Ich sitze in meiner Schreibklausur und denke an einen Tag vor fast genau 499 Jahren. Da nimmt ein Augustinermönch in der Universitätsstadt Wittenberg – nein, nicht den Hammer in die Hand, sondern die Feder und schreibt einen Brief an seinen Bischof. Der Mönch datiert seinen Brief auf den 31. Oktober 1517 und legt 95 Thesen bei.
"Aus Liebe zur Wahrheit und in dem Verlangen, sie ans Licht zu bringen, soll in Wittenberg über diese Sätze disputiert werden, unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Paters Martinus Luther."
1968 und die Angst vor einem Klostersturm der Studenten
Ich bin dem ehrwürdigen Pater Martinus zum ersten Mal im Mai 1968 als katholischer Zögling im Internat eines Benediktinerklosters begegnet. Von den Feiern zum 450. Reformationsjubiläum im Oktober des Vorjahres hatte ich nichts mitbekommen und wusste nichts von Thesen, Teufeln, Tintenfässern. Aber im Mai 68 saß ich mit anderen Zehn- und Elfjährigen im Fernsehzimmer des Internats, erschrocken von den Schwarz-Weiß-Bildern der Straßenschlachten und angesteckt von der eigentümlichen Erregung der Patres, deren Erziehung wir anvertraut waren.
Einer von ihnen begann, von den Bauernkriegen zu erzählen. Er schilderte uns, wie die aufständischen Bauern die Kodizes aus der Klosterbibliothek geholt und damit die Löcher der Dorfstraße gestopft hätten. Der Pater mochte an die Fünfzig gewesen sein, mithin zehn Jahre jünger als ich heute bin. Aber damals kam er mir uralt vor, und seine Erzählung vom Klostersturm der Bauern war so anschaulich, dass ich überzeugt war, er hatte ihn noch selbst erlebt. Und ebenso wenig Zweifel hatte ich daran, dass seine Angst berechtigt war, diesmal würden nicht die Bauern, sondern die Studenten das Kloster verwüsten. Wieder würde man die Bücher aus der Klosterbibliothek reißen und die Weinfässer aus dem Klosterkeller rollen. Und wieder würde man die Nonnen – aber da schritt der leitende Pater Regens ein und schickte den aufgebrachten Erzieher aus dem Fernsehzimmer.
Was war nun mit den Nonnen? Statt darauf eine Antwort zu geben, begann Pater Regens von einem Augustinermönch zu erzählen, und davon, was Worte alles anrichten können, wenn man nicht vorsichtig mit ihnen ist. Er blieb allgemein, und natürlich zitierte er uns Buben nicht aus den 95 Thesen, die dem Benediktiner wohl selbst nicht geläufig waren. Wozu auch? Können handfeste Protestanten nur eine dieser Thesen richtig aufsagen? Wieso sollte sich dann ein katholischer Mönch damit belasten?
Luthers Leidensinbrust und hübsche Leichname
Im Kloster hielt man sich an die Benediktregel, zusammengefasst in dem bekannten Slogan: ora et labora, bete und arbeite! Und trage dein Kreuz, ließe sich hinzufügen. Luther hatte gegen das Beten und Arbeiten nichts einzuwenden, nur gegen das Beten ohne Arbeit, das im Bettelmönchtum seiner Zeit um sich griff. Der Christ soll tätig sein, sein Kreuz tragen und sich dieses Kreuzes stets bewusst bleiben.
"93ste These: Heil all den Propheten, die dem Volk Christi sagen: 'Kreuz, Kreuz', auch wenn vom Kreuz nichts zu spüren ist.
94. Man muss die Christen ermahnen, dass sie Christus, ihrem Haupt, durch Leiden, Tode und Höllen nachzufolgen trachten.
95. Und so mehr darauf vertrauen, durch viel Trübsal in den Himmel einzugehen, als durch die Sicherheit eines Scheinfriedens."
94. Man muss die Christen ermahnen, dass sie Christus, ihrem Haupt, durch Leiden, Tode und Höllen nachzufolgen trachten.
95. Und so mehr darauf vertrauen, durch viel Trübsal in den Himmel einzugehen, als durch die Sicherheit eines Scheinfriedens."
Ach, diese Verfallenheit ans Kreuz. Diese lutherische Leidensinbrunst. Diese Verachtung für den 'armen stinkenden Madensack', in den man mit seiner Seele gesperrt ist:
"Der Krug gehet so lange zum Wasser, bis er einmal zerbricht. Ich habe lange genug gelebt, Gott beschere mir ein selig Stündlein, darin der faule, unnütze Madensack unter die Erde komme zu seinem Volk und den Würmern zuteil werde."
Doch trotz der Würmer ist dem gläubigen Menschen die Auferstehung versprochen und bestimmt, mit Seele und Leib, und zwar so,...
"... dass alles Taube, Blinde, Lahme und was für Plagen am Leibe gewesen sind, aufhört, und ihre Leichname nicht allein fein, hübsch, gesund sein werden, sondern auch so hell und schön wie die Sonne leuchten werden."
Der Teufel als der Leibhaftige
So etwas nehmen wir heute nicht mehr ernst. Wir amüsieren uns darüber. Fein, hübsch und gesund! Wie kindlich. Allerdings will uns die Aussicht, die Erlösung bestehe in der 'ewigen Anbetung Gottes', auch nicht recht behagen. So körperlos vergeistigt möchten wir doch nicht ewig leben und schweben. Ein wenig irdische Bodenhaftung hätten wir schon ganz gern, damit wir uns im Himmel heimisch fühlen können. Zum Beispiel würden wir dort gern alte Freunde wiedertreffen – und alte Feinde lieber nicht.
Luther nimmt einen Schluck aus dem Bierkrug
Wer weiß: Hätten wir Gelegenheit, für einen Moment an Luthers Tisch Platz zu nehmen, würden wir ihm womöglich mit dummen Fragen genauso auf die Nerven gehen wie manche seiner Gäste. 'Sagen Sie, Doktor Martinus, wie ist es denn so im Himmel?' Er würde seufzend einen Schluck aus dem Bierkrug nehmen und uns Rede und Antwort stehen. Die Auskünfte würden uns wenig gefallen.
Die Bedingungen der 'Himmlischkeit', um es einmal so auszudrücken, wandeln sich mit den Epochen, wie sich alles um die Kernsätze einer Religion herum historisch wandelt, die 'Teuflischkeit' inbegriffen. Der Teufel als der Leibhaftige, der er für Luther im Wortsinn noch gewesen ist, gehört heute nicht mehr zum Vorstellungspersonal eines 'aufgeklärten' Christen. Satan hat sich zum Symbol verflüchtigt. Diesbezüglich steht Luther den letzten hauptamtlichen Exorzisten im heutigen Vatikan viel näher als den wissenschaftlich aufgeschlossenen Vertretern und Vertreterinnen der evangelischen Landeskirchen.
Kirche als 'Club Méditerranée' der Erlösung
Ähnlich ist es beim 'Totensonntag'. Vor ein paar Jahren hat mir ein evangelischer Pastor auf meine Erkundigung nach einer Veranstaltung zum 'Totensonntag' erklärt, das heiße nun 'Ewigkeitssonntag'. Man habe schließlich mehr zu bieten als Trübsinn und Grabesstimmung. 'Mehr zu bieten' - genau das war seine Ausdrucksweise. Als wäre seine Kirche eine Art 'Club Méditerranée' der Erlösung, mit exklusivem Wellnessbereich für Gläubige. Der Pastor war übrigens nett und hat es nur gut gemeint. 'Das sind die Schlimmsten', höre ich im Hintergrund Doktor Martinus knurren.
"Unser Herr und Meister Jesus Christus hat gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei."
Genießen der Selbstzerknirschung
Das ganze Leben! So steht es in den 95 Thesen, und zwar bereits in der allerersten. Als getaufter, obgleich kirchenferner Katholik kann ich mich einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren. Das habt ihr Protestanten nun davon: Buße ein Leben lang, während unsereins munter drauflos sündigt und hinterher zur Beichte läuft. Aber so einfach ist es dann doch nicht.
Auch beim Katholiken ist echte Reue die Bedingung der Vergebung - so wie echter Kopfschmerz zum Kater nach der Party gehört.
"Bisweilen muss man reichlicher trinken, spielen, scherzen und sogar irgendeine kleine Sünde tun aus Hass und Verachtung gegen den Teufel, damit wir ihm keine Gelegenheit lassen, uns wegen der allergeringsten Dinge ein schlechtes Gewissen zu machen."
Das Einbohren in die eigene Seele also, das Genießen der Selbstzerknirschung, wie es später calvinistische und pietistische Strömungen hervortrieben, war dem Lebenspraktiker Luther eher fremd, mochte er beim Predigen noch so rabiate Töne anschlagen:
"Aber vor Not hilft kein Scheuen, ich muss hinan, die elenden, verwirreten Gewissen zu unterrichten und frisch drein greifen."
Die Weiber mit Sanftmut statt mit Messern regieren
Und wie er 'drein griff', der Herr Doktor. Er stürmte das Treppchen zur Kanzel empor und legte los, zum Beispiel in der Predigt vom Ehestand:
"Wenn man den Weinstock will anbinden, der sonst an sich schwach ist wie ein Weib, dass er tragen und Frucht bringen soll, so nimmt der Weinmeister nicht dazu eine große, eiserne Wagenkette oder einen groben hanfenen Strick, sondern ein fein Strohbändelein, damit bindet er ihn an. Also soll man auch die Weiber regieren, nicht mit großen Knütteln, Flegeln oder ausgezogenen Messern, sondern mit freundlichen Worten, freundlichen Gebärden und mit aller Sanftmut, damit sie nicht schüchtern werden und erschrecken, dass sie hernach nicht wissen, was sie tun sollen."
Und an die Frauen gewandt:
"Also sollen auch die Weiber sich von ihren Männern fein mit Worten lenken und ziehen lassen, damit die großen und groben Schläge und Streiche verbleiben, wie denn die frommen, gehorsamen Weiber pflegen zu sagen: ungeschlagen ist am besten."
Luthers Lehre: "vom Standpunkt der Vernunft aus betrachtet recht bizarr"
Phänomenal, diese patriarchale Fürsorglichkeit beim Beherrschen. Kein Alltagschrist, ob evangelisch oder katholisch, ließe sich heutzutage vom Gemeindepfarrer dermaßen abkanzeln. Übrigens haben schon damals manche Leute gemurrt. Nicht nur gegen ihre kleinen Dorfprediger, wenn die es beim sonntäglichen Moralpredigen übertrieben, sondern auch gegen den großen Luther, wenn er in Kirchspielen weit weg von seinem engeren Wirkungskreis den Mund – oder das Maul, wie er lieber sagte – zu voll nahm.
Es ist zum Gemeinplatz geworden, dass man Luther 'aus seiner Zeit heraus' verstehen müsse. Warum eigentlich? Und vor allem: Was soll damit überhaupt gemeint sein? Vielleicht, dass Luthers Thesen und Theologie aus seiner Zeit heraus und in die unsrige hinein verstanden werden sollen? Allerdings bedeutet das für einen gläubigen Lutheraner etwas ganz anderes als beispielsweise für einen konfessionell nicht mehr gebundenen Sozialisations-Christen wie mich. Ich finde Luther historisch faszinierend, aber seine Lehre vom Standpunkt der Vernunft aus betrachtet recht bizarr.
Die Teufelshure Vernunft
Ich weiß, dass das für ihn kein Argument gewesen wäre. Propheten kann man nie mit Argumenten kommen. Und die Vernunft war für ihn in Glaubenssachen ohnehin eine Teufelshure oder einfach nur eine blöde "Hulda" – so beschimpfte er sie gern – die nicht begreift und auch gar nicht begreifen kann, worum es beim Glauben geht: eben gerade nicht ums Denken.
"Ach, was versteht die Vernunft davon? Sie kann es nicht ergründen, wie aus einem Tropfen Samen ein Mensch, aus einer Blüte eine Kirsche entsteht."
Mir gefällt das, obwohl mich zugleich die Vorstellung entzückt, meinen Doktor Martinus zu Klon-Schaf Dolly in den Stall zu schicken. Vermutlich würde er an das ganze genetische Zeug einfach nicht – glauben. Dem Domherrn Nikolaus Kopernikus hat er schließlich auch nicht geglaubt. Er hat ihn für einen Narren gehalten,...
"... der beweisen will, dass sich die Erde dreht und nicht der Himmel und die Sonne und der Mond. Das ist, wie wenn jemand, der in einem fahrenden Wagen oder Schiff sitzt, annehmen wollte, dass er unbeweglich sei und Erde und Bäume sich bewegten."
Auch das gefällt mir, gerade deshalb, weil es so alltagsvernünftig ist und dem Propheten die Hulda des gesunden Menschenverstands auf der Nase herumtanzt. Immerhin benimmt sie sich schriftgemäß. In der Bibel dreht sich alles um die Erde, und die Bibel hat bei Luther stets das letzte Wort. Solange der Glaube und die Schrift der Vernunft nicht einleuchten, tappt Hulda, die Vernunft, im Dunkeln:
"Die Vernunft ist vor Erlangung des Glaubens und der Erkenntnis Gottes in Finsternis, aber bei den Gläubigen ist sie eine sehr wichtige Hilfe. Denn wie alle Gaben und natürlichen Hilfsmittel bei den Gottlosen gottlos sind, so sind sie bei den Frommen heilsam."
Simple Tricks
Das ist ein simpler Trick, der aber gerade deshalb perfekt funktioniert, wie Agnostiker immer wieder feststellen, wenn sie versuchen, mit Gläubigen zu diskutieren – und zwar vom sogenannten 'Standpunkt der Vernunft' aus. Für den Gläubigen ist vernünftig, was zum Glauben passt - und alles, was dem widerspricht, ist der Beschränktheit menschlicher Einsicht geschuldet.
"Die Vernunft ist der Eitelkeit unterworfen, dem Narrenwerk. Aber der Glaube sondert das Wesen von der Eitelkeit."
Ich finde diesen Dreh beeindruckend, wenn er konsequent durchgehalten wird. Aber das ungläubige Bewundern des Glaubenseifers ist nur möglich, wenn sich der Ungläubige vor dem Eifern der Gläubigen nicht mehr zu fürchten braucht wie zu Luthers Zeiten.
Lasst ihn auf dem Denkmalsockel stehen!
Heute ist der große Mann auf den Denkmalsockel gebannt wie ein mittelalterlicher Säulenheiliger. Man muss ihn nicht herunterstürzen. Lasst ihn doch da oben stehen! In Wind und Wetter. Im Gedenken und Vergessen und im Wiederentdecken alle hundert oder fünfhundert Jahre.
Moderne Protestanten tun sich mit solch nonchalanter Gleichgültigkeit verständlicherweise schwer. Für sie ist Luther noch immer eine Autorität; oder antiautoritär ausgedrückt: eine Referenzgestalt. Man blickt zu ihm auf, auch wenn man ganz froh ist, dass er nicht von sich aus vom Sockel steigen kann.
Ich finde hochinteressant, was Luther zu seiner Zeit gesagt hat, und völlig irrelevant, was er in unserer Zeit zu sagen hätte. Seine Bibelübersetzung war für mich eine Offenbarung, aber eine rein literarische. Seine Predigten finde ich hinreißend, weil sie so wuchtig von oben herab kommen, nicht weil mich ihre Botschaft überzeugt. Seine Tischreden machen Vergnügen, nicht zuletzt deshalb, weil man sie hübsch bequem im eigenen Sessel lesen kann und nicht so gottserbärmlich in Bewunderung gebannt in seiner Stube hocken muss.
"Das Mittelalter im Herzen und die beginnende Neuzeit im Sinn"
Alles in allem: Luthers geistige und menschliche Statur ist überwältigend – und doch wäre Luther den Anforderungen unserer Gegenwart nicht gewachsen, es sei denn, er würde aufhören, Luther zu sein: ein Mensch mit dem Mittelalter im Herzen und die beginnende Neuzeit im Sinn. Aber eine Neuzeit, die aus seiner Sicht nicht lange dauern und das Ende aller Zeiten mit sich bringen sollte.
Aus unserer Sicht ist diese Neuzeit inzwischen selbst alt geworden. Sogar die Moderne ist so von vorgestern, dass wir ihr gestern schamhaft ein 'Post' anhängten, das heute wiederum überholt ist.
Gott starb schon viele Tode und stand in den Seelen der Menschen immer wieder auf – nicht jedes Mal zum Besten, wie wir heute erneut erleben. Der Glaube kann die Menschen zügeln, aber er kann auch dazu führen, dass sie die Zügel der Menschlichkeit abstreifen.
In Luthers Worten und Taten ist beides zu spüren: Er war ein Hassprediger und ein Versöhner. Er stachelte auf unverzeihliche Weise das Niedermetzeln der Bauern an und bewies Standhaftigkeit und Gemeinsinn beim Einfallen der Pest. Er konnte die Juden mit antisemitischer Häme überschütten, dass es einem heute eiskalt den Rücken hinunterläuft. Er konnte Gegner noch über deren Tod hinaus mit Worten verfolgen, und sich bei anderer Gelegenheit duldsam und nachsichtig zeigen. Er berief sich vor dem Kaiser in Worms auf sein Gewissen und wunderte sich, wenn die kleinen Leute in Wittenberg dem ihren folgen wollten statt den Anordnungen der Obrigkeit.
Der neuzeitliche Mensch ist breit gebaut, und Luther, der am Anfang dieser neuen Zeit stand, brachte in seinem Leben und Denken jede Menge Widersprüche unter. Kohärenz war nicht seine Stärke. In dieser Hinsicht hat er mit den Menschen 500 Jahre nach ihm mehr gemeinsam als mit den Menschen 50 Jahre vor ihm.