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Reformislam
"Religiöse Erkenntnis ist immer wandelbar"

Der schiitische Geistliche Abdolkarim Sorush ist einer der prominentesten Vordenker eines Reformislams. Er weist der Vernunft des Menschen eine zentrale Rolle zu, religiöser Pluralismus ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Mit diesen Ansichten muss der Iraner allerdings im Exil leben.

Von Jan Kuhlmann |
    Abdolkarim Sorush war ursprünglich ein glühender Anhänger von Ajatollah Khomeini und dessen Revolution. Doch Sorush wandelte sich zu einem scharfen Gegner des religiösen Regimes im Iran.
    Lichtes Haar, kurzer Bart, schlichte Kleidung: Abdolkarim Sorush tritt bescheiden auf. Er spricht mit leiser Stimme und denkt häufig länger nach, bevor er antwortet. Seine Studenten hören ihm aufmerksam zu. Denn der ende 60-Jährige hat das religiöse Denken in seiner Heimat Iran beeinflusst wie nur wenige Theologen. Abdolkarim Sorush gehört zu den wichtigsten Reformdenkern im Islam. Einer seiner Kerngedanken: Den einen und für alle Zeiten gültigen Islam gibt es nicht, denn religiöse Erkenntnis ist immer wandelbar. Gott hat zwar mit Muhammad den letzten Propheten geschickt - nicht aber die letzte Interpretation von Gottes Wort.
    "Ich vergleiche es normalerweise mit einem Fluss. Der Prophet war nur die Quelle des Flusses. Die gesamte islamische Tradition ist der Fluss. Sie fließt Richtung Ewigkeit. Wir sind ein bestimmter Teil des Flusses, die nächste Generation wird ein anderer Teil sein. Wir sollten niemals annehmen, dass Religion ein stehendes Gewässer ist. Sie ist wie ein fließender Fluss."
    Im Iran hat sich Sorush mit seinen Positionen mittlerweile viele Feinde gemacht. Schließlich greift er das Interpretationsmonopol der schiitischen Geistlichkeit an. Den iranischen Geistlichen wirft er vor, die Religion mit starren Interpretationen in eine Ideologie verwandelt zu haben.
    "Das ist eine Gefahr in allen Religionen: dass sie in eine Ideologie verwandelt werden. Eine dogmatische, eine offizielle Interpretation ist eine große Katastrophe. Gelehrte und Reformer müssen die Menschen davor warnen. Reformen bedeuten nicht, eine neue Religion zu schaffen. Es heißt, dass man eine neue Interpretation und ein anderes Verständnis von Religion anbietet."
    Starke Debatte ausgelöst
    Seit Jahren muss Sorush im Exil leben. Dennoch entfalte er mit seiner Lehre noch immer Wirkung, sagt Katajun Amirpur, in Hamburg Professorin für Islamische Theologie. Sorush habe viele Ideen als erster in den iranischen Diskurs eingebracht.
    "Damit hat er dann häufig eine starke Debatte losgelöst, ist dafür stark angefeindet worden. Aber er hat dann auch zum Beispiel in konservativen Kreisen durchaus viel Gehör gefunden. Viele Dinge, die er heute sagt, hören Sie inzwischen in sehr konservativen Kreisen. Die formulieren das dann ein bisschen anders. Aber im Prinzip merken Sie, dass auch die davon beeinflusst sind."
    Die Interpretationen der Menschen hält Sorush für wandelbar, nicht aber Gottes Wort. Die Botschaft Allahs im Koran ist auch für ihn unfehlbar - doch der Mensch könne niemals wissen, was Gottes eigentliche Absichten sind. Sorush unterscheidet zwischen Religion einerseits – und der religiösen Erkenntnis der Menschen andererseits. Auf dieser Idee beruht seine gesamte Theologie
    "Unser Verständnis der Schrift unterscheidet sich von der eigentlichen Schrift. Die Schrift ist heilig, aber unser Verständnis von ihr ist es nicht. Unsere Erkenntnis kann voller Widersprüche und Fehler sein. Am wichtigsten ist dabei, dass man meine Interpretation kritisieren kann. Das bedeutet nicht, dass man damit die Schrift selbst kritisiert."
    Wie andere muslimische Reformdenker weist auch Sorush der Vernunft des Menschen eine zentrale Rolle zu. Dahinter steckt die Überzeugung, dass Gott dem Menschen niemals etwas befehlen würde, was unvernünftig ist.
    "Die Vernunft ist an erster Stelle. Eine unvernünftige Religion ist inakzeptabel. Wenn eine Religion Ungerechtigkeit für unwichtig hält, dann sagt die Vernunft: Das ist keine gute Religion."
    Menschenrechte als Gebot der menschlichen Vernunft
    Sorushs Ansatz hat weitreichende Konsequenzen. Er lässt etwa religiösen Pluralismus zu. Sorush sieht auch keinen Widerspruch zwischen dem Islam und den universal gültigen Menschenrechten. Für den Geistlichen sind die Menschenrechte ein Gebot der menschlichen Vernunft - und entsprechen so auch dem Willen Gottes.
    "In einer Gesellschaft zu leben, in der die Menschenrechte geachtet werden, wäre segensreicher für die Religiosität eines Gläubigen, als in einer Despotie zu leben. Das heißt auch, dass wir der Religion durch ein despotisches Aufzwingen von religiösen Regeln keinen guten Dienst erweisen. Wir müssen den Menschen die Freiheit lassen, ihre eigene Religion zu wählen."
    Der schiitische Geistliche ist auch ein Verfechter der Demokratie. Er spricht sich für eine religiös-demokratische Regierung aus, die die Religion und die Rechte Gottes schützt. Auf diesem Weg lasse sich der Glauben am besten fördern, sagt Sorush.
    "Muslime oder - allgemeiner - Gläubige können ohne Widersprüche in einer demokratischen Gesellschaft leben. Ich glaube sogar, dass Religion in einer demokratischen Umgebung viel stärker blühen kann als unter einem despotischen Regime."
    Machtwechsel in Teheran weckt Hoffnungen
    Solche Sätze zielen auch immer auf die Lage im Iran, wo es zwar Wahlen, aber keine Freiheit und wirkliche Demokratie gibt. Im Gegenteil. Trotzdem sind im Iran in den vergangenen Jahren immer wieder politische Reformbewegungen entstanden - etwa 1997 unter dem damaligen Präsidenten Mohammed Khatami. Über Jahre hofften viele Iraner auf eine Öffnung des Landes - bis 2005 der Hardliner Mahmud Ahmadinedschad die Macht übernahm. 2009 begehrte noch einmal eine Protestbewegung auf, die von der Regierung niedergeknüppelt wurde. Ohne Intellektuelle wie Sorush wären solche Reformbewegungen im Iran gar nicht möglich gewesen, sagt die Hamburger Professorin Katajun Amirpur:
    "Da ist ja einiges passiert in den Jahren nach '97. Das hat dann nachher eine totale Kehrtwende genommen 2005. Aber in den Jahren dazwischen ist einiges gewesen. Und dass sich diese Gedanken dann wieder Bahn gebrochen haben 2009, war durchaus auf diesen Einfluss zurückzuführen."
    Sorush äußert sich auch aus dem Exil zur Lage im Iran. Über seine Internetseite verbreitet er Interviews, Vorträge und offene Briefe. Mit dem Wahlsieg von Hassan Rohani hat es im vergangenen Jahr erneut einen Machtwechsel in Teheran gegeben - mit dem neuen Präsidenten ist auch die Hoffnung auf Reformen zurückgekehrt.