Doris Simon: Man entgeht ihm kaum in diesen Tagen: Martin Luther, der Begründer der Evangelischen Kirche, heute vor 499 Jahren soll Luther seine berühmten 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Schlosskirche von Wittenberg geschlagen haben. Damit fing alles an, was schließlich in einer eigenständigen Evangelischen Kirche endete.
- Günther Beckstein ist evangelischer Christ, er war stellvertretender Vizepräses der Synode der Evangelischen Kirche und bayerischer Ministerpräsident. Guten Tag!
Günther Beckstein: Ein herzliches Grüß Gott!
Simon: Herr Beckstein, Sie haben ja bereits vor Jahren gefordert, Ihre Kirche müsse lutherischer werden. Jetzt gibt es eine neue Luther-Bibelübersetzung, Luther-Kochbücher, Luther-Playmobil-Männchen, ein Jahr mit Luther-Feierlichkeiten. Ist es das, was Ihre Kirche braucht?
Beckstein: Offen gestanden gibt es manche Äußerlichkeiten, die mich ein Stück weit nerven. Dass es ein Luther-Bier und Luther-Nudeln gibt, dass es Playmobil-Figuren gibt, das sind Äußerlichkeiten. Was mir gefällt ist in der Tat die neue Luther-Bibel, eine Bibel, die sich näher an die Übersetzung von Martin Luther anlehnt als die bisherige, auch mit größter Sensibilität vorgegangen ist. Und was mich auch wirklich beeindruckt ist, dass dieses Jubiläum dazu führt, dass in enger Abstimmung zwischen der Katholischen und Evangelischen Kirche jetzt ein solches Jubiläum begangen wird, nicht mehr wie früher, wo das in harter Gegnerschaft war, sondern jetzt, wo man gemeinsam ein Christusfest feiert. Das halte ich für einen großen Fortschritt.
Simon: Sie sprechen ja an, dass Papst Franziskus heute nach Lund in Schweden fährt zum Lutherischen Weltbund. Er hat sich bisher in Sachen Ökumene eher zurückgehalten. Glauben Sie, dass das Luther-Jahr den Beginn einer wunderbaren Freundschaft bedeuten könnte?
Beckstein: Es ist schon sehr, sehr viel auf den Weg gekommen. Die evangelischen und die katholischen Bischöfe waren gemeinsam im Heiligen Land. Es sind vielfältige Initiativen auf den Weg gebracht, um die Ökumene nach vorne zu bringen. In meiner Jugendzeit waren Katholiken und Evangelische oft wie Hund und Katz, heute ist es so, dass es eine ganz, ganz gute Zusammenarbeit gibt. Sicher: In der absoluten Spitze zwischen Papst und den Bischöfen der Evangelischen Kirche, da ist die Distanz etwas größer, aber der Begriff versöhnte Verschiedenheit trifft im Moment, meine ich, schon die richtige Lage und das ist auch wichtig.
Simon: Verschiedenheit. Trotzdem: Was, Herr Beckstein, ist denn für Sie heute evangelisch?
Beckstein: Martin Luther hat in Loslösung von Papst und der Katholischen Kirche sehr stark auf den Einzelnen gesetzt, auf das Gewissen des Einzelnen, das Laienpriestertum aller Gläubigen. Aber das war auch gleichzeitig die Entdeckung des individuellen Gewissens. Das hat sich dann weiterentwickelt durch Humanismus und Aufklärung dazu, dass das Individuum ganz stark in den Mittelpunkt gestellt wird. Das ist für mich auch der Beginn der Entwicklung der modernen Menschenrechte. Und das ist etwas, was heute noch zu spüren ist. Die Evangelischen sind weniger in Hierarchien und Autoritäten eingebunden. Man merkt das auch heute noch in der Gegenwart. Aber die individuelle Frömmigkeit und das individuelle Gewissen, das ist das, was den Protestantismus ausmacht.
Simon: Daran anschließend vielleicht ist die Evangelische Kirche ja insgesamt auch gesellschaftlich und damit zwangsläufig politisch stärker engagiert als die Katholische Kirche. Auch in Ihrem Sinne?
Beckstein: Insgesamt ja. Ich warne allerdings davor, dass die Kirche sich in tagespolitische Fragen einmischt.
Simon: Das sind doch auch gesellschaftliche Fragen.
Beckstein: Das ist schon richtig.
Simon: Zum Beispiel die Flüchtlingsbewegung.
Pfarrer ist nicht von vornherein der bessere Politiker
Beckstein: Ja. Bloß tagespolitische Fragen sind in aller Regel nicht die Fragen nach der letzten Wahrheit. Und da ist es oft so, dass unterschiedliche Auffassungen bestehen. Und der Pfarrer ist nicht von vornherein der bessere Politiker. Von daher meine ich, in solchen Fragen ist eine gewisse Zurückhaltung geboten, denn die Kirche ist natürlich in erster Linie für alle Christen da. Aber selbstverständlich ist die Kirche und ihre Äußerungen nicht allein aufs Jenseits zu beschränken, sondern es geht darum, wie ist Menschenwürde auch heute auszulegen. Selbstverständlich trifft das auch zum Beispiel die Flüchtlingsfrage, dass die Menschen, die hier sind, in ihrer Menschenwürde zu akzeptieren sind. Allerdings glaube ich nicht, dass es zwangsläufig ist, dass man die Problematik der Flüchtlinge nur in der Weise lösen kann, alle Flüchtenden nach Deutschland zu holen, zumal ich glaube, dass nicht die jungen Menschen, in aller Regel die jungen Männer, die in aller Regel kommen, diejenigen sind, die am meisten Schutz brauchen. Aber wir müssen uns um Menschen, diese geschundenen Menschen in Syrien und in anderen Teilen der Welt natürlich kümmern.
Simon: Was machen Sie eigentlich aus Vorwürfen, wie sie zum Beispiel der Theologe Thomas Kaufmann äußert, die Evangelische Kirche heute sei gefallsüchtig, ihm fehlten die ernsthaften Themen?
Beckstein: Das kann manchmal den Eindruck haben, aber ich glaube nicht, dass das richtig ist. Natürlich ist die Evangelische Kirche sehr viel näher an den Medien und an der Tagesaktualität als die Katholische Kirche, die eher in Jahrhunderten denkt. Trotzdem: Wer die Evangelische Kirche näher kennt weiß, wie viel Ernsthaftigkeit da ist, wie viel Suche nach der Wahrheit. Das was ich auch selber erlebt habe in der Zeit, wie ich an der Spitze der EKD war, dass ich Respekt gewonnen habe vor unterschiedlichen Frömmigkeitsformen. Nicht nur meine eigene Frömmigkeit, die aus dem Pietismus herauskommt, sondern auch die Frömmigkeit von Bildungsprotestanten. Das muss man einfach respektieren oder will ich respektieren. Jeder hat seinen eigenen Glauben. Und das ist etwas, worunter natürlich Evangelische Kirche manchmal auch schwer anzukämpfen hat, aber was insgesamt aus meiner Sicht ein ganz, ganz großer Vorzug ist. Wolfgang Huber hat das mal mit dem Ausdruck "evangelisch heißt Kirche der Freiheit" bezeichnet.
Simon: Sie sagten gerade, jeder hat seinen eigenen Glauben. Tatsächlich ist es ja in Deutschland so, dass immer mehr Menschen nicht glauben und erst recht auch nicht in die Kirche gehen. Wie verändert das aus Ihrer Sicht unsere Gesellschaft und auch unsere Politik, denn selbst viele CDU- und CSU-Politiker gehen nicht mehr in die Kirche?
Wir haben eine dramatische Entkirchlichung
Beckstein: Zunächst: Ich glaube, das ist in der Tat eine Entwicklung, die wir auch in den Kirchen noch viel ernster nehmen müssen. Allein in meiner Generation - ich habe mal nachgerechnet, wie ich mich auf eine Rede zum Reformationstag vorbereitet habe -, in meiner Generation 1942: Wie ich das erste Mal in den Kirchenvorstand gekommen bin, sind über zehn Millionen aus der Evangelischen Kirche ausgetreten, aus der Katholischen Kirche ähnlich. Das bedeutet schon, dass wir hier eine dramatische Entkirchlichung haben. Und da muss man einerseits sehen: Sind das Punkte, wo die Kirche selber Mitschuld hat, dass sie sich zu wenig um die eigentlichen Glaubensfragen, zu wenig um den Menschen kümmert. Oder hat das damit zu tun, dass insgesamt die Frage, wie gewinne ich einen gnädigen Gott, die Luther so umgetrieben hat, heute vielen Menschen nicht mehr so ganz aktuell ist. Wobei ich allerdings sage, wer nicht an Gott glaubt, wird ja in aller Regel doch an alles Mögliche glauben. Darum meine ich schon, dass man diese Frage sehr ernst angehen muss. Insgesamt bedauere ich, wenn Volkskirche nicht mehr in der Zukunft steht, denn nach meiner Erfahrung ist Volkskirche auch etwas, was für das Gemeinwesen sehr, sehr gut ist, viel mehr Ehrenamtliche, viel mehr Sorge um andere Menschen, als wenn jeder nur für sich allein dahinlebt.
Simon: Herr Beckstein, Sie sprechen von der Entkirchlichung. Muss man in der Kirche sein, um christlich zu handeln?
Beckstein: Nein. Nach evangelischem Verständnis ist es selbstverständlich, dass man nicht ablesen kann, jemand ist ein guter Christ, wenn er jeden Sonntag in die Kirche geht. Und wenn er das nicht tut, dann ist er kein Christ. Aber auf der anderen Seite: Die Gefahr ist schon, wenn man nicht in eine Gemeinschaft hineingeht, wenn man nicht eine Gemeinde hat, der man angehört, dass man sich letztlich ein Stück entfremdet. Deswegen ist Teilnehmen am Gemeindeleben etwas, was in aller Regel das Glaubensleben auffrischt. Aber es ist nicht heilsnotwendig.
Simon: Herr Beckstein, schauen wir zusammen noch mal auf denjenigen, dem wir dieses Gespräch verdanken: Martin Luther. Im Zuge des verschärften Hinschauens der vielen Publikationen werden ja auch sehr viele hässliche Seiten der Person Luther offenbar, die den Experten bekannt waren, aber nicht so sehr der breiten Öffentlichkeit: sein Hass auf Juden, seine Verachtung für die Bauern, die sich gegen ihr elendes Schicksal gewendet haben, Luthers Obrigkeitshörigkeit. Ist das die Kehrseite der Luther-Verehrung, die gerade betrieben wird?
Beckstein: Luther hat selber sich dagegen gewendet, dass wir nicht Heilige brauchen als Mittler zu Gott. Und deswegen passt es auch ganz gut, dass Luther nicht selber quasi ein Heiliger ist, sondern er ist ein großartiger Mensch gewesen, aber natürlich mit auch vielen zum großen Teil zeitbedingten Fehlern. Jeder von uns weiß, dass eigentlich jeder Mensch auch eine negative Kehrseite hat. Und das ist auch bei Luther der Fall. Ich finde, das passt gut zu einem Mann, der sich ganz bewusst gegen den Heiligenkult gestellt hat. Aber selbstverständlich müssen wir als evangelische Christen auch diese Seite von Luther aufarbeiten.
Simon: Günther Beckstein, evangelischer Christ, ehemaliger Vizepräses der Synode der Evangelischen Kirche und bayerischer Ministerpräsident. Herr Beckstein, vielen Dank für das Gespräch.
Beckstein: Bitte schön!
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