beispiel die Betreuungskräfte mit in die Regelung des Pflegemindestlohns einbezogen.
    Das ist ein richtiger Schritt. Aber die Dynamisierung der Leistungen, die die jetzige gesetzliche Regelung vorsieht, ist notwendig. Es passieren Verbesserungen durch diese Dynamisierung. Das ist sicher anzuerkennen. Aber man muss aufpassen wie gesagt, dass jetzt die Linien richtig gelegt werden und dass man nachher nicht Dinge zurücknehmen muss, die man jetzt völlig zu Recht eingeht.
    "Pflegeauszeit ist Schritt in richtige Richtung"
    Heckmann: Am Mittwoch hat das Kabinett die sogenannte Pflegeauszeit beschlossen. Angehörige können zehn Tage aus dem Job aussteigen, erhalten dann einen Großteil ihres Gehalts weitergezahlt.
    Außerdem gibt es einen Rechtsanspruch auf ein halbes Jahr Auszeit. Dafür gibt es keine Bezahlung, aber ein zinsloses Darlehen. Sind das ebenfalls Schritte in die richtige Richtung, oder auch nur ein Zwischenschritt in eine Entwicklung, die noch viel weiter gehen muss?
    Gohde: Die zehn Tage sind auf jeden Fall eine richtige Richtung. Das ist ja schon länger in der Diskussion, das war immer unter dem Finanzierungsvorbehalt. Die zehn Tage reichen natürlich nicht aufgrund der individuell sehr unterschiedlichen Situation von Pflegebedürftigkeiten. Wir haben selber einen Menschen mit Pflegebedarf in der Familie. Von daher: Ich weiß, welche Herausforderungen sich an dieser Stelle ergeben. Es reicht nicht.
    Das ist für viele auch nicht möglich, dieses halbe Jahr auf Kreditbasis zu finanzieren. Aber es ist ein Schritt, der in die richtige Richtung geht, und manches wird sich entwickeln. Ich bin ziemlich sicher, dass diese Regelung auch in Anspruch genommen wird.
    "Stärkung des Pflegeumfeld nicht nur mit Geld"
    Heckmann: Sie haben selbst einen Pflegefall in der Familie, sagen Sie gerade. Würden Sie sagen vor den Erfahrungen, die Sie gesammelt haben, dass Menschen, die einen Pflegefall in der Familie haben, zu sehr allein gelassen werden?
    Gohde: Menschen fühlen sich schon alleine und die Notwendigkeit, bei einer solchen Reform die Stärkung der Angehörigen, die Stärkung des Pflegeumfeldes zu sehen, das ist das zentrale Problem der nächsten Jahre. Wir haben die Notwendigkeit, über ein Gesamtkonzept - so haben wir das immer gesagt - quartierorientierter Pflege, also die lebensweltliche Verankerung des Pflegeprozesses in der Wirklichkeit der Menschen zu stärken, und das ist ein ganz wichtiger Punkt.
    Das geht nicht nur mit Geld, sondern dafür braucht man verlässliche Beratungsangebote und nicht nur finanzielle Anreize. Das zeigt sich zum Beispiel an einer Stelle sehr deutlich.
    Heckmann: Wir müssen an der Stelle leider einen Punkt machen, Herr Gohde. Wir rasen sozusagen auf die Nachrichten zu. - Jürgen Gohde war das, der Vorstandsvorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altershilfe. Ich danke Ihnen für das Gespräch.
    Gohde: Danke schön! Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.