"Was hier los ist! Das ist unglaublich. Wenn man so denkt, was hier in den früheren Jahren los war, tote Hose. Und jetzt so viele Menschen hier, und das schon Anfang Januar."
Jörg Bielig kann es kaum glauben. Der Platz vor der Schlosskirche ist an diesem kalten Winternachmittag gut gefüllt. Besucher aus aller Herren Länder, die sich aufgemacht haben nach Wittenberg, ins "protestantische Rom". Für den Kustos des Wittenberger Schlosskirchenensembles ein ungewohnter Anblick.
"Ich hab schon 1983 hier erlebt den 500. Geburtstag Luthers. Natürlich kam der ein oder andere ausländische Gast, aber wenn wir überlegen, mit welchem Aufwand das verbunden war. Und jetzt in der offenen Gesellschaft, wo uns jeder besuchen kann, diese Internationalität der Stadt, die wir seit der Wende erleben, die ist enorm und das macht es, glaube ich, ganz besonders lebenswert hier."
Durchsaniert dank Luther
Auf dichtem Raum drängen sich in dem kleinen Städtchen an der Elbe die für die Reformation so bedeutsamen Orte: Schloss- und Stadtkirche, Luther- und Melanchthon-Haus. Gleich vier UNESCO-Welterbestätten in einer Straße. Wer heute durch dieses Wittenberg läuft, sieht eine aufwändig sanierte Stadt – dank jeder Menge Fördergelder. Martin Luther begegnet einem dabei auf Schritt und Tritt.
"Ich habe eine Weile in Amerika gelebt. Wenn ich erzählt habe, dass ich aus Wittenberg kam, in vielen Fällen haben die Leute dann gleich ihre Frage gestellt, ach das ist die Stadt mit Luther. Also für so eine kleine Stadt ist die Aufmerksamkeit doch sehr groß", erzählt Astrid Mühlmann.
"Chemiestadt" statt "Lutherstadt"?
Sie ist in einer Zeit in Wittenberg aufgewachsen, als die SED "die Lutherstadt" am liebsten in "Chemiestadt Wittenberg" umgewidmet hätte. Heute leitet sie die staatliche Geschäftsstelle "Luther 2017":
"Auch hier in Wittenberg ist immer noch die Sache, ja Reformationsjubiläum und Reformation, gut, das war Luther, aber ist ja doch viel Kirche, wird dann so gesagt, und ich bin ja gar nicht kirchlich. Also es gibt so ein bisschen eine Haltung, dass man sagt, das betrifft mich ja nicht ganz. Wenn die Menschen aber erst mal angefangen haben, diesen Punkt zu überschreiten, merken wir, dass ein großes Interesse da ist, dass jeder einen Aspekt für sich findet, der ihm wichtig ist. Die Frage, wie sollten Staat und Kirche zueinander stehen, das ist etwas, was die Wittenberger sehr stark beschäftigt, weil sie merken, welchen großen Einfluss Kirche und Religion auf ihre Stadt hat."
"Ein Großteil der Besucher kommt aus religiösen Motiven"
Ihr Großvater war evangelischer Pfarrer – und so hat Astrid Mühlmann etwas mehr Bindungen an Luther als andere Wittenberger: "Man kann Reformation und Luther nicht ohne Religion verstehen und erzählen. Ein Großteil der Besucher kommt aus religiösen Motiven. Das macht es auch für einen Wittenberger sehr spannend wahrzunehmen, ob man religiös ist oder nicht, weil auch die Art, die eigene Religiosität auszudrücken, sehr unterschiedlich ist in den einzelnen Ländern."
"Wenn ich mal jetzt von mir selber ausgehe: Wann geht man mal in die Kirche? Mal mit Besuchern. Vielleicht auch mal zu Weihnachten oder ja, gerade jetzt, wo die Schlosskirche neu saniert war, hat uns der Weg auch dorthin geführt", sagt Ruth Mengewein. Sie führt eine kleine Boutique in Wittenberg:
"Wir haben einen Unternehmerinnenstammtisch hier in Wittenberg, das war dann mal so ein Anziehungspunkt, wo wir gesagt haben, wir gucken uns jetzt mal die Kirche an. Aber, dass wir das so regelmäßig, kann ich jetzt von mir nicht sagen."
Stolz auf Luther
Unweit der Schlosskirche liegt der alte Laden der Firma Carl Traub. Tabak, Saatgut und Seilerwaren. Gerd Hoffmann führt das Familiengeschäft:
"Also wir erleben das ganz intensiv. Es kommen sehr viele Touristen, die vorher auch schon da waren, aber die jetzt noch bedeutend mehr kommen, sehr viel neugieriger sind, fragen: Wie empfinden wir das, was hat Luther vorher gemacht, wo hat er gepredigt? Und dann zeige ich denen immer noch einen Lutherbrief, was ich habe."
Gerd Hoffmann steigt auf einen Stuhl und nimmt einen Bilderrahmen mit einem vergilbten Faksimile von der Wand. Ein Brief von Luther an Spalatin aus dem Jahr 1539:
"Man ist stolz auf seine Stadt und man hört so viele Sachen, der eine sagt, naja, wenn alles nur auf Luther, wir haben ja außer Luther noch andere Persönlichkeiten. Aber wenn wir den Luther nicht hätten, würde so viel in Wittenberg nicht wiederhergestellt worden sein."
Luther ist überall
Es ist diese Ambivalenz, auf die man in Wittenberg immer wieder stößt. Luther ist überall. Auf der anderen Seite ist Wittenberg eine stark entkirchlichte Stadt, in der gerade noch jeder Fünfte zu einer christlichen Gemeinde zählt. Manchen sind die ganzen Feierlichkeiten schlichtweg egal, wie einem Antiquitätenhändler, der nicht ins Mikrofon sprechen will.
Er fragt: Was bleibt davon im Jahr 2018? Was verbinden die Leute denn wirklich mit der Reformation? Werden all die Hotels ihre Betten füllen? Mit viel Skepsis blickt der Mann zwischen seinen Antiquitäten auf das Jubiläumstreiben.
"Würde ich schon so sagen, dass es sehr viele gibt, die von Luther keine Ahnung haben und die das so vom Geistlichen her auch nicht so mitnehmen wird, denke ich...", sagt Johanna Beimler. Sie ist vor vielen Jahren zugezogen und leitet heute eine christliche Buchhandlung:
"...weil einfach die beiden Parteien, sage ich jetzt mal, sich nicht so treffen werden. Bis auf die Veranstaltungen, die von allen in der Stadt besucht werden, wir es keine Vermischung geben."