Christiane Florin: Wir beamen uns zurück ins 16. Jahrhundert: Das Papsttum ist dekadent, einsturzgefährdet wie der Kommunismus vor 1989, schreiben Sie, und seufzen: "Leider kam dann Luther." Leider Luther - was haben Sie gegen Luther?
Michael Lösch: Ich bin der vielleicht naiven Ansicht, dass Geschichte eine Geschichte des Fortschritts ist, nicht immer, aber damals auf jeden Fall. Damals gab es viele Signale in Grün, Luther hat auf Rot geschaltet.
Florin: Inwiefern?
Lösch: Er hat sich zu Recht erst einmal umgesehen, er hat sich das Papsttum angesehen und er hatte da allen Grund zur Kritik. Aber was ihn bis heute als geschichtliche Größe markiert, ist seine theologische Überzeugung, aus der heraus die neue Kirche entstanden ist. Damals war das mit dem Papsttum so weit gediehen, dass man sagen kann, es war ähnlich wie 1989 mit dem Kommunismus. Das Papsttum hat nicht mehr an sich geglaubt. Es ist immer mehr den Weg weltlicher Herrscher gegangen. Man muss auch politisch sehen, wohin das Papstum steuerte. Man denke zum Beispiel an Papst Julius II., der buchstäblich mit dem Schwert in der Hand seine Kriege geführt hat. Über dieses Verhalten hat der Vatikanstaat seine größte Ausdehnung gefunden. Das ist alles ein politisches, ein machtpolitisches Verhalten. Das hat nicht unbedingt etwas mit dem Christentum und schon ganz wenig dem Neuen Testament und noch weniger mit der Bergpredigt zu tun.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Florin: Was haben Sie nun gegen Luther, der ja an das Evangelium, an die Bergpredigt erinnert hat?
Lösch: Luther hat sich zu viel von dem herausgesucht, was ich nicht als zentralen Punkt erachte. Wenn er sagt: "Ich bin mit dem Schwert gekommen und ich will nicht den Frieden haben", dann entspricht das nicht den Kernaspekten des Neuen Testaments. Er hat ein Menschenbild, das unserem heutigen absolut zuwider läuft. Er sagt, dass der Mensch in seiner Willensfähigkeit ausgesprochen beschränkt ist. Gott hat ja alles vorgezeichnet. Du kannst nichts machen. Du muss vor allem eins – und das ist die Käseglocke des Mittelalters: Du musst glauben.
Florin: Er war ein Mann des Mittelalters und kein Mann der Neuzeit?
Lösch: Er war auf jeden Fall ein Mann des Mittelalters. Sehen Sie mal, was ihn dazu geführt hat, ins Kloster zu gehen. Er ist ein Unruhiger, er hat wahrscheinlich psychische Probleme. Er weiß die nicht anders in den Griff zu kriegen, als ins Kloster zu gehen.
Florin: Psychische Probleme sind Mittelalter?
Lösch: Durchaus. Wenn Sie das schon so beim Namen nennen: Ich denke, dass sich das persönliche Leid gerade unter dem Aspekt der persönlichen Unwichtigkeit im Mittelalter mehr manifestiert hat. Es gibt im Mittelalter ein tiefes Bewusstsein der eigenen Geringfügigkeit. Luther kam das zupass. Er hat das sehr wach aufgenommen und sich davon Rettung versprochen. "Wenn meine Geringfügigkeit so ist, wie ich das empfinde, dann kann mir nur Gott helfen."
Florin: Aber irgendetwas muss doch an diesem Martin Luther drangewesen sein. Was hatte er, was die anderen – nehmen wir Jan Hus – nicht hatten?
Lösch: Vor allem hatte er – ich nenne das "right place, right time" – Koordinaten, die wesentlich günstiger waren als die von John Wycliff und Jan Hus. Jan Hus war durchaus erfolgreich, Wycliff in Maßen auch. Aber es blieben reduzierte Figuren, was den Geschichtsverlauf betrifft. Luther hatte das Glück, dass er vor allem in diese neue Zeit hineingeboren wurde und sich einer Öffentlichkeit erfreuen konnte, die Wycliff und Hus so nicht hatten. Hus hat auf Tschechisch gepredigt, Wycliff hat wahrscheinlich auf Englisch gepredigt, er hat ja eine Bibelübersetzung gemacht. Aber es blieben beide insulare Phänomene, während Luther innerhalb von kurzer Zeit in Paris und London Gesprächsstoff war. Es ist also ein Diskurs gediehen, den es vorher so nicht hätte geben können. Warum? Weil wir keinen Buchdruck hatten. Der Buchdruck ist der Anfang des Reformationszeitalters und darüber lässt sich Luther überhaupt erst erklären. Wäre Luther vor 100 Jahren auf die Welt gekommen, wäre er sicher eine ebenso mehr oder minder bedeutende Persönlichkeit gewesen wie Wycliff oder Savanorola.
"Heute wird der Diskurs in den Hintergrund geschoben, während Volksredner Gehör bekommen"
Florin: Eine kühne These. Sie sagen: Es lag gar nicht so sehr an der Botschaft, sondern an der medialen Verbreitung, dass wir heute noch von Luther sprechen.
Lösch: Es lag auch an der katholischen Kirche. Die hatte sich mit ihrem weltlichen Gebahren, dermaßen aus dem Fenster gelehnt, dass wirklich alle dorthin guckten. Das war früher nicht in diesem Ausmaß. Hier nun gärte es an allen Ecken und Enden vor allem in Deutschland, auch politisch. Es gärte auch vonseiten der Fürsten, die theologisch gesehen eher geringe Interessen hatten. Es gärte allenthalben. Dass Luther nun dort sein Rot hinsetzt, sein Stopp ruft und sagt: "Ich kann mit dem Ablass nichts mehr anfangen, das geht so nicht, das ist Mumpitz, das ist Karneval", das stößt auf offene Ohren. Und im Übrigen: Friedrich der Weise hat den Ablass bei sich, in seinem Land verboten. Warum? Weil er wusste, dass das ein Politikum wird und dass hier mit Rom etwas falsch läuft. Es fehlt mehr und mehr die Subordination gegenüber dem Heiligen Stuhl. Der Papst wird mehr und mehr kritisch hinterfragt. Und wenn Jan Hus in Wittenberg mit seinen Thesen aufgetreten wäre, hätte er genau die gleiche Resonanz erhalten wie Luther. Davon bin ich fest überzeugt.
Florin: Ich lese aus Ihrem Buch eine gewisse Sympathie für Erasmus von Rotterdam heraus. Was hatte der, was Luther nicht hatte?
Lösch: Die Sympathie für Erasmus resultiert aus seiner Untätigkeit. Aus seiner Stubengelehrtheit. Aus seiner Turmhaftigkeit, in der denkt und sich äußert. Er will ein Gelehrter bleiben. Man bietet ihm den roten Kardinalshut an und er lächelt darüber. Er will nicht unbedingt, dass alle ihm folgen. Er sucht den Kontakt mit anderen gelehrten Kollegen. Ihm ist der Diskurs wichtig. Sehr modern für heute: Heute wird auch der Diskurs in den Hintergrund geschoben, während Volksredner immer mehr Gehör bekommen. Es gibt einen Populismus, dem sich Erasmus dank seines elitären Bewusstseins nicht anschließt. Erasmus sucht nichts außer die Abenteuer des Kopfes.
Florin: Luthers Judenhass ist in Ihrem Buch ein Thema, der von Erasmus nicht. Warum?
Lösch: Sie müssen sich vergegenwärtigen, in welchem Ausmaß der Judenhass bei Erasmus formuliert worden ist und wie ihn Luther formuliert. Da sind große Höhenunterschiede. Erasmus entspricht dem Zeitgeist, es gibt eine Denkfaulheit, sich mit dem Judentum auseinanderzusetzen. Vielleicht leigt es auch an einem gewissen Konkurrenzverhalten gegenüber dem Judentum. Ich denke, man ahnt auch, was das Judentum alles an Größe hat und denkt theologisch in einer Defensivposition. Man hat immer von Luther gesagt, er sei nicht ein Judenhasser, sondern ein Antijudaist. Erasmus war eher jemand, der die Juden theologisch abgelehnt hat, er hat sie als Fehlgläubige bezeichnet, während Luther Wege beschritten hat, die unter jeder Gürtellinie liegen. Seine ganzen Fäkalinjurien – warum sind die so geäußert worden? Weil sie auf offene Ohren gestoßen sind. Für diesen Populismus hat sich Erasmus nicht sonderlich interessiert.
Florin: Sie werfen Luther – jetzt schon in mehreren Antworten – seine Aggressivität vor. Ist Luther für Sie eine Art geistiger und geistlicher Feldherr?
Lösch: Ein Feldherr ist - man denke an den großen Feldherrn, der 60, 70 Jahren nach Luther auf den Plan tritt, an Wallenstein - ein sehr nüchterner, leidenschaftsloser Kalkulierer. Luther hat nicht kalkuliert. Er war zu sehr Fundamentalist. Er war ein – wenn man seine Schriften beim Wort nimmt – heiliger Krieger.
Unglaublich wütend gegenüber den Bauern
Florin: Wollte er den Religionskrieg? Oder nahm er diese Kriege zumindest in Kauf?
Lösch: Ich denke schon. Sonst hätte er sich nicht so unglaublich wütend gegenüber einem Bauernstand geäußert, der sich ausgesprochen devot nur an Luthers Thesen orientiert hat. Dass diese Bauern aus einer gewissen Not heraus aufmüpfig geworden sind, hat Luther sogar noch verstanden, aber als dann die Bauern die Obrigkeit nicht mehr als solche akzeptieren wollten, weil sie sich an Luther orientierend ein neues Recht erhofft hatten, hat Luther mit einer Gnadenlosigkeit gegen sie gesprochen: "Stecht sie nieder, wo immer ihr ihrer habhaft werdet." Das entspricht einem christlichen Theologen nicht.
Florin: Sie sind Pfarrerssohn. Ist es ein Akt der Emanzipation, wenn man Luther so scharf kritisert?
Lösch: Ich glaube nicht. Ich habe einen sehr protestantisch strengen, dogmatisch gläubigen Vater gehabt und ich habe mich daran gerieben. Ich habe mich davon schon sehr früh, wie ich glaube, emanzipiert. Mich haben diese theologischen Themen mehr und mehr interessiert. Das ist mir einfach ein vertrautes Milieu. Und es ist eine Kultur, die in unserer laizistischen Welt einfach viel zu wenig für voll genommen wird. Ich glaube, dass wir unglaublich viele christliche Determinanten in unserer Kultur haben. Vielleicht sogar die Hauptdeterminanten.
Florin: Welche Determinanten?
Lösch: Wenn Sie sich unser Grundgesetz ansehen, und ich halte das Grundgesetz sehr hoch, dann ist das auf jeden Fall neutestatmentarisch. Auch wenn die Väter des Grundgesetzes nicht alle religiös waren.
Wessen Herr, dessen Religion
Florin: Aber eine gewisse emanzipatorische Leistung müssten Sie doch Luther zugestehen. Denken Sie an die Gewissensfreiheit.
Lösch: Na gut, aber gerade die Gewissensfreiheit ist ja so eine Sache. Denn er sagt: Ein Christenmensch ist seinem Gewissen unterworfen, aber auch der Obrigkeit. Er hat da zu vieles vermengt. Er hat zum einen die Gewissensfreiheit für sich, in sich. Man könnte sagen: Er hat seine Kirche für jeden Einzelnen bauen wollen. Man hat seine Kirche auch im Schlafzimmer aufrichten können als Protestant, auf dem Klo, überall. Er hat dann aber in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, vor allem mit der Politik und der Gesellschaft, hat er die entsprechenden christlichen Ideen, die darauf hinauslaufen könnten, dass man sich um eine Selbstvergewisserung innerhalb eines sozialen Umfelds kümmert, die hat eher zurückgewiesen. Es ist vor allem eine Privatsache. Was ganz wesentlich ist: Stellen Sie sich mal vor, wir würden heute sagen: Wessen Herr, dessen Religion. Der Ministerpräsident von Bayern bestimmt, dass dort alle katholisch sind. Das war auch ein Substitut theologischer Überlegungen, ich weiß nicht, ob das heute noch so durchsetzbar wäre…
Florin: … Günther Beckstein, Seehofers Vorgänger, ist evangelisch. "Wenn Luther nicht gewesen wäre": Diese Was-Wäre-Wenn-Geschichtsschreibung ist in den angelsächsischen Ländern etabliert, in Deutschland nicht. Da ist das eher etwas für Journalisten. Worin liegen Reiz und Risiko dieser Herangehensweise?
Lösch: Ich habe mich gar nicht so sehr von den Angelsachsen inspirieren lassen. Ich habe einfach nur Lust an der Spekulation verspürt. Der habe ich mich dann anheim gegeben. Ich muss zugeben, dass ich über (Richard) Friedenthals Luther-Biografie immer mehr ins Grübeln gekommen bin. Friedenthal hat Luther mit großem Respekt behandelt. Es ist ein sehr ausgeglichenes Buch. Friedenthal ist Jude und hat sich mit der Judenfeindlichkeit Luthers nur marginal auseinander gesetzt. Er hat sich um eine faire Betrachtugnsweise bemüht. Ich habe mich gerade an dieser fairen Betrachtungsweise gerieben und habe mich gerade in der Debatte mit dem Lektorat bei dtv einfach zu diesem Titel entschlossen. Es hat enorme Lust bereitet, das auszuformulieren.
Florin: Wäre Luther nicht gewesen, dann, ... können Sie in einem Satz dieses "Dann" zusammenfassen?
Lösch: In einem Satz: Es hätte auf jeden Fall weniger Krieg gegeben.
"Ich halte von Revolutionen nichts"
Florin: Die Welt wäre besser ohne Luther?
Lösch: Es hätte weniger Gewalt gegeben. Natürlich hat es die Gewaltbereitschaft im Dreißigjährigen Krieg gegeben. Der Dreißigjährige Krieg ist nicht nur ein Glaubenskrieg, er ist auch ein politischer Krieg, ein Machtkrieg. Aber darüber hinaus: Das, was Öl ins Feuer gegossen hat, das war religiöse Überzeugung. Ich will es nicht Fanatismus nennen.
Florin: Was gibt es 2017 – 500 Jahre Reformation – zu feiern?
Lösch: Man sollte sich über die Reformation Gedanken machen. Die Evangelische Kirche täte gut daran, sich zu reformieren. Wenn man sich mit Luther Schrifttum aus heutiger Perspektive auseinandersetzt, bleibt nicht mehr viel, um das am Leben zu halten, was man "evangelisch", Augsburger Bekenntnis oder was auch immer nennt. Ich glaube, da wäre eine Reformation wichtig, und täte auch der Kirche gut. Demokratisch, über einen breiten Disput, langsam, über Reformen. Luther war ein Revolutionär. Ich halte von Revolutionen nichts.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Lösch: Wäre Luther nicht gewesen. Das Verhängnis der Reformation. dtv 2017. 240 Seiten, 14,90 Euro.