Christiane Kaess: Wir wollen darüber weiter sprechen mit Bettina Wiesmann von der CDU. Sie ist im Bundestag Mitglied der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder. Guten Morgen, Frau Wiesmann.
Bettina Wiesmann: Guten Morgen.
Kaess: Kann man angesichts dieser Schilderungen von Chancengleichheit zwischen Kindern sprechen, die bei den eigenen Eltern aufwachsen, und denen, die diese Möglichkeiten nicht haben?
Wiesmann: Chancengleichheit ist ja ein weiter Begriff. Ich fürchte, dass sich viel mehr verschiedene Situationen letztlich dahinter verbergen, die wir dann vielleicht versuchen, einander anzugleichen, als nur der Unterschied von Kindern auf der einen Seite, die ihre leiblichen Eltern haben, und anderen, die in Pflegefamilien oder in Heimen aufwachsen müssen. Natürlich haben letztgenannte ein zusätzliches Päckchen zu tragen, aber es ist auch illusorisch zu glauben, dass man diese Unterschiede vollständig staatlicherseits auffangen könnte.
Arbeit soll sich für Jugendliche lohnen
Kaess: Aber sollte die Politik nicht zumindest versuchen, die Chancen so gleich wie möglich zu machen?
Wiesmann: Natürlich! Das tut sie ja auch. Das sollte sie versuchen. Aber man muss da auch realistisch sein, es wird immer eine Restdifferenz geben, so wie es ja auch mehr oder weniger liebevolle oder zugewandte oder bildungsaffine leibliche Eltern gibt. Das müssen wir einfach immer vorwegschicken.
Aber jetzt fragen Sie nach dem, was die Politik zu tun hat. Und natürlich: Sie kümmert sich ja auch um diese Dinge. Ich will einmal darauf verweisen, dass wir uns im aktuellen Koalitionsvertrag vorgenommen haben, gerade für Kinder, die in Pflegefamilien oder Heimen aufwachsen, übrigens auch für die Eltern, die dazugehören, auch für die Pflegeeltern mehr zu tun. Aber das ist ja auch gar nicht das einzige, sondern es gibt ja auch schon länger die Bestrebung, das Sozialgesetzbuch acht zu reformieren, und da gab es auch in der letzten Legislaturperiode bereits einen Anlauf und sogar eine Einigung, die vom Bundestag beschlossen wurde, aber im Bundesrat dann nicht zur Abstimmung kam.
Es ist uns als Union, um das gleich auch inhaltlich zu beantworten, außerordentlich wichtig, diese besonders schwierige Situation von Kindern und Jugendlichen, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen können, nicht in normalen Familienverhältnissen leben, zu verbessern. Auch die angesprochenen Punkte wollen wir tatsächlich ändern. Wir wollen bei der Kostenheranziehung insbesondere von den 75 Prozent ohne Freibeträge abweichen. Wir wollen, dass es sich auch spürbar lohnt für Jugendliche, die sich etwas dazuverdienen beispielsweise, dass sie auch von der Ausbildungsvergütung etwas mehr behalten können, und darüber reden wir zurzeit ja auch in der Arbeitsgruppe des Bundes mit den Ländern, die diese SGB8-Reform gerade vorbereitet.
"Ich möchte von den 75 Prozent runter"
Kaess: Jetzt sagen Sie, wir haben schon Versuche gemacht und wir sind immer noch dabei. Fakt ist aber auch, dass zum Beispiel das Familienministerium bereits ein "Gute Kita"-Gesetz auf den Weg gebracht hat und viele andere Veränderungen in der Familienpolitik. Muss man nicht letztendlich sagen, Kinder, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen, die haben keine Lobby und da schaut dann auch keiner hin?
Wiesmann: Ich würde das ungern gegeneinander aufrechnen. Ich finde, alleine die Tatsache, dass wir in der letzten Legislaturperiode – da war ich gar nicht beteiligt, aber man kann das nachlesen, und andere, die schon länger bei der Sache sind, wissen das auch, auch Sie wissen das ja. Es ist daran intensiv gearbeitet worden. Man hat eine Einigung erzielt. Und dann ist es in unserem System so, dass auch ein Bundesrat am Ende abstimmen muss. Darum gab es auch Kontroversen. Es sind viele verschiedene Institutionen auch beteiligt. Es ging auch nicht nur um die jetzt angesprochenen Punkte, sondern auch andere Veränderungen. Wir haben uns vorgenommen, hier noch mal einen breiten Anlauf zu nehmen, noch mal mit mehr Intensität einen Dialogprozess zu führen. Der läuft beim Familienministerium. Und jetzt, finde ich, gehört es einfach dazu, um eine am Ende wirklich faire Lösung, der auch die Beteiligten und ihre Verbandsvertreter und andere zustimmen können, zu erreichen, dass wir diesen Prozess jetzt nicht nur abwarten, sondern zügig gemeinsam vorantreiben. Dazu dient natürlich auch eine Diskussion wie heute. Aber ich würde ungern Ihnen zustimmen und sagen, da passiert nichts und wir denken nicht an diese Kinder. Das Gegenteil ist richtig.
Kaess: Frau Wiesmann, aber es ist doch erstaunlich, dass Missstände, die die Politik auch erkannt hat und klar als solche benennt – ich möchte mal das Bundesfamilienministerium zitieren. Da heißt es in diesem Zusammenhang mit der sogenannten Kostenheranziehung, wenn diese Jugendlichen dann sehr viel Geld an den Staat zurückzahlen müssen, und im Kontext mit der Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe heißt es vom Bundesfamilienministerium, da sei es, junge Menschen zu einem selbstverantwortlichen Leben zu erziehen und zu motivieren. Ich zitiere das mal wortwörtlich: "Diesem Auftrag widerspricht es, wenn jungen Menschen, die gegebenenfalls ohnehin geringe finanzielle Anerkennung für kleinere Tätigkeiten wie zum Beispiel Zeitungsaustragen oder einen Ferienjob oder auch eine Ausbildungsvergütung zu einem großen Teil genommen wird." – Jetzt besteht diese Regelung ja nicht erst seit ein paar Wochen oder ein paar Monaten, sondern seit Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten. Da muss man sich schon fragen, warum sich da überhaupt noch nichts getan hat und offensichtlich ja auch nichts weiterkommt, denn Sie haben den Bundesrat, wo das ganze hängt, angesprochen.
Wiesmann: Es wird aktuell daran gearbeitet. Ehrlich gesagt, ich würde lieber darüber sprechen, was wir ändern wollen. Als Union möchten wir gerne von den 75 Prozent ohne Freibeträge wegkommen. Wir möchten Freibeträge einführen und ehrlich gesagt wollten wir das auch schon 2017 oder im Vorfeld und dann bis 2017 und haben das sogar mit dem damaligen Koalitionspartner, der derselbe ist, und im Bundestag verabschiedet. Wir haben unsere Arbeit gemacht und dann haben die Länder aus diversen Beweggründen und einer öffentlichen Diskussion heraus, die sehr differenziert und kontrovers war, das tatsächlich nicht abstimmen wollen. Das habe ich gar nicht zu beurteilen. Ich bedauere das. Ich möchte diese Änderung und ich glaube auch, dass die Dinge, die ich ändern möchte, die richtigen sind. Ich möchte von den 75 Prozent runter. Ich möchte, dass gleich vom ersten verdienten Euro an durch eine Freibetragsregelung (150 Euro war damals festgelegt, ich finde das auch eine gute Zahl) von Ausbildungsvergütung beispielsweise oder ähnlichen Einkommen etwas direkt den Jugendlichen zur Verfügung stehen kann. Sie bekommen übrigens auch heute schon ein Taschengeld, das lokal nach Ermessen der Jugendämter festgelegt wird. Ich möchte, dass sie von Ferienjobs profitieren (damals war die Rede von 800 Euro im Jahr), dass diese Freibetragsregelung auch dafür gilt, dass sie davon 800 Euro behalten können. Und ich möchte, dass von dem dann restlichen Einkommen, das sie eventuell noch erzielen, ein deutlich größerer Betrag ihnen verbleibt. Damals war die Rede von 50 Prozent und das finde ich eine faire Überlegung.
Ich bin nicht verschlossen, das noch mal etwas anders zu gestalten. Es gibt auch Leute, die sagen, wir brauchen nur noch 25 Prozent Einbehalt für den Staat. Da kann man über alles sprechen. Ich hätte gerne, dass wir uns darüber und die Beteiligten, die jetzt an der Verantwortung sind, einigen. Wenn das Familienministerium sich da noch mal ins Zeug legen kann, um zu einem Ergebnis zu kommen, bin ich auch einverstanden. An uns wird es nicht scheitern.
"Natürlich ist es immer schade, wenn Betroffene länger warten müssen"
Kaess: Sagen Sie uns noch kurz zum Schluss, Frau Wiesmann. Wann wird diese Änderung kommen?
Wiesmann: Es ist zugesagt, dass wir das im Laufe dieses Jahres zum Abschluss bringen. Aber ich bin da nicht die Haupthandelnde. Deshalb kann ich das nur wünschen und das Meine dazu beitragen, und ich kann es Ihnen nicht versprechen. Ich kann nur sagen, der Diskussionsprozess ist breit angelegt, weil er das letzte Mal tatsächlich nicht zum allerletzten Ziel geführt hat, auch wenn der Bundestag sich einigen konnte, die Mehrheit dafür gefunden werden konnte, für eine, wie ich glaube, gute Regelung. Die hat auch viele Unterstützer im Land gefunden. Aber es gibt auch Institutionen, die möchten mehr. Das halte ich für einen normalen demokratischen Prozess. Natürlich ist es immer schade, wenn dann Betroffene länger warten müssen. Natürlich werden die Jugendlichen älter und schwierige Situationen können nicht erst zehn Jahre später bereinigt werden. Das ist mir völlig klar. Aber wir müssen eine gute Lösung für alle haben. Wir müssen die dafür notwendigen Mehrheiten erzielen. Ich wünsche mir und bin auch guter Hoffnung, dass das Familienministerium da auch alle Weichen entsprechend stellt, aber auch alle anderen Beteiligten müssen hier zielorientiert miteinander arbeiten. Die Union ist dafür bereit und auch flexibel, bei den Feinjustierungen auch zu einem guten Kompromiss zu kommen.
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