"Bei uns ist immer Tag der offenen Tür. Es gibt zwei Zugänge zu dem Areal, und die sind immer offen für die Fußgänger. Wir Erfurter nutzen das als Abkürzung. Zur Zeit der Mönche sah das natürlich nicht so aus, die hatten ihre Pforten geschlossen, und das heißt, man mußte anklopfen, wenn man auf das Areal wollte. Und man vermutet - es ist nur eine Vermutung -, dass Martin Luther hier die Südpforte genutzt hat", sagt Birgit Messerschmidt.
Sie führt eine Gruppe durch das Erfurter Augustinerkloster. Das Kloster, die Augustiner, Luther - alles muss in einer knappen Stunde erzählt werden. Belegtes, Vermutetes, ein paar Anekdoten. Nicht zu viele Zahlen.
"Wir wissen das Datum, es ist der 17. Juli 1505 gewesen, er ist mittlerweile 21 Jahre alt. Ob es wirklich die Pforte war? Na ja, das können wir natürlich nicht sagen. Sie war auf jeden Fall kleiner, keine Fingerabdrücke, aber sie sehen auf jeden Fall sein erstes Zuhause hier im Kloster. Also, ich bitte sie, mir zu folgen in den Renaissance-Hof, bitte."
Spätes Bewusstsein für Gästeführungen
Messerschmidts Kundschaft ist eine besondere: Sie besteht ausschließlich aus Kollegen. Über 240 Gästeführer aus ganz Deutschland waren am Wochenende in Erfurt zu Gast, zum Verbandstag des Bundesverbandes der Gästeführer. Das Motto und Hauptthema in diesem Jahr - passend zum Ort und zum Reformationsjubiläum: "Mein Gott, Dein Gott - Gästeführung im religiösen Spannungsfeld". Die Verbandsvorsitzende Ute Jäger erklärt die Relevanz des Themas:
"Viele Kirchen haben vor zwanzig Jahren, vor dreißig Jahren noch gar nicht so genau drauf geguckt: Wer geht da eigentlich in meine Kirche, und was erzählen die da? Und dann ging nach der Wiedervereinigung ein Boom los in ganz Deutschland von Besuchen in der eigenen Region. Und da haben dann die Kirchen reagiert und haben gesagt, 'Ja Moment, wenn da so viele kommen, wer ist denn da der Führer und was erzählen die da?' Auf diese Art und Weise ist in den Kirchen das Bewusstsein entstanden, dass sie eigene Kräfte brauchen."
Und so hätten nicht nur die Kirchen eigene Gästeführer ausgebildet, sondern auch die Fremdenführer selbst Qualifikationen nachgeholt. Denn einerseits gehörten Kirche und mittlerweile auch Synagogen und gelegentlich auch Moscheen oft mit zu Stadtführungen dazu. Andererseits könne in Zeiten zunehmender Religionsferne immer weniger Wissen vorausgesetzt werden, so Jäger.
"Also das ja, das auf jeden Fall. Wenn ich auf der Straße eine Führung mache, und ich frage da manchmal nur die Grund-Essentials des Christentums ab: 'Was kommt nach Weihnachten für ein hohes Christenfest?' Dann habe ich schon Glück, wenn Ostern kommt."
Rocker auf der Suche nach Freiheit
Der pädagogische Leiter der Evangelischen Erwachsenenbildung Thüringen, Thomas Ritschel, machte die Frage, was Touristen im Reformationskernland alles suchen können, am Beispiel einer Rockergang aus NRW besonders anschaulich, die er durch Weimar führen sollte.
"Und da standen dann tatsächlich 20 solche Typen. Und dann hatten sie ihre Kutten an, mit dem Emblem hinten drauf. Und dann habe ich mal gefragt, 'Was suchen Sie denn eigentlich?', oder, 'Was sucht ihr denn?' Und dann kam heraus: Sie suchen die Freiheit. Und da gibt es so einen schönen Text von Luther, "Von der Freiheit eines Christenmenschen", und dann ging das los, und dann haben wir geredet, und dann sind wir durch die Stadt gezogen, und dann standen wir vor dem Nationaltheater, und dann haben wir über Kirche und Demokratie gesprochen und die ganze Stadt mal unter einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet. Und irgendwie haben wir auch immer wieder dieses Thema mit Luther und der Reformation berührt, aber es ging um viel mehr: Es ging um die Gegenwart, es ging um aktuelle Debatten. Die wollten gar nicht wieder gehen."
Zweieinhalb statt eineinhalb Stunden habe er sie durch Weimar geführt. Dabei haben wohl nicht nur die Biker etwas gelernt. Um Lernen ging es viel auf dem Erfurter Verbandstag des deutschen Gästeführer: Die Wittenberger stellten ihre Methode vor, sich auf den Ansturm von Millionen Reformationstouristen in der Stadt vorzubereiten. Acht Wochen dauere die Ausbildung zum "Kirchenführer", der Einhundertste Führer würde gerade geweiht, erklärte Jan von Campenhausen, der Theologische Direktor der Wittenbergstiftung.
"Wir haben dann jeweils ein Modul Theologie der Reformation. Wir haben einen Theaterpädagogen, der einführt: 'Wie stehe ich vor der Gruppe? Wie rede ich? Wie wirke ich? In wessen Auftrag handele ich? Und wie spreche ich am besten?' Wir haben eine Kirchenpädagogin, die uns hilft, die Augen dafür zu öffnen, dass wir nicht nur in einen Raum reingehen, davorstehen und dann Daten, Fakten runter, sondern vielleicht auch mal mit anderem Blickwinkel reinzugehen: 'Wie sind die Lichteinfälle?' oder 'Such dir den Raum, wo du dich am wohlsten fühlst!' also noch mal eine ganz verquere, eine andere Herangehensweise."
Aufs Denkmal zeigen ist zu wenig
Nicht die Konfession der Kirchenführer sei dabei wichtig, sondern die Frage, ob er Respekt vor der Kirche, dem Raum zeige und mit offenen, freundlichen Gesicht Kompetenz vermittele. Ähnlich, aber noch intensiver werden in Thüringen Lutherspezialisten ausgebildet: "Lutherfinder" darf sich der nennen, der mindestens 120 Stunden zur Geschichte Theologie und Rezeptionsgeschichte der Reformation absolviert hat, dazu Kunstgeschichte, Kirchenraumpädagogik, Luther und die Musik, Luther und Thomas Müntzer und so weiter. Am Ende steht eine Prüfung, die durchaus nicht alle bestehen. Für Thomas Ritschel ist es wichtig, dass die "Lutherfinder" sich der enormen Widersprüchlichkeit der Figur stellen können.
"Und dazu muss man erst mal in der Lage sein, auch als Gästeführer in der Lage sein, vielleicht Dinge oder Fragen oder Themen auszuhalten, die nicht so unkompliziert sind. Das bedeutet, dass wir mit Widersprüchen konfrontiert werden: Luther und die Juden. Luther und der Islam. Luther und die Gewalt. Luther und die Politik. Wir sagen: Was brauchen die eigentlich, was brauchen diese Gästeführer? Die müssen einerseits Restauratoren sein, die müssen in der Lage sein, diese unterschiedlichen Zeitschichten, die es gibt, auch mal aufzuschließen, die nicht an dem Lutherdenkmal einfach vorbeigehen und sagen, "Gucken sie mal, da steht ein Lutherdenkmal!" Sondern die etwas dazu erzählen können, warum im ausgehenden 19. Jahrhundert überall in Deutschland Lutherdenkmäler errichtet worden sind! Warum erst am Ende des 19. Jahrhunderts, warum?"
Die "Lutherfinder" sind eine Möglichkeit, sich im Spannungsfeld zwischen Tourismus, Geschichte und Religion zu bewegen. Birgit Messerschmidt, hier am Ende ihrer Führung im Erfurter Augustinerkloster, ist auch eine von ihnen. Für sie geht das Konzept des "Lutherfinders" auf:
"Da ich ja ganz speziell diese Ausbildung gemacht habe, habe ich einen derjenigen, die uns vermitteln, uns Gästeführer, gesagt: Bitte setzt mich nur noch für Lutherführungen ein, jetzt für 2016/ 2017. Dafür bin ich ausgebildet, und ich möchte auch für die vornehmlich auch christlichen Gruppen dann auch da sein."