Am Hauptsitz der Evangelischen Kirche in Deutschland wehen die Luther-Fahnen. In dreifacher Ausführung blickt der Reformator auf Herrenhausen herab, einen Stadtteil von Hannover. "Luther 2017" steht groß auf den Fahnen - und etwas kleiner: "500 Jahre Reformation". Martin Luther ist das Gesicht der EKD-Kampagne zum Reformationsjubiläum. Der Mann, der die Bibel ins Deutsche übersetzt hat, der die Reformation ins Rollen brachte - und der Juden vertreiben wollte und Synagogen niederbrennen.
"Dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und das, was nicht verbrennen will, mit Erden überhäufe und beschütte, dass kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien."
So Luther in seiner Schrift "Von den Juden und ihren Lügen", erschienen drei Jahre vor seinem Tod. Nur wenige hundert Meter von den Luther-Fahnen der EKD entfernt befindet sich die Liberale Jüdische Gemeinde Hannover. Die Vorsitzende ist Ingrid Wettberg. Sie räumt ein: Erst seit dem Reformationsjubiläum ist ihr das Ausmaß von Luthers Judenhass bewusst.
"Also, das war ein Hass mit unflätigen Beschimpfungen und Vernichtungsphantasien. Zumindest mir war der Antisemitismus und der Antijudaismus von Luther in dem Maße, wie ich das heute weiß, nicht bekannt. Ich wusste, dass er den Juden nicht gut gesonnen war, wie mir mal jemand so sagte, aber im Fokus stand eben immer, was Luther alles Tolles gemacht hat."
Dass Luther ein Mann mit Licht und Schatten war, wird im Reformationsjahr immer wieder thematisiert. Etwa von der Reformationsbotschafterin Margot Käßmann. Sie sagte im Deutschlandfunk:
"Er ist mir fern natürlich in seinem Judenhass, das finde ich unerträglich, seine Schrift von 1543 lese ich äußerst ungern. Da war Luther auf einem absoluten Irrweg."
Ein Mann mit Licht und Schatten
1543 veröffentlichte Luther die Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Zwei Jahrzehnte früher klang das noch anders. Da erschien sein Text "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei". Darin zeigte Luther sich vergleichsweise tolerant. Juden sollten geduldet werden und Berufe ihrer Wahl ergreifen dürfen. Luther wollte damit erreichen, dass Juden zum Christentum konvertieren. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann schränkt allerdings ein:
"Luther war in keiner Phase seines Lebens ein Judenfreund. Was sich geändert hat, sind die strategischen Hinsichten, die strategischen Perspektiven im Umgang mit den Juden. Er ist nicht vom Philosemiten zum Antisemiten geworden. Das wäre eine Verzeichnung."
Luther hoffte, dass Juden massenhaft zum Christentum übertreten. Doch das blieb aus. Wohl aus Enttäuschung darüber nennt der Reformator Juden später verstockt, vom Teufel besessen, der Lüge verfallen, geldgierige Wucherer - obwohl Luther nur sehr wenige Juden persönlich getroffen hat, sagt Thomas Kaufmann. Luther attestierte Juden auch "verdorbenes Blut". Für Kaufmann eine Frühform des Antisemitismus:
"Die Vorstellung, dass Juden ein eigener Menschentypus sind, dem nicht zu trauen ist, der verschlagen ist, der alles darauf anlegt, Christen zu übervorteilen oder noch Schlimmeres. Das sind Vorstellungen, die auch bei Luther immer wieder anzutreffen sind und die ich nicht ohne weiteres auf eine biblische Grundlage zurückführen kann."
Luthers Hass auf Juden wird in der aktuellen Debatte von niemandem angezweifelt. Doch die Frage ist: Wie zentral für Luthers Lehre ist seine Judenfeindlichkeit? So wichtig wie seine 95 Thesen zum Ablasshandel oder seine vier Glaubenssätze "Allein durch Schrift, Glauben, Gnade und Christus"? Oder doch nur eine unschöne Randerscheinung? Nein, sagten Experten im Deutschlandfunk: Luthers Judenfeindlichkeit gehört zum Kern seiner Lehre. Etwa die Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg:
"Luther einerseits, der Übersetzer der Bibel, die helle Seite - andererseits der Judenfeind, die dunkle Seite. Ich glaube, es handelt sich hier um keine Opposition, sondern Luthers Judenfeindlichkeit, die sich insbesondere in seiner zweiten Lebenshälfte deutlich zeigt, ist die Kehrseite seiner Liebe zur Bibel, insbesondere seiner Liebe zum Alten Testament."
Der Historiker Heinz Schilling sieht es ähnlich:
"Das ist das Schlimme für 2017 und für die lutherische Kirche, dass dies genau die Wurzeln des positiven reformatorischen Impetus ausmacht, dass auch diese Absetzung, die Abgrenzung von Juden, dass dieses zu Luthers theologischem Ansatz gehört."
Gelb steht für Verblendung
Wie sollte die Kirche, wie sollte die Gesellschaft also umgehen mit Luthers Judenhass - gerade jetzt im Reformationsjahr? Ingrid Wettberg von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover erzählt von einer Aktion, die sie für vorbildlich hält:
"Die war jetzt gewesen am 9. November. Der 9. November - brauch ich nicht zu erklären."
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten Nationalsozialisten in Deutschland systematisch Synagogen nieder, verhafteten oder ermordeten Jüdinnen und Juden. Übrigens die Nacht zum Geburtstag von Martin Luther.
"Der 9. November - vor der Marktkirche in Hannover, das ist die markante, große evangelische Kirche in der Mitte von Hannover. Da steht davor ein großes Lutherdenkmal. Also Luther in Pose steht da in Stein gehauen."
Am 9. November 2016 rücken zwei Frauen dem übermenschlich-großen Luther zu Leibe: Hanna Kreisel-Liebermann, Pastorin der Marktkirche, und Ursula Rudnick, Kirchenbeauftragte für das Judentum.
"Die sind zusammen auf eine Leiter geklettert und haben Luther mit einem gelben Tuch die Augen verbunden, also dieser Luther-Statue, um symbolisch zu zeigen die Verblendetheit oder die Blindheit Luthers den Juden gegenüber."
Eine Aktion, die laut Wettberg Wirkung gezeigt hat:
"Da standen ganz viele Leute herum und mit denen habe ich auch gesprochen: 'Ach, war das wirklich so schlimm? Ja, war der so judenfeindlich? Ist mir gar nicht bekannt.' Viele Leute haben mir das gesagt und da sind solche Aktionen natürlich toll."
"Abkehr von der Gewalt im Namen Gottes"
Können Juden in Deutschland dem protestantischen Reformator heute etwas abgewinnen - trotz seiner Judenfeindschaft? Ja, sagte die
Schriftstellerin Julia Franck im Deutschlandfunk. Sie stammt aus einer jüdischen Familie und versteht sich als nicht-religiös:
"Wenn ich über Martin Luther nachdenke, überwiegen eindeutig die Lichtseiten. Diese ursprünglichen revolutionären Gedanken, Thesen, die er formuliert hat, die führten natürlich nicht unmittelbar zu einer Befriedung des mittleren Europas. Langfristig gesehen, glaube ich aber, dass darin tatsächlich eine Abkehr von der Gewalt im Namen Gottes stattgefunden hat."
Auch die Gleichberechtigung der Geschlechter geht für Julia Franck langfristig und indirekt auf die Reformation zurück. Ebenso die Achtung für Menschen unterschiedlicher Religion oder Herkunft. Die "Achtung des Menschen als Mensch", …
"… die tatsächlich zu der Möglichkeit nicht nur einer demokratischen, sondern auch einer säkularen, wenn auch abendländisch geprägten Welt geführt hat", sagt Julia Franck.
Wurzel deutscher Obrigkeitshörigkeit?
Die Reformation als eine Wurzel moderner Demokratien. Eine Perspektive, die auch von Protestanten gerne vertreten wird. Eine weitere Perspektive möchte Elisa Klapheck in die Debatte einbringen. Sie ist liberale Rabbinerin in Frankfurt und Professorin für jüdische Studien in Paderborn.
"Es ist völlig klar, dass heute bei einer Auseinandersetzung mit Luther darauf hingewiesen werden muss, dass Luther antijüdisch wurde, antisemitisch, und da gibt es auch nichts zu beschönigen. Gleichwohl finde ich eine zweite Diskussion möglicherweise interessanter und auch weiterführend, nämlich dass Luther ja auch sehr stark in seiner Theologie betont hat, dass die Menschen der politischen Obrigkeit Untertan sein müssen."
Luther gilt als ein Urheber des Herrschaftsdenkens und der Obrigkeitshörigkeit, die den Deutschen nachgesagt wird. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble etwa, bekennender Protestant, attestierte Luther ein "Plädoyer für den Obrigkeitsstaat". Elisa Klapheck erkennt darin einen wesentlichen Unterschied zum Judentum.
"Die jüdische Religion beginnt eigentlich mit dem Auszug aus Ägypten, dem Auszug aus der Sklaverei, dem Sklavenhaus des Pharaos. So steht es im Buch Exodus. Judentum ist also eine Art Befreiungstheologie und das reibt sich natürlich automatisch mit Vorstellungen, man muss sich also der politischen Obrigkeit unterwerfen."
Steht neben Luthers Judenhass also auch das Verhältnis zur Obrigkeit trennend zwischen Juden und Protestanten?
"Diese Diskussion würde ich gerne heute führen."
"Luther wollte den Deutschen das Hebräische nahebringen"
Teilweise wird sie bereits geführt, wenn auch weniger laut als die Diskussion über Luthers Antijudaismus. Der Historiker Heinz Schilling etwa verteidigte Luther im Deutschlandfunk gegen die Obrigkeitsvorwürfe:
"Dieses ist eine völlig fehlleitende Interpretation. Man braucht nur mal zu analysieren, was meint Obrigkeit bei Luther, was meint Obrigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, was verstehen wir heute unter Obrigkeitshörigkeit. Obrigkeit ist im 16. Jahrhundert schlicht und einfach dasjenige, was der sich herausbildende Staat ausmacht. Luther unterstützt damit die doch den Frieden herbeiführende Monopolisierung legaler Gewalt durch den Staat, das meint er mit Obrigkeit."
Luther sei allerdings oft falsch interpretiert worden, und zwar im Sinne der Herrschenden, so Schilling. Elisa Klapheck weist außerdem darauf hin, dass Luther - trotz seines Judenhasses - Anfang des 20. Jahrhunderts bei vielen Juden beliebt war. Zumindest seine Übersetzung des Alten Testaments. Sie seien begeistert gewesen von der Übersetzung aus dem Hebräischen ins Deutsche.
"Er wollte den damaligen Deutschen das Hebräische nahebringen. Die heilige Sprache, wie sie also ganz viel in jedem Wort transportiert, aussagt. Und hier ist ein Aspekt von Luther, der eben auch von Juden wie Franz Rosenzweig und anderen erkannt worden ist, an den man möglicherweise heute im jüdisch-christlichen Gespräch anknüpfen könnte."