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Reform der Sozialhilfe nach Vorbild der USA

Liminski: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen" - das Pauluswort im Brief an die Thessalonicher lässt sich im modernen Sozialstaat nicht so ohne weiteres umsetzen. Es gibt einen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt, und dieser Anspruch ist gesetzlich gesichert durch das Bundessozialhilfegesetz, eine Art Gesellschaftsvertrag aus dem Jahre 1962. Dieser und andere Ansprüche haben trotz steigendem Wohlstand dazu geführt, dass die Sozialleistungsquote in Deutschland in den letzten 30 Jahren stetig gestiegen ist und den Sozialstaat an den Rand der Erschöpfung - manche sagen sogar, des Zusammenbruchs - geführt hat. Hier setzt der hessische Ministerpräsident Roland Koch mit seinem neuen Vorschlag an, und darüber wollen wir uns jetzt unterhalten. Guten Morgen Herr Koch.

    Koch: Guten Morgen Herr Liminski.

    Liminski: Herr Koch, Ihr Satz 'Wer sich verweigert, sollte sich auf ein bescheidenes Leben einrichten' erinnert an die Schröder-Parole 'Es gibt kein Recht auf Faulheit'. Ist das nicht Fingerhakeln am Stammtisch? Worunter unterscheidet sich Ihr Donnerwort von dem des Kanzlers?

    Koch: Der erste und wichtige Unterschied ist: Der Bundeskanzler redet - und tut nichts. Ich habe einen Vorschlag gemacht, wie man das Problem angehen könnte, ohne gleich die ganze Bundesrepublik in ein neues Gewand zu stecken, indem ich sage: Lasst es uns ausprobieren - in einem Bundesland Hessen, für das ich Verantwortung trage -, wie die Erfahrung der Amerikaner, die inzwischen im gesamten amerikanischen Staat umgesetzt sind, auch in einem Bundesland unseres hessischen Schwesternstaates Wisconsin in den Vereinigten Staaten umgesetzt worden ist. In Wisconsin sind in den letzten 10 Jahren durch diese Reformen aus der vorherigen Zahl von Sozialhilfeempfängern 97 Prozent ausgeschieden und sind heute wieder in Arbeit und Beschäftigung - 97 Prozent! Ich habe einen sehr vorsichtigen Anspruch formuliert und gesagt, wir sollten die Hälfte der erwachsenen Sozialhilfeempfänger wieder in Arbeitsverhältnisse zurückbringen. Und ich denke, wenn man in Amerika solche Erfolge sieht, dann muss man sich das sehr genau anschauen; man darf nicht einfach achselzuckend und nur mit Stammtischsprüchen darüber hinweggehen.

    Liminski: Die Hälfte der Erwachsenen in den Arbeitsmarkt zurückbringen - wie wollen Sie das bei steigender Arbeitslosigkeit erreichen?

    Koch: Ja, wir haben ja ein sehr gespaltenes Phänomen nach wie vor in Deutschland. Wir haben auf der einen Seite eine Arbeitslosenzahl, die im Augenblick wieder steigt, und wir haben auf der anderen Seite sehr viele Unternehmen, die Arbeitskräfte suchen. Und wir haben in den letzten Jahren eine Politik in Deutschland gehabt, in der insbesondere einfache Arbeit immer mehr aus der Bundesrepublik heraus über die Grenzen in andere benachbarte Länder gegeben worden ist. Das Modell der Amerikaner, das ich für richtig halte, hat zwei Elemente. Das eine ist: Wer arbeitsfähig ist, muss vom Staat auch eine Arbeit angeboten bekommen. Das heißt, hier ist eine Vermittlungstätigkeit - vom ersten Arbeitsmarkt bis zu einer beschützenden Arbeitstätigkeit. Aber das zweite ist: Wer eine solche Arbeit angeboten bekommt, muss auch die dazu notwendigen Hilfen haben. Das ist die alleinerziehende Mutter, die ein verbindliches Angebot für Kinderbetreuung benötigt, das ist der, der weiter von einer Metropolstadt entfernt ist, der möglicherweise Unterstützung für die Fahrtkosten benötigt, und das ist der, der mehr Qualifikation haben könnte, wenn er in der Bildung besser mitgekommen wäre, der zusätzliche Bildungsangebote erhält. Das heißt, beide Elemente sind wichtig. Es geht nicht einfach darum, zu sagen: 'Du bist faul, nun arbeite', sondern es geht darum, zu sagen: 'Wir bieten als Staat alle nur denkbaren Hilfen, aber dafür erwarten wir auch, dass keiner sich zurücklehnt und sagt: 'Ich hab' einen Anspruch auf Geld' - und das war's dann.

    Liminski: Wenn der Staat diese Hilfe anbieten soll, könnte das doch zu einer Aufblähung des öffentlichen Dienstes führen?

    Koch: Es ist durchaus die amerikanische Erfahrung, dass die Betreuung der Menschen, die Arbeit suchen, jedenfalls am Anfang intensiver - auch personalintensiver - für den Staat ist. Deshalb ist ja diese Schwarz-Weiß-Diskussion - also diese 'amerikanischen Verhältnisse' - diese Ausbeuter; und hier sind wir guten Deutschen, die alle so sozial sind und sich um die Menschen kümmern - das hat ja mit der Realität wenig zu tun. Derjenige, der dort einen arbeitslosen Menschen betreut, hat für diesen Menschen mehr Zeit als die Mitarbeiter in unserer Arbeitsverwaltung und in den Sozialverwaltungen in Deutschland. Das heißt, der Staat muss in der Tat seine Fürsorgepflicht durchaus auch in Zukunft wahrnehmen, nur - was geändert werden muss, ist, dass heute es durchaus wiederum eine nennenswerte Zahl von Menschen gibt, die zum Staat - der Sozialhilfeinstitution - kommen und sagen: 'Ich habe einen Anspruch auf Geld. Gib's mir - und dann lass mich leben, wie ich mag'. Wir müssen dazu kommen, dass jeder sagt: 'Ich habe einen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben; was muss ich tun, um dafür staatliche Unterstützung zu erlangen?' Das ist die Veränderung, die wir erreichen müssen. Dazu sind viele Instrumente notwendig; dazu muss es eine andere Zusammenarbeit von Arbeitsverwaltung und Sozialverwaltung geben, dazu muss vielleicht Geld zwischen Kommunen, Land und Bund anders aufgeteilt werden. Und um genau das auszuprobieren, sage ich: Lasst uns nicht so lange theoretisch darüber reden. Machen wir das Gleiche wie in Amerika; die haben es auch nur geschafft, weil der Bundesstaat Wisconsin eine Chance hatte, zu experimentieren, sonst wäre man nicht so weit gekommen. Lasst uns ein wenig experimentieren in Deutschland, aber lasst uns aus der Phase des reinen Redens herauskommen.

    Liminski: Geht das denn ohne Druckmittel? Muss hier unter Umständen nicht auch der Gesetzgeber bemüht werden? Immerhin ist das Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz verankert.

    Koch: Das Sozialstaatsprinzip ist im Grundgesetz verankert, und das soll selbstverständlich so bleiben. Wir haben doch nicht die Absicht - wer auch immer in Deutschland darüber diskutiert -, irgend jemand hungernd auf die Straße zu stellen. Aber zwischen der Verwirklichung eines angemessenen Lebensunterhaltes und dem, was heute in der Addition der verschiedenen Möglichkeiten der sozialen Unterstützung in Deutschland gezahlt wird, gibt es einen erheblichen Unterschied. Und das - denke ich - darf der Staat auch deutlich machen. Die Gemeinschaft derer, die in diesem Staat das Geld erarbeiten, hat einen Anspruch darauf, dass sie im Sinne der Solidarität nur so weit in Anspruch genommen werden, wie Menschen tatsächlich dauerhaft nicht arbeiten können, wie sie anders keine Hilfe erlangen können - und alles andere hat jeder eigenverantwortlich für sich zu machen. Das gilt in Deutschland ein bisschen als anrüchig, dieser Satz. Aber eigentlich ist er eine banale Selbstverständlichkeit.

    Liminski: Wenn Fürsorge und Beratung verstärkt werden - wo sehen Sie dann den Spareffekt, denn es ist ja, wie Sie auch sagten, sehr personalintensiv?

    Koch: Ja, natürlich ist in der Summe, wenn Sie die Überlegung hätten, dass 50 Prozent der Sozialhilfe für Erwachsene dadurch entfallen können, ist selbstverständlich das, was volkswirtschaftlich für den Steuerzahler und den Staat und seine verschiedenen Ebenen dabei zurückbleibt, eine sehr, sehr gewaltige Summe. Soviel ist die Notwendigkeit im Bereich der zusätzlichen Unterstützung und Hilfe und möglicherweise des Personals, das dafür zu geben ist, ja nicht. Aber richtig ist auch: Es ist zunächst einmal eine Kraftanstrengung. Man hat nicht den Erfolg am ersten Tag, sondern den Aufwand ab ersten Tag. Aber das ist auch aus meiner Sicht legitim. Wir wollen ja nicht nur ein Problem unserer Haushaltsbilanzen lösen, sondern wir wollen auch ein Gerechtigkeitsproblem lösen. Es gibt in diesem Land inzwischen zu viele Menschen, die den Eindruck haben, dass sie mit ihrem eigenen Einkommen, das sie mit heftiger und zeitintensiver Arbeit erarbeiten, letzten Endes nicht besser stehen, als Menschen, die aus diesem Prozess des Arbeitens herausgegangen sind. Diesen Zustand zu beseitigen, ist nicht nur ein Haushaltsproblem, sondern es ist auch eine Frage, wie unsere Gesellschaft in Gerechtigkeit und Solidarität nach vorne kommt.

    Liminski: Wann werden Sie die Initiative im Bundesrat starten?

    Koch: Nun, wir haben uns einen sehr sorgfältigen Weg vorgenommen. Wie gesagt, ich war jetzt in den Vereinigten Staaten, ich hab' mir das auch selbst noch einmal angeschaut. Sie wissen möglicherweise, dass der Gouverneur aus Wisconsin inzwischen der Sozialminister der Vereinigten Staaten ist - mit dem Auftrag, eben solche Projekte weiterzuentwickeln. Mit ihm habe ich ausführlich gesprochen. Die Sozialministerin des Landes Hessen und der sozialpolitische Ausschuss des Landtages wird in den nächsten drei Wochen in Wisconsin sein; sie werden sich sehr ausführlich und sehr detailliert anschauen, was wir übernehmen können und was nicht. Wir tauschen Mitarbeiter zwischen den beiden Bundesstaaten dann anschließend aus, um die Erfahrungen zu machen. Und ich denke, dass wir dann in einer Größenordnung von zwei oder drei Monaten von heute, auch nach Diskussionen in Deutschland, eine solche Initiative in den Bundesrat einbringen, in der wir präzise sagen, für welche Gesetze - das wird sicherlich nicht nur das Bundessozialhilfegesetz sein, sondern zum Beispiel auch die gesetzlichen Regelungen, die die Bundesanstalt für Arbeit betreffen - wir eine Experimentierklausel brauchen; eine Experimentierklausel nicht auf ewig, sondern zeitlich begrenzt unter präzise definierten Zielen. Und dann werde ich mit den Kollegen in den anderen Bundesländern - aber im wesentlichen mit den Sozialdemokraten auf der nationalen Ebene - darüber zu reden haben, ob sie wollen, dass ein solches Experiment in Deutschland stattfindet oder nicht. Und dann werden wir sehen, was dabei passiert.

    Liminski: Das könnte also schon im Herbst der Fall sein?

    Koch: Nun, der Herbst beginnt ja - nicht nur bei der Witterung, die ich heute morgen beim Herausschauen aus dem Fenster sehe, sondern auch in der Realität - in überschaubarer Zeit. Aber sicherlich ist es eine Frage, bei der sich die Textfassung - und was wir denn brauchen - noch in diesem Jahr und nicht irgendwann mal später sehen.

    Liminski: Nochmal zum Modell selbst. Nun gibt es einen großen Unterschied zwischen Europäern und Amerikanern: Die US-Bürger sind sehr flexibler, was man schon daran sieht, dass sie dem Job nachziehen. Jeder Amerikaner zieht alle zwei Jahre um. Das ist bei Europäern eigentlich undenkbar. Hier muss der Job zum Wohnort kommen in der Regel. Was ist für Sie in diesem Sinne zumutbar?

    Koch: Also, bei aller Vorsicht - nicht jeder Amerikaner zieht alle zwei Jahre um. Die amerikanische Gesellschaft ist ganz zweifellos deutlich mobiler als die deutsche. Aber das betrifft, wenn man sich die Situation etwas genauer anschaut, häufig die Leistungsträger, diejenigen, die mit einer sehr, sehr guten Ausbildung und mit gutem Einkommen ausgestattet sind. Die bewegen sich sehr viel schneller, als das in der Bundesrepublik oder in Europa der Fall ist. Diejenigen, die soziale Schwierigkeiten haben, sind auch in Amerika diejenigen, die am wenigsten beweglich sind. Und das hat die Systemveränderung in den letzten 10 Jahren auch nicht verändert. Das heißt: Diese Formen von Arbeit, die wir dort suchen müssen, die wir definieren müssen, die liegen in den jeweiligen Regionen. Sie sind zu einem Teil auch Arbeiten, die im Bereich der öffentlichen Verwaltung und der öffentlichen Verantwortung stehen. Aber es gibt ja einen wichtigen Effekt: In dem Augenblick, in dem jeder weiß, dass ihm Arbeit angeboten wird, gibt es auch ein Stück mehr Bereitschaft, sich selbst um Arbeit zu kümmern. Das heißt, das System wird am Ende nicht dadurch besonders wirksam, dass jeder, der heute in unseren Statistiken steht, auch in Zukunft der Hilfe und Betreuung bedarf, sondern wenn das System glaubwürdig und funktionierend ist, dann werden wir uns auf die tatsächlich bedürftigen, unterstützungswürdigen - ob das Betreuung für die Familie, ob das Ausbildung, ob das Fahrtkostenhilfe ist - Fälle konzentrieren können. Und für diese Fälle kann man dann eine Lösung finden, die vom Wohnort aus in aller Regel erreichbar ist - nicht in jedem Falle, aber auch nicht jeder bekommt heute in Nordhessen einen Ausbildungsplatz, sondern viele müssen nach Südhessen ziehen. Nicht jeder bekommt an seinem angestammten Wohnort dauerhaft einen Arbeitsplatz, viele Menschen in Deutschland müssen auch umziehen. Das ist auch im Bereich der Sozialhilfe nicht völlig unzumutbar, aber es ist sicherlich nicht die Regel und wird auch nicht die Regel werden.

    Liminski: Herr Koch, da gibt es noch ein psychologisches Problem. Wenn jemand bereit ist zu arbeiten, aber sich nichts rechtes für ihn finden lässt und er weiter Sozialhilfe erhält, dann wird er in Ihrem System vielleicht ausgegrenzt und sich noch mehr als Versager fühlen. Was machen Sie mit diesen Menschen?

    Koch: Die Antwort der Kollegen in Amerika ist relativ einfach: Diesen Menschen so gibt es nicht. Der Staat wird am Ende im Zweifel ihm im zweiten und dritten Arbeitsmarkt - wenn es denn tatsächlich im ersten nicht möglich sein würde - konsequent eine Arbeit anbieten. Er wird etwas für diese Gesellschaft tun können, was dieser Gesellschaft hilft. Deshalb ist ja diese Konstruktion auch nicht nur eine, in der man auf der Basis von Veränderung von Zahlungsströmen kreativ sein muss und Veränderungen schaffen muss, sondern es ist auch eine Herausforderung für den Staat. Wer sagt, die amerikanischen Verhältnisse sind einfach mehr Druck, dann ist das nicht wahr. Richtig ist, dass am Ende die Vereinbarung sein muss, dass wir in dieser Gesellschaft gemeinsam unsere Zukunft erarbeiten müssen - im wahrsten Sinne des Wortes. Aber richtig bleibt auch, dass der Staat eine Verpflichtung hat, dem, der das aus eigener Kraft nicht schafft, dabei zu helfen. Es ist ein beidseitiger Vertrag, und nur dann wird er wirksam werden können.

    Liminski: Noch ein kurzes Wort zum Schluss, zum Einwanderungskonzept von Innenminister Schily. Es orientiert sich vor allem an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes. Können Sie damit leben?

    Koch: Das ist als vorrangiges Kriterium, wie er es gestellt hat, völlig falsch, weil es an einem Punkt - deshalb finde ich die Frage an dieser Stelle auch ganz richtig - genau kollidiert. Zunächst einmal kann es nicht sein, dass Arbeitsverwaltungen und Arbeitgeber sagen, es wäre für uns ganz gut, wenn da noch ein paar Zuwanderungen stattfinden, und alle anderen Probleme bleiben dann wieder bei der Gemeinschaft - von Schule, Kindergarten und anderes. Wir müssen erst schauen, was wir mit den Menschen in unserem eigenen Lande zusammen gemeinschaftlich wirklich erarbeiten können. Und dann kann es einige Situationen geben, bei denen auch Zuwanderung geeignet ist. Da muss man es aber abwägen zwischen den Fragen des Arbeitsmarktes, zwischen der Integration in unseren Städten und Gemeinden, zwischen dem, was der Staat bereit ist, aufzuwenden - auch dort wieder für Sprachunterricht, für Kindergarten und für viele andere Dinge, die damit zusammenhängen. Also nicht eindimensional den Arbeitsmarkt nach vorne hängen, aber das werden wir sehen, was von Herrn Schilys Vorschlag übrig bleibt. Es ist ja sein persönlicher Vorschlag bisher, Ich glaube, richtig diskutieren kann man erst, wenn man sieht, was Rot und Grün gemeinsam in Deutschland in der Lage sind, zustande zu bringen.

    Liminski: Die Reform des Sozialstaates. Das war der Ministerpräsident von Hessen, Roland Koch. Besten Dank für das Gespräch Herr Koch.

    Koch: Auf Wiederhören.

    Link: Interview als RealAudio