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Reformation 500
Luther auf Arabisch

Braucht der Islam eine Reformation? In Deutschland ist diese Frage en vogue, in der arabischen Welt aber sind die Thesen und ihre Folgen kaum bekannt. Mitri Raheb, Leiter eines Gemeindezentrums in Bethlehem, will das ändern. Er hofft auf Befreiung vom "Joch der Religion" durch das Nachdenken über Luther.

Von Martina Sabra |
    Blick auf die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem. Sie gilt als drittwichtigste Moschee des Islams.
    Die Al-Aksa-Moschee in Jerusalem (dpa / Peer Grimm )
    "Der Islam braucht so viele Luthers, wie es Muslime gibt", sagt Mouhanad Khorchide, Professor für Islamische Religionspädagogik.
    Martin Luthers Ideen haben im 16. Jahrhundert den Weg für eine Erneuerung der christlichen Kirche in Europa bereitet. Mit der Reformation gingen tiefgreifende historische Umwälzungen einher. Wenn heute von politischen Reformen in der arabischen Welt oder Reformen des Islams die Rede ist, dann fällt oft der Name Martin Luther. Welches Echo findet das Lutherjahr im Nahen Osten und im Dialog zwischen Christen und Muslimen?
    Christen sind im arabischen Nahen Osten heute eine Minderheit, sie stellen weniger als fünf Prozent der Bevölkerung. Von diesen wiederum ist nur ein Bruchteil protestantisch. Dort, wo das Christentum vor über 2.000 Jahren seinen Anfang nahm, in den heutigen palästinensischen Gebieten im Westjordanland, leben schätzungsweise 3.000 evangelische Christen. Sie gehören zur sogenannten "Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land".
    Es ist später Nachmittag in der Altstadt von Bethlehem. Die Geburtskirche, das religiöse Wahrzeichen der Stadt, liegt nur wenige hundert Meter entfernt. In einer schmalen Gasse mit gepflegten traditionellen Steinhäusern und historischem Kopfsteinpflaster befindet sich das Diyar-Kultur-Zentrum.
    Das "Diyar" ist nicht nur ein protestantisches Gemeindezentrum, sondern eine wichtige kulturelle Einrichtung für Christen UND Muslime in den palästinensischen Gebieten. Die Eingangstür steht offen, drinnen geht es lebhaft zu: die Vernissage einer Kunstausstellung. Das Publikum, christlich und muslimisch, betrachtet interessiert die farbenfrohen Gemälde: Landschaften, Stillleben und weibliche Akte.
    Lutheraner im Nahen Osten: Die Minderheit in der Minderheit
    Das Büro von Mitri Raheb, dem Leiter des Zentrums, befindet sich in der ersten Etage. In den Regalen stehen viele deutschsprachige Bücher: Mitri Raheb wurde im hessischen Marburg in evangelischer Theologie promoviert. Er hat mehrere Werke von Martin Luther direkt aus dem Deutschen ins Arabische übersetzt. Auch wenn Luthers Biografie viele Fragen aufwerfe: Über der Arbeit an den Texten habe er eine enge Beziehung zur historischen Figur Luther entwickelt, sagt Mitri Raheb:
    "Einige Gedanken sind sehr wichtig für mich, für mein Verständnis vom Leben überhaupt. Sein Leben war kein einfaches Leben, er hat ja viel verloren, er wurde viel bekämpft. Er blieb dran, hat nicht so schnell aufgegeben, manchmal fast sturhaft."
    Mitri Raheb zählt als Lutheraner zu einer Minderheit in der Minderheit. Die meisten Christen in Palästina und dem Nachbarland Jordanien, rund die Hälfte, sind griechisch-orthodox. Gut zehn Prozent sind katholisch. Der Protestantismus kam relativ spät in die Gegend. Anfang des 19. Jahrhunderts zogen christliche Missionare aus England, Deutschland und den USA in den Vorderen Orient. Im Windschatten der Kolonialmächte bauten sie zunächst Schulen, Universitäten und Krankenhäuser, später auch Kirchen. Die ersten deutschstämmigen Protestanten, die um 1840 ins damals noch osmanisch beherrschte Palästina gelangten, waren konservativ, fromm und arbeitsam. Bei ihrer Bekehrungsarbeit setzten sie auf die Sprache der Einheimischen, erklärt Mitri Raheb:
    "Was sehr wichtig ist, war, dass die lutherische Kirche eine der ersten Kirchen, die von Anfang an die Liturgie auf Arabisch gemacht haben. Also während die Katholiken noch auf Lateinisch alles gehabt haben, die Orthodoxen auf Griechisch, und so weiter. Und das Zweite: Die Lutheraner waren die ersten, die hier wirklich sowas wie eine Predigt eingeführt haben im Gottesdienst, das war auch nicht so Gang und Gäbe."
    Pfarrer Mitri Raheb aus Bethlehem bei der Predigt
    Mitri Raheb beim Gottesdienst in der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche von Bethlehem (imago/epd)
    1851 gründeten Missionare aus Baden-Württemberg in dem palästinensischen Städtchen Beit Jala die protestantische Schule Talitha Kumi, die heute unter anderem vom Berliner Missionswerk unterstützt wird. Die evangelischen Missionare konnten zwar nur wenige muslimische oder christlich-orthodoxe Palästinenser zur Konversion bewegen. Zu tief waren religiöse und soziale Identitäten miteinander verquickt. Doch die Lutheraner schufen mehr moderne Bildungseinrichtungen als alle anderen zusammen. In den protestantischen Schulen, Handwerksbetrieben und Kinderheimen kamen auch orthodoxe und katholische Christen sowie zahlreiche Muslime in Berührung mit lutherischem Gedankengut.
    "Viele der Führungskräfte Palästinas sind aus diesen Schulen hervorgegangen. Wir haben auch eine Universität hier in Bethlehem, eine lutherische, Dar-Al-Kalima-Universität, wir haben hier das Konferenz- und Kulturzentrum, also die lutherische Kirche ist hier sehr aktiv", sagt Mitri Raheb.
    Gott selbst hat die Nase voll von Religion
    Dennoch sind der historische Martin Luther und seine Wirkungsgeschichte in Palästina und der arabischen Welt immer noch wenig bekannt. Mitri Raheb trat schon früh an, das zu ändern. Im Jahr 2005 richtete er ein Internetportal ein: "Luther in Arabic", "Luther auf Arabisch". Auf der Webseite stehen arabische Übersetzungen von Luther-Texten, unter anderem das Buch "Von der Freiheit des Christenmenschen":
    "Mir war wichtig, einige der wichtigsten Luthertexte ins Arabische zu übersetzen, denn bislang hatten wir nur den Kleinen Katechismus von Luther ins Arabische, das wurde in den 1950er-Jahren mal übersetzt."
    Reicht es, die Übersetzungen einfach ins Netz zu stellen? Mitri Raheb schüttelt den Kopf: Man dürfe Luthers Werke nicht losgelöst lesen, müsse sie im historischen Kontext betrachten. Das betreffe Luthers hasserfüllte Attacken auf das Judentum und den Islam, aber auch seine Haltung zur Bibel. Mit der Forderung nach "sola scriptura", "nur die Bibel zählt", habe Luther nicht die Bibel über alles gesetzt, sondern er habe sich gegen die Bevormundung und materielle Ausbeutung der Gläubigen durch das katholisch-klerikale Establishment seiner Zeit gerichtet. Diesen historischen Zusammenhang müsse man immer wieder verdeutlichen. "
    "Wenn man nur 'sola scriptura' sagt und man hat diesen Kontext nicht im Begriff, das könnte natürlich in eine sehr evangelikales Verständnis der Schrift, was natürlich total gegen Luther wäre", sagt er.
    Neben der Forderung nach einem direkten Zugang der Gläubigen zu den Inhalten der Bibel - "sola scriptura" - steht Luther für das Prinzip der "sola gratia" - "nur durch Gnade". Damit meinte Luther, dass Christen nicht durch Ablass-Geldzahlungen von ihren Sünden erlöst würden, sondern nur durch die Gnade Gottes. Dieser Gnadenbegriff ist für Mitri Raheb zentral: in den innerchristlichen Debatten, aber auch im interreligiösen Dialog mit Muslimen und Juden.
    "Das religiöse Gesetz wird zum Teil den Menschen zu einem Joch. Die Befreiung von diesem Gesetz ist, denke ich, eine ganz wichtige Leistung Luthers. Weil ich denke, er hat in einem ähnlichen Kontext gelebt wie wir. Ich sage immer in diesem Kontext hier: 'Es gibt zu viel Religion. Es gibt so viel Religion, dass Gott selbst die Nase voll hat.' Meine Rolle als lutherischer Pfarrer hier besteht gerade nicht darin, dass die Leute hier mehr religiös werden, sondern vielleicht so: Etwas weniger religiös wäre mehr Glaube."
    Es gibt so viel Religion, dass Gott selbst die Nase voll hat - die Äußerung provoziert, macht nachdenklich. Mitri Raheb wünscht sich, dass die Beschäftigung mit Luther und seiner Zeit den christlich-islamischen Dialog, die konstruktive Auseinandersetzung zwischen Okzident und Orient inspiriert.
    Kaum rezipiert in der islamischen Theologie
    Luther könnte jedoch auch inspirierend für eine innerislamische Diskussion sein. Das zumindest glaubt Assem Hefny. Er stammt aus Ägypten und lehrt an der Universität Marburg. Als promovierter Germanist interessiert Hefny sich für Martin Luther als Erneuerer der deutschen Sprache. Doch in der arabisch-islamischen Welt werde Luther vor allem als ein konservativer Rebell gegen das religiöse Establishment gesehen.
    "Der Gedanke an sich, dass man Reformation braucht, ist interessant nicht nur für die Protestanten, sondern auch für Muslime, weil man sieht, dass die Niederlage im arabischen Raum, die kulturelle und geistige Niederlage, immer noch etwas mit dem Verständnis der Religion zu tun hat."
    An der Universität Münster in Westfalen lehrt der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide, ein österreichischer Staatsbürger mit palästinensischen Wurzeln. Khorchide gilt als prominenter Fürsprecher eines modernen, säkularen Islams. Er fordert eine Neuorientierung, basierend auf einer koranisch begründeten Ethik der Liebe, statt auf dem sklavischen Befolgen von willkürlich gesetzten Regeln. Das Lutherjahr, so seine Beobachtung, sei für arabische Christen bislang nur ein Randthema wie Martin Luther und die Reformation überhaupt.
    "In der arabischen Welt, natürlich von der christlichen Seite ist keine Frage, aber im islamischen Kontext spielt das ganze Lutherjahr nicht so die Rolle. Man muss auch dazu selbstkritisch sein, dass auch Luther selbst, seine Wirkung, kaum rezipiert wird, in der islamischen Theologie schon gar nicht", erklärt Khorchide.
    Nicht nur bei den islamisch-arabischen Theologen ist Luther kaum ein Thema, auch an den arabischsprachigen Universitäten werden Luther und die Reformationsgeschichte anscheinend wenig rezipiert. Anders in den arabischsprachigen Medien, hier sei das Interesse durchaus lebhaft, sagt Assem Hefny. Luther fungiere als eine historische Ikone, als Symbol für nutigen Widerstand gegen Korruption, moralischen Verfall und den Missbrauch der Religion für politische Zwecke.
    Er sagt: "Dass man an die miserable Lage erinnert, durch Mischung zwischen Religion und Politik, dass man auch das Scheitern des sogenannten Arabischen Frühlings mit dem Missverständnis der Religion verbindet. Man stellt sich auch die Frage: Wir brauchen endlich eine Art Reformation, wie kann das aussehen?"
    Die Forderung nach einer islamischen Reformation oder Aufklärung hält Assem Hefny wenig zielgerichtet, denn es gebe im Islam keine Kirche und kein Papsttum. In den arabischsprachigen Ländern gehe es heute nicht in erster Linie um eine Entmachtung der religiösen Institutionen, sondern um Demokratie, bürgerliche Freiheiten und um das Recht des Einzelnen auf religiöse Selbstbestimmung. Nirgendwo in der arabischsprachigen und muslimischen Welt ist der Staat heute weltanschaulich neutral. Zu keiner Religion zu gehören, ist im Nahen Osten nicht vorgesehen. Das hat ganz konkrete Folgen: In Ländern wie dem Libanon, Ägypten oder Palästina - ja selbst in Israel - kann man zum Beispiel nur heiraten, wenn man einer anerkannten Glaubensgemeinschaft angehört. Für Assem Hefny sind das vormoderne Strukturen, die nicht mehr in die heutige Zeit passen:
    "Man braucht eine Art Trennung zwischen religiösen Institutionen und staatlichen Institutionen. Das heißt, Religion ist wichtig für die Gesellschaft, aber nicht für die Politik an sich. Das heißt, man braucht eine Eigenart des Säkularismus, Reformation auf eigenem Boden. Dass man endlich dazu kommt, zu sagen, das Problem ist in unserer Hand, und die Lösung ist in uns, also die Lösung ist nicht in der Religion, oder im Jenseits, sondern die Lösung ist in uns Menschen."
    "Jeder Muslim sollte ein Luther sein"
    Freiheit und Selbstbestimmung - darauf baut Mouhanad Khorchide eine neue, zeitgenössische islamische Theologie. Er bezieht sich auf Suren im Koran, die die Beziehung zwischen Gott und Mensch als eine Beziehung der Liebe definieren. Der Mensch habe die Freiheit, diese Liebe anzunehmen oder auch nicht.
    "Wenn das Verhältnis zwischen Gott und Mensch ein Vertrauensverhältnis ist, so wie ich den Koran verstehe, dass er dem Menschen das Ruder in die Hand drückt und sagt: Jetzt bist du verantwortlich, dich selbst auch zu bestimmen. Aber es gibt ja Menschen, die im Islam eher eine Gesetzesreligion sehen, wo es um Macht geht, wo diese Menschen den Muslimen genau beschreiben wollen in jeder Lebenssituation, was zu tun ist."
    Mouhanad Khorchide kritisiert jene aktuellen islamischen Mainstream, der Gläubigen das Rasieren des Bartes, das Tragen von Seide, das Benutzen von Zahnbürsten oder Makeup verbieten wollen. Es sei absurd, Frauen mit dem Höllenfeuer zu drohen, weil sie sich die Nägel lackierten. Der Islam werde damit auf einen Katalog von Verboten reduziert.
    Khorchide führt aus: "Dann ist die Offenbarung keine Beziehung mehr, sondern nur eine Ansammlung an Instruktionen, so wie Gott verherrlicht werden will, da geht es nur um Gott, und nicht mehr um den Menschen. Das stört viele, weil die daraus ihre Macht legitimieren, indem sie sagen: Wir sprechen für die Muslime, wir erziehen die Muslime, was zu tun ist im Namen Gottes. Aber wenn ich ihnen sage, Moment, keiner darf im Namen Gottes sprechen, jeder Muslim soll selbst seine Religion verantworten, anders gesagt: Jeder Muslim sollte ein Luther sein, wir brauchen nicht einen Luther, sondern so viele Luthers wie es Muslime gibt, jeder sollte selbst sich mit dem Islam auseinandersetzen."
    Mouhanad Khorchide (l) und Ahmad Mansour vom "Muslimischen Forum Deutschland"
    Der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide (links) (picture alliance / dpa / Foto: Michael Kappeler)
    Mouhanad Khorchide hat im Frühjahr 2017 gemeinsam mit dem ägyptisch-deutschen Publizisten Hamed Abdel-Samad ein Buch veröffentlicht. Der provozierende Titel: "Ist der Islam noch zu retten?" Ihre Ideen haben die beiden Autoren in Form von 95 Thesen formuliert. Trotz dieser Anspielung: Khorchide möchte nicht als ein Luther des Islams bezeichnet werden. Solche Parallelen hätten einen gewissen Reiz für Redakteure, die nach Schlagzeilen suchten, aber sie seien aber wissenschaftlich nicht haltbar und unhistorisch:
    "Ich kann gut nachvollziehen, was gemeint ist. Ja, der Islam ist ins Stocken geraten. Aber die Forderung - sie brauchen einen islamischen Luther - ist eigentlich nicht reflektiert. Wenn man in die Details einsteigt und sich das genau anschaut: Luther mit seinem Konzept 'zurück zur Schrift', dann wäre das genau das, was unsere Salafisten, unsere Fundamentalisten verlangen, wenn sie sagen: Nur die Schrift gilt, zurück zur Schrift. Wo man sagt: Moment - ist es das, was wir wirklich brauchen?"
    Ein Glaube, basierend auf Furcht und Zittern
    Diese kritische Sicht auf Luther ist wissenschaftlich fundiert. Historiker zeichnen heute ein komplexeres, realistischeres Bild des Reformators als früher. Die Schattenseiten treten deutlicher zutage. Der Journalist Willi Winkler bezeichnet Luther in seiner Biografie aus dem Jahr 2016 als "konservativen Rebell", der sich zwar vehement gegen die Korruption in der katholischen Kirche auflehnte, ohne jedoch das damalige, auf Angst basierende christliche Glaubenssystem als Ganzes in Frage zu stellen:
    "Was Luther aber schließlich verlangte, war die Fortsetzung des masochistischen Glaubens an ein System von Strafe und gnadenhalber gewährter Linderung, nur bezahlt werden sollte dafür nicht mehr. (…) Furcht und Zittern blieben die Grundlage auch des geläuterten, vom bösen Geld gereinigten Christentums. (…) Seine eigene, Luthers Kirche hat gesiegt, der Ablass darf nicht mehr erhoben werden, jedenfalls nicht in Deutschland, der Reliquienkult ist auch vorbei, es gilt die reine Lehre, sola scriptura."
    Ein Glaube, basierend auf Furcht und Zittern - nicht gerade das, was man mit einer modernen Theologie verbinden würde. Mouhanad Khorchide kritisiert, dass manche Medien ein verzerrtes, ahistorisches Bild von Luther zeichnen und dies auf den Islam übertragen wollen.
    "Man überträgt ein bestimmtes Bild von Luther auf den Islam", sagt Khorchide. "Ob dieses Bild von Luther überhaupt innerchristlich so stimmt, das überlasse ich jetzt den christlichen Theologen und Historikern, das zu beurteilen."
    Auch der Lutherübersetzer und Pastor Mitri Raheb reagiert skeptisch auf die Frage, ob der Islam einen Martin Luther braucht:
    "Natürlich ist es gefährlich, wenn man denkt, die ganze Weltgeschichte müsse nach europäischem Muster laufen. Das ist ja das Problem, dieses Denken. Aber auf der anderen Seite: Ich glaube die islamische Welt braucht jemanden wie Luther, der Gott in Frage stellt, und zwar im Namen Gottes. Ich denke, dass die islamische Welt zum Teil damit ringt. Es geht um ein neues Verständnis der Religion, um einen Islam, der weggeht von den Gesetzen."
    "Hauptsache, man fängt an"
    Eignet sich Luthers Gnadenlehre als Inspiration für islamische Reformen? Mitri Raheb will das nicht ausschließen. Doch der Fokus auf Luther allein bringe nichts. Luther war in jeder Hinsicht ein Sohn seiner Zeit. Ohne den damaligen politischen Kontext, ohne die Renaissance, den aufstrebenden Buchdruck und die damit einhergehende beschleunigte Ausbreitung von Ideen hätte er nicht die Wirkung gehabt.
    "Er kam zum rechten Zeitpunkt", sagt Mitri Raheb. "Ich glaube im Moment, dieser rechte Zeitpunkt ist das, was wir in der arabischen Welt noch nicht haben. Die Politik muss mitmachen. Ohne Politik hätte Luther das nicht geschafft, er wäre einfach ein Mönch gewesen, der ganz tolle Gedanken hätte, aber hätte nicht diese Wirkung gehabt."
    Höchste Zeit also für eine tiefergehende und zugleich kritische Auseinandersetzung mit Luther und seinen Ideen in der arabischen Welt? Ja, meint auch Assem Hefny - besser spät als nie:
    "Man braucht mehr Beschäftigung mit Martin Luther, direkte Übersetzungen, dann könnte man ihn besser verstehen, weil immer vor allem durch andere Sprachen gibt es Verlust. Hauptsache, man fängt an. Und dieses Jahr erinnert auch daran, dass man daran arbeiten muss."