Ursula Mense: Die Themenwoche zur Reformation im Deutschlandfunk, bei der auch wir von der Wirtschaftsredaktion ab heute dabei sind.
Wie hat sich die Reformation auf die Wirtschaft und die Sozialpolitik unseres Landes ausgewirkt? Welche Spuren genau hat sie hinterlassen, wo wirkt sie nach im gesellschaftlichen Leben bis heute.
Wir beginnen mit dem Wirtschaftsmann Luther und seinem Einfluss auf den Sozialstaat.
Schon früh standen sozialstaatliche Entwicklungen bis hin zur Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung und darüber hinaus unter dem Einfluss der Religionen. Dabei wird dem Katholizismus immer der stärkste Einfluss auf den Sozialstaat nachgesagt.
Aber: Stimmt das eigentlich? Die Frage geht an Professor Hans-Richard Reuter, Sozialethiker an der Universität Münster.
Hans-Richard Reuter: Dieser Eindruck ist verbreitet, aber er stimmt so pauschal nicht. Und er rührt wahrscheinlich daher, dass der Katholizismus in seiner gesellschaftlichen Präsenz natürlich leichter zu erkennen ist: an einer straffen Kirchenorganisation, an einer lehramtlich ausgebildeten Soziallehre, zeitweise in der Weimarer Republik und im Kaiserreich sogar an einer politischen Partei.
Mense: Wenn Sie jetzt sagen, es gibt doch Grundideen Luthers, die bis heute prägend waren für den Sozialstaat, dann verschaffen Sie uns doch mal einen kurzen historischen Überblick. Wie sah es denn aus im 16. Jahrhundert mit der sozialen Verantwortung des Staates?
Reuter: Wenn man sich fragt, welche Grundideen Luthers haben sich ausgewirkt im Blick auf die gesamte Frage der sozialen Verantwortung, dann auch später des Staates, dann wird man mindestens drei Dinge nennen können. Erst mal: Luthers Grundgedanke und Grundeinsicht in die Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben bedeutet für den Menschen, für den Einzelnen eine Befreiung zum Dienst am Nächsten im Alltag.
"Die unwürdigen sind die, die faul sind"
Mense: Weil man sich um sich selbst nicht mehr zu kümmern braucht?
Reuter: Weil man um sein eigenes Seelenheil keine Sorge mehr haben muss. Deswegen darf man und soll man Sorge für den Nächsten praktizieren und ausüben. Und das soll man auch, wenn man in einem Amt ist, wie Luther gesagt hätte, in einem Amt der Obrigkeit, dass Sorge eben institutionell gesehen die Aufgabe hat, sich um die ihr anvertrauten, wie man damals sagte, Untertanen zu sorgen und zu kümmern.
Mense: War das denn in gewisser Weise revolutionär?
Reuter: Das war in gewisser Weise revolutionär in dem Sinne, dass die Armen in der katholischen Frömmigkeit zu Zeiten Luthers einen festen Platz im Heilsplan hatten. Die waren für den Heilserwerb zu etwas gut, um es jetzt mal platt zu sagen, nämlich diejenigen, die ihnen etwas geben konnten, erwirkten dadurch ihr Seelenheil und sie erwirkten zusätzlich, dass die Armen dann für sie beteten. Es war ein gewisses Geschäft auf Gegenseitigkeit. Das war ja sozusagen religiös überhöhte und motivierte Bettelei und dagegen hat Luther polemisiert bis zum geht nicht mehr und gesagt, den Bettel müssen wir abschaffen, der ist zu nichts gut, deswegen muss man dafür sorgen, dass es keine Armen gibt, dass sie Arbeit finden. Natürlich sollten die Armen dann auch arbeitswillig sein. Wenn sie arbeitsunwillig waren, dann hat Luther das als Diebstahl an der Gemeinheit bezeichnet. Da deutet sich im Protestantismus so etwas an wie eine Unterscheidung zwischen würdigen und unwürdigen Armen. Die würdigen sind die, die zur Arbeit bereit sind, die unwürdigen sind die, die faul sind.
Mense: Kann man denn dann sagen, dass sich diese protestantische Sichtweise so manifestiert hat, dass sie dann später bei der Reichsgründung und auch als Grundlage der bismarckschen Sozialgesetze mit eingegangen ist?
Reuter: Wir haben jetzt noch nicht darüber gesprochen, dass Luther appelliert hat an die Sozialverantwortung der Obrigkeit, wie er gesagt hätte, an die Wohlfahrtsverantwortung, modern gesprochen, des Staates. Das ist ein drittes Element, das noch hinzu kommt zu dem Dienst am Nächsten im Alltag und zur Abschaffung des Bettels, dass Luther appelliert an eine umfassende Wohlfahrtsverantwortung der Obrigkeit für ihre Untertanen. Und das ist ein Element, das im absolutistischen Fürstenstaat, der stark lutherisch geprägt war, des 17. Jahrhunderts ganz stark durchgezogen worden ist, ja eigentlich einseitig durchgezogen worden ist, in dem Sinne, dass man nun nur noch auf den Staat gesetzt hat.
Es kommt in der lutherischen Tradition ein anderes Element hinzu. Das würden wir heute vielleicht nennen das zivilgesellschaftliche Element, nämlich die Selbsttätigkeit von Verbänden, von Gemeinden, von Vereinen. Wenn man an jemand denkt wie August Hermann Franke und die Frankischen Anstalten in Halle, da kann man das wunderbar besichtigen, wie dort sozusagen im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsaufgabe eine Art zivilgesellschaftliche Sozialverantwortung aufgebaut worden ist. Und diese beiden Strömungen, also das Staatszentrierte und das zivilgesellschaftliche Partizipatorische, sind eigentlich dann in der Folgezeit bis ins 20. Jahrhundert hinein zwei ein Stück weit auch in Spannung zueinander stehende Strömungen, die im Protestantismus zusammenwirken, und mal ist die eine stärker und mal die andere.
"Es gibt ja immer nur eine Mitwirkung des religiösen Faktors"
Mense: Wo finden wir denn heute noch Spuren, die wirklich eindeutig auf diese Entwicklung zurückgehen?
Reuter: Es gibt ja immer nur eine Mitwirkung des religiösen Faktors. Aber ich würde sagen, dass die Sozialverantwortung des Staates als ein unverzichtbares Element eingeschärft worden ist im mitteleuropäischen Raum, speziell in Deutschland, ist schon ein eindeutiges Element des lutherischen Christentums. Insofern haben wir hier in Deutschland schon mit diesem Moment der unbestrittenen Sozialverpflichtung des Staates ein gewisses Element des Luthertums.
Mense: Heißt das auch, dass möglicherweise gerade die Konkurrenz, nenne ich das mal, zwischen Katholizismus und Protestantismus, dass wir immer so einen Mix hatten, dass sich das positiv ausgewirkt hat auf die Entwicklung bis heute?
Reuter: Das kann man sicherlich auch auf der Basis vergleichender Studien sagen. Ein anderes Element, was natürlich erkennbar ist, ist bis heute – das betrifft aber auch beide Konfessionen – der Aufbau des gesamten diakonisch-karitativen Bereichs, der ja nicht direkt sozialstaatlich ist, aber sozusagen in Kooperation und subsidiär zum Sozialstaat sich entfaltet hat und der im Protestantismus auf die vereinsförmige Ausbildung diakonischer Praktiken und Praxen und Arbeitsfelder im 19. Jahrhundert zurückgeht.
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