Detjen: Herr Kauder, als Fraktionsvorsitzender der Union hatten Sie in den zurückliegenden Tagen eine relativ klar definierte Aufgabe: Sie mussten die gespaltenen Reihen Ihrer Fraktion hinter der Kanzlerin und dem Finanzminister schließen. Wenn Sie sich für einen Moment mal als einfacher Abgeordneter denken: wie lange hätten Sie denn gegrübelt, ob Sie zu den am Ende 60, 65 Abweichlern gehört hätten oder ob Sie, so wie die Mehrheit der Fraktion, mit Ja zum Antrag des Finanzministers gestimmt hätten?
Kauder: Ich hätte überhaupt nicht gegrübelt. Die Bundeskanzlerin und der Finanzminister haben in einer extrem schwierigen Lage ein hervorragendes, man muss ja sagen, Zwischenergebnis mitgebracht, auf dessen Grundlage nun Verhandlungen mit Griechenland geführt werden sollen. Es ging also noch gar nicht um Ergebnisse, sondern es ging um den Auftrag der Bundesregierung, nun zu verhandeln. Und da hätte ich immer mitgestimmt und hätte immer dieser Regierung, die ein hervorragendes Verhandlungsergebnis gebracht hat, den Auftrag gegeben, nun in diesem Sinne weiter zu verhandeln.
Detjen: Sie sagen jetzt so einfach "hervorragendes Verhandlungsergebnis", aber es war selbst der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der hier bei uns im Deutschlandfunk deutlich gemacht hat, wie viele Zweifel er noch an diesem Verhandlungsergebnis und an den Möglichkeiten, die es eröffnet, hat. Also da ist es ja nicht verwunderlich, dass viele in der eigenen Fraktion auch gezweifelt haben, ob sie dem zustimmen.
Kauder: Wolfgang Schäuble hat heute Morgen im Deutschen Bundestag den Antrag eingebracht, begründet und hat geworben, dass man diesem Antrag zustimmt. Wolfgang Schäuble ist keiner wie Tsipras, der einen Antrag stellt und dann für Nein wirbt. Das macht genau den Unterschied zwischen unserer Regierung und einer griechischen Regierung aus. Und deswegen kann ich nur sagen, es ist auch gerade für einen Baden-Württemberger wie mich selbstverständlich, einem solchen Antrag Wolfgang Schäubles dann auch zuzustimmen.
Detjen: Schäuble hat ungewöhnlich deutlich gemacht, dass er eigentlich den Grexit, den von ihm ins Spiel gebrachten befristeten Aufstieg Griechenlands aus der Währungsunion, für den besseren Weg gehalten hätte. Und letztlich am Ende war es die Kanzlerin, die sich in der entscheidenden Verhandlungsnacht auf die Seite von François Hollande, von Frankreich und Italien geschlagen und den Finanzminister stehen lassen hat.
Kauder: Wolfgang Schäuble hat auch deutlich gemacht, dass der sogenannte "befristete Grexit" nur möglich gewesen wäre mit Zustimmung von Griechenland - und die haben nicht zugestimmt, und die werden auch in Zukunft nicht zustimmen. Deswegen rate ich jetzt, dass wir uns darauf konzentrieren, die Verhandlungen mit Griechenland zu führen - die sind schwer genug.
Detjen: Aber wenn Sie sich so sicher sind, dass Griechenland die in der Tat ja nötige Zustimmung nicht erteilt hätte, warum bringt Wolfgang Schäuble dann diesen Grexit immer wieder ins Spiel und zieht damit ja so viel Wut und Zorn in ganz Europa auf sich? Deutschland steht jetzt auch wegen dieser Äußerung in ganz Europa bei den Kritikern als der Kraftprotz, als der unsolidarische Kraftprotz in Europa da.
Kauder: Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, hat im Deutschen Bundestag erklärt, es sei durchaus richtig gewesen, für die Verhandlungen, wo es ja ziemlich schwierig war, auch eine solche Option sich offen zu halten und damit auch zu zeigen, wie ernsthaft es uns ist, dass in Europa die notwendigen Reformschritte gemacht werden. Es reicht nicht aus, dass Deutschland wettbewerbsfähig ist und alle anderen nur bedingt oder gar nicht. Und deswegen ist es notwendig, dass wir alle in Europa wettbewerbsfähig werden, und dafür muss Griechenland seinen Beitrag leisten. Darüber verhandeln wir jetzt und das ist jetzt auch das Thema.
Detjen: Also die Tatsache, dass Schäuble diesen Grexit, so wie er ihn in Brüssel eingebracht hat, jetzt noch weiter im Spiel hält, ist eigentlich hauptsächlich eine Verhandlungsposition, die er jetzt noch mal braucht für die kommenden Wochen?
Kauder: Nun, die SPD hat klar gemacht, dass sie von dem Grexit gar nichts hält, mehr hat man erzählt, dass es um Verhandlungen geht. Und jetzt würde ich mal sagen, wir haben ein Zwischenergebnis, auf dessen Grundlage wir jetzt weitermachen. Die Griechen haben erste Entscheidungen getroffen. Jetzt geht es darum festzulegen, ob die Griechen bereit sind, auch das für ein Programm Notwendige nicht nur zu beschließen, sondern auch umzusetzen.
Detjen: Aber dieses Papier, das Schäuble da in Brüssel vorgelegt hat, hat ja auch in der Koalition für Verstimmungen gesorgt, ob und wie weit der Vizekanzler, Sigmar Gabriel, eingebunden war, ob er zugestimmt hat, das ist immer noch nicht so ganz klar. Also da ist ein Vertrauensgraben entstanden.
Kauder: Doch, doch, das ist klar. Es ist klar, dass er eingebunden war. Aber die Dinge, jetzt im Rückblick, bringen uns ja nicht weiter, Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Es geht jetzt ab nächster Woche in die Verhandlungen mit Griechenland und da muss klar sein, was Griechenland erfüllen muss. Und ich kann nur sagen, wir haben in Deutschland gesehen, dass es nicht an den Menschen liegt, sondern an den Systemen. Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland West aufbauen können, weil man die Menschen hat machen lassen, weil man ihnen Chancen und Möglichkeiten gegeben hat. Und die Menschen in der DDR wollten genauso fleißig sein, so kreativ und konnten es nicht, weil sie ein anderes System hatten. Und das sieht man jetzt in Griechenland - in Griechenland war immer schon, auch unter vorhergehenden Regierungen, der Wille nicht da, ein Land so wettbewerbsfähig zu machen, wie man es braucht in Europa.
Detjen: Lassen Sie uns gleich noch über Griechenland sprechen. Aber eine Frage noch, sozusagen rückblickend zur Schadensbilanz in der Koalition. Als Schäuble im Bundestag gesprochen hat am Freitag, hat man gesehen, da hat bei der SPD kaum jemand applaudiert. Da ist ein Schaden geblieben. Das macht die Arbeit für Sie auch in der Koalition schwieriger, oder?
Kauder: Das sehe ich nicht so. Wir haben in dieser Großen Koalition eine ganze Menge hinbekommen und da reicht auch die Gemeinsamkeit noch für weitere, die weiteren Herausforderungen, die vor uns liegen. Also da bin ich ganz zuversichtlich. Jetzt wollen wir erst mal schauen, was für ein Verhandlungsergebnis kommt. Davon wird abhängen, ob die Dinge schwieriger werden oder nicht.
Detjen: Also schauen wir auf diese Verhandlung, auf das, was da ausgehandelt werden muss. Alexis Tsipras hat bei seiner Abstimmung im griechischen Parlament, Mitte der Woche, die Einigung von Brüssel als Durchbruch gefeiert, weil damit jetzt auch ein Gespräch auf Verhandlungen über eine Erleichterung der Schuldenlast möglich wären. Und Wolfgang Schäuble hat im Bundestag am Freitag noch mal deutlich gesagt: 'Innerhalb der Eurozone kann es keinen Schuldenschnitt für Griechenland geben'. Wer hat recht?
Kauder: Wolfgang Schäuble sagte, es gibt keinen Schuldenschnitt, denn das wäre eine Finanzierung von Schulden durch andere Staaten und das ist nach den Verträgen ausgeschlossen. Und ich glaube, der Erfolg liegt doch darin, dass wir zum ersten Mal nicht nur ein Finanzprogramm haben, sondern jetzt ein echtes Reformpaket auf den Weg gebracht werden soll. Und jetzt wird man sehen müssen, ob das, was da vorgesehen ist, damit Griechenland, vorankommt, auch jetzt in Verhandlungen so gemacht wird. Davon wird viel abhängen. Mir ist es im Grunde genommen auch egal, ob Herr Tsipras an das Programm glaubt oder nicht glaubt. Das ist mir völlig egal. "An den Früchten werdet ihr sie erkennen" - und deswegen schaue ich mir an, was sie machen und was sie umsetzen.
Detjen: Ja, aber lassen Sie uns noch mal den Blick auf die Schuldenlast Griechenlands werfen, Herr Kauder. Die Kommission, die EU-Kommission, sagt in der Verhandlungsempfehlung - die ja auch Grundlage des Bundestagsbeschlusses gewesen ist -, dass Griechenland ohne eine - so heißt es da - tief greifende, mittelfristige Umschuldung, nicht auf die Beine kommen wird. Die Kommission scheint also eine andere Rechtsauffassung zu haben, als der Bundesfinanzminister.
Kauder: Die Auffassung des Bundesfinanzministers wird von uns geteilt: Schuldenschnitt - Nein - das hat im Übrigen auch die Bundeskanzlerin immer wieder klar und deutlich formuliert. Im Übrigen ist damit gemeint der Schuldenschnitt für den öffentlichen Bereich; wir hatten ja in Griechenland schon mal einen Schuldenschnitt der privaten Gläubiger.
Detjen: Also dann definieren wir noch mal, was Schuldenschnitt ist. Die Kommission macht das ja konkret. Die sagt in ihrem Papier, das den Abgeordneten vorlag, die zugestimmt haben jetzt, es gehe um eine erhebliche Ausdehnung der Kreditlaufzeiten, so heißt es da, um Zinserleichterungen, um Kreditvergünstigungen. Das sind ja alles unter dem Strich Maßnahmen, die dann am Ende, wie auch immer man sie definiert, zu einer Reduzierung der Schuldenlast und auch zu einer Belastung des deutschen Steuerzahlers führen.
Wir wollen auf einen Weg kommen, der zum Erfolg führt
Kauder: Nein, das stimmt überhaupt nicht. Sondern wenn die Laufzeit sich verlängert und Kreditzinsen reduziert werden, dann bleiben die Schulden noch immer, es wird nur leichter, sie zu tragen, aber sie verschwinden nicht. Und beim Schuldenschnitt geht ein Teil der Schulden weg. Ich sage mal, wir haben einen Schuldenschnitt gehabt bei den privaten Gläubigern und was der gebracht hat, sehen wir jetzt. Ich kann nur sagen, es geht nicht darum, das eine oder andere zu erleichtern für Griechenland, sondern es geht nun endlich einmal darum, dass wir mit diesem Land auf einen Weg kommen, der zum Erfolg führt. Die Griechen wurden aufgenommen in die Eurozone - übrigens gegen die Entscheidung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wir haben damals im Bundestag dagegen gestimmt, aber dann sind sie eben dabei - und von Anfang an war klar, dass Griechenland ein erhebliches Problem hat in der Eurozone, und es wurde nicht darauf gedrängt, dass die notwendigen Reformen gemacht werden. Jetzt müssen sie gemacht werden, jetzt ist wirklich fünf vor zwölf für Griechenland, dass man diese Reformen auch durchführt. Ein zu hoher öffentlicher Sektor, keine Grundlagen für wirtschaftliche Entwicklung, kein Kataster, keine Steuerverwaltung, das ist alles nicht und es muss jetzt gemacht werden.
Detjen: Jetzt sagen Sie, es ist Ihnen egal, ob Tsipras daran glaubt, dass das wirksam ist oder nicht, er muss es halt tun. Aber jetzt gehört auf allen Seiten eben auch der Ton zu dieser Debatte. Dazu gehört dann auf deutscher Seite eine BILD-Zeitung, die die Kanzlerin mit Pickelhaube auf der Titelseite in den Kampf gegen die Griechen schickt und dazu gehört in Ihrer Partei, bei der CDU, ein stellvertretender Vorsitzender, der sagt: "Der Grieche nervt." Ist doch klar, dass Tsipras da sagt, er kämpft auch um die Würde des Landes. Haben Sie da Verständnis dafür?
Kauder: Tsipras kann ja um die Würde seines Landes kämpfen. Und die Würde wird er erst zurückkriegen, wenn er dafür sorgen kann, dass es ein anständiges Wirtschaftswachstum gibt. Für die jungen Menschen ist es zentral wichtig, dass sie Perspektive haben, dass sie ihr Leben aus eigener Kraft gestalten können. Das hat was mit Würde zu tun, nicht die Sprüche: "Ich will die Würde zurückhaben!“ Und da soll nun die Regierung sich endlich mal auf den Weg machen in Griechenland, dass natürlich die Art und Weise, wie da gesprochen worden ist, eigentlich in der europäischen Familie nicht geht, dass man sich so beschimpft.
Damit wir in der Eurozone zusammen bleiben können
Detjen: In welche Richtung sagen Sie das? Athen oder auch in Hinblick auf Deutschland?
Kauder: In Athen, was dort gemacht worden ist, wie da Wolfgang Schäuble und auch Angela Merkel bezeichnet worden sind, das geht überhaupt nicht.
Detjen: Aber noch mal die Frage: Gibt es da auch - wir sprechen jetzt auch über deutschen Debatten -, gibt es da auch Grund zur Selbstkritik?
Kauder: Ich sehe da kaum Grund zur Selbstkritik, das muss ich wirklich mal sagen. Der Herr Tsipras hat Formulierungen gefunden, die sind unerträglich. Aber auch die Grünen, der Herr Bütikofer, auch Frau Wagenknecht, die Schäuble als "Kürzungstaliban“ bezeichnet hat - man weiß, was Taliban bedeutet -, also da sind Worte gefallen auf der linken Seite, die sind nicht akzeptabel. Aber das ist jetzt gar nicht mein Thema. Schwamm darüber. Es geht jetzt darum, ob es uns gelingt, dass wir die notwendigen Reformmaßnahmen ergreifen und Griechenland auf einen besseren Weg kommt und dass wir in der Eurozone zusammen bleiben können.
Detjen: Das muss jetzt eine Regierung tun in Griechenland, die faktisch unter Kuratel steht. Die Institutionen, die ehemaligen Troika-Institutionen, sind mit mehr Befugnissen nach Athen zurückgekommen, als es die Troika damals je hatte. Die griechische Regierung muss jede Gesetzesüberlegung, die sie anstellt, bevor sie sie in die Öffentlichkeit trägt, mit den Institutionen abstimmen.
Kauder: Das ist völlig in Ordnung, weil er damit gezeigt hat: Dass das, was bisher gemacht worden ist, nicht reicht.
Detjen: Der Staat ist faktisch enteignet durch den Fonds.
Kauder: Der Staat ist überhaupt nicht enteignet, es soll nur in den Fonds hineingehen. Aber jetzt muss ich mal sagen, das sind alles Diskussionen, nach dem Motto: "Ein blühendes Land wird unter Kuratel gestellt.“ Das ist ja überhaupt nicht der Fall, sondern das Land hat enorme Probleme. Es hat enorme Probleme und man sieht, was da passiert. Es ist doch nicht die Schuld von Europa oder gar von Deutschland, dass man so viele Schulden angehäuft hat, dass man jetzt auch gar nicht mehr auf eigenen Beinen stehen kann, dass die Banken geschlossen sind. Da muss man doch jetzt mal sagen: Das muss sich wieder ändern, und da wollen wir einen Beitrag leisten. Aber es geht auf gar keinen Fall - das haben doch die letzten Programme auch gezeigt -, wenn man nicht konsequent da hinterher ist. Es wird Geld ausgegeben, es hat sich nichts geändert!
In Europa zu gemeinsamen Lösungen kommen
Detjen: Schauen wir auf Europa als Ganzes, Herr Kauder. Man muss am Ende dieser Woche, am Ende der Verhandlung und das, was wir über die Verhandlung in Brüssel erfahren haben, eine Schadensbilanz für ganz Europa ziehen. Die Währungsgemeinschaft ist tief gespalten. Es wurden tief gehende Differenzen sichtbar, über die Vorstellungen von Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Und wenn man das als Nord-Süd-Spaltung bezeichnet, ist das eine knappe, zutreffende Beschreibung?
Kauder: Die letzten Wochen und dann auch Tage haben gezeigt, dass es manchmal sehr schwer sein kann, in diesem Europa zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Aber es hat auch gezeigt, dass es geht, wie wir ja durch den Entschluss am Wochenende gesehen haben. Und das ist manchmal sehr schwierig. Das hat etwas mit Föderalismus zu tun, wie wir ihn in Europa haben, mit selbstständigen Staaten, die gemeinsame Ziele dann erreichen müssen. Auch bei uns in Deutschland gibt es streckenweise richtigen Streit über die Frage der Verteilung der Finanzmittel zwischen Bund und Ländern.
Detjen: Aber die finden auf einem gemeinsamen, föderalen Grundverständnis statt. Wenn wir jetzt wirklich mal den Blick von der Griechenlanddebatte weiten und uns das Wertefundament Europas anschauen, dann muss der Blick ja auch auf Debatten fallen, wie man sie in Europa über die Flüchtlingspolitik führt. Und da hat Europa ja - das ist ja fast überlagert worden durch die Griechenlanddebatte - den Tiefpunkt Europas erreicht hat.
Kauder: Und da sage ich mal: Jawohl, da muss Europa noch sich selber stärken. Aber diese Debatten zeigen ja nur, dass es da noch Defizite in der einen oder anderen Frage gibt. Aber da kann man dann nicht sagen, weil es das gibt, hören wir auf, sondern das müssen wir dann auch lösen. Und ich bin sicher, auch bei der Flüchtlingsfrage kann das noch nicht das letzte Wort gewesen sein.
Europa ist auch eine Rechtsstaatsgemeinschaft
Detjen: Wie sehr beunruhigt Sie das, was man da erlebt? Es gibt keine wirklichen Einigungen über die Aufnahme von Quoten. Da fallen offenbar in den Innenministerkreisen offen xenophobe Sätze. Und Ungarn, ausgerechnet Ungarn, das 1989 den Eisernen Vorhang geöffnet hat, baut jetzt einen Grenzzaun zu Serbien.
Kauder: Ich würde mal sagen, man kann die Probleme, die wir haben, weiter so besprechen oder man kann sagen: Ich versuche sie zu lösen. Und wenn ich an die Situation in Russland und Ukraine denke, rate ich dringend dazu, die friedensstiftende Kraft von Europa, als den wirklichen Antrieb zu sehen und dann sich darum bemühen, auch zu Lösungen und Ergebnissen zu kommen. Ja, das muss man auch deutlich sagen, man kann erkennen, dass es einen nationalen Egoismus gibt in Europa. Der muss überwunden werden. Das ist eine Aufgabe, die uns bleibt. Ich bin, als einer, der in seiner Jugend Europa in erster Linie als Friedenseinrichtung gesehen hat, bereit, diese Schwierigkeiten aufzunehmen und sie anzupacken. Ich kann nur sagen, wenn Europa an solchen Fragen auseinanderbrechen würde, das wäre das wirkliche Chaos und Drama.
Detjen: Welches Signal kann Deutschland da noch aussenden? Die Frage geht gerade an jemanden aus einer Partei, die, wie Sie es gerade auch mit Blick auf die eigene Biografie geschildert haben, eine starke, sehr tief gehende europapolitische Tradition hat und die gerade, auch mit Blick auf ihre Tradition als Europapartei ihren 70. Geburtstag gefeiert hat.
Kauder: Wir brauchen Europa und das Europa muss gestärkt werden. Und da müssen ein paar Dinge, die in der letzten Zeit nicht so gut gelaufen sind, geändert werden. Das muss man auch offen ansprechen. Das Europa ist nicht nur eine Wertegemeinschaft, sondern es ist natürlich auch eine Rechtsstaatsgemeinschaft. Und das heißt, die Dinge, die man miteinander vereinbart, müssen auch gelten. Da darf man nicht einfach wegschauen, wenn Vorgaben nicht erfüllt werden. Wir haben, als wir den Euro eingeführt haben, einen Stabilitätspakt in Europa geschlossen - und die Ersten, die ihn gebrochen haben, war Deutschland unter Gerhard Schröder und das geht halt nicht. Und wenn wir sagen, es muss das Ziel erreicht werden, dass der Haushalt bei drei Prozent des Inlandsprodukts angehalten wird, dass die Verschuldung bei 60 Prozent angehalten wird, dann muss dieses Ziel auch erreicht werden und dann muss man auch mal offene Worte sprechen und muss sagen: "Freunde, ihr erfüllt es nicht!“ Und das zeigt dann nämlich auch, dass wenn sie es nicht erfüllen können, dass da auch in der Wettbewerbsfähigkeit der Wurm drin ist.
Detjen: Sie pochen jetzt auf die Rechtsgemeinschaft, auf das Einhalten von Regeln, aber der Vorwurf, dem Deutschland ausgesetzt ist, ist, dass es kalt und unsolidarisch an juristischen Konstrukten festhält. Blicken wir noch mal auf die Flüchtlingspolitik. Es gibt in dieser Woche eine Szene beim Bürgerdialog der Bundeskanzlerin: Die Kanzlerin trifft auf ein palästinensisches Flüchtlingsmädchen, das ihr unter Tränen schildert, dass sie ihre Schulausbildung in Deutschland beenden möchte und in Deutschland studieren möchte. Angela Merkel sagt: "Tut mir leid, Politik ist manchmal hart“ und streichelt das Mädchen. Wie hätten Sie reagiert, da an der Stelle der Kanzlerin?
Wir leben doch in einem Rechsstaat
Kauder: Also das ist ja alles immer eine Augenblicksituation. Die Kanzlerin tritt, wie kaum ein anderer, dafür ein, Flüchtlinge aufzunehmen, ihnen Heimat zu bieten. Ich hätte dem Mädchen gesagt: "Du hast ja ein Bleiberecht in Deutschland. Du kannst deine Arbeit weitermachen.“ Aber zugleich muss man auch sagen: Auch wir leben doch in einem Rechtsstaat, und ich bin manchmal richtig enttäuscht darüber, wie da umgegangen wird. Wir haben ein Ausländerrecht, ein Asylrecht, eine Rechtsprechung. Und Recht hat friedensstiftenden Charakter, da kann man doch nicht sagen: Wir haben ein Recht, ein Asylrecht und dann trifft ein Gericht Entscheidungen, aber dann halten wir uns einfach nicht daran. Nein, nein, da finde ich schon, müssen wir uns allen klar sagen: Jawohl, diejenigen, die einen Grund haben und auch anerkannt sind, die sollen bleiben. Aber ich kann nicht erkennen, dass massenhaft Leute aus dem Kosovo hierher kommen, aus Albanien, die gar keine Chance haben, hier bleiben zu können.
Detjen: Gut, jetzt schauen wir aber noch mal auf dieses Kind, das jetzt vielen Menschen vor Augen steht, auf dieses offenkundig gut integrierte, junge Kind, dass hier erfolgreich eine Schulausbildung macht. Sie sagen, sie hat ein Bleiberecht - das scheint aber noch nicht so ganz klar zu sein?
Kauder: Dann muss man das juristisch klären - das kann ich jetzt nicht sagen. Auf jeden Fall geht es nicht - wo sind wir denn eigentlich angekommen? -, es geht doch nicht, dass ein Politiker sagt: Ich entscheide, dass es so und so passiert. Dafür haben wir ein Rechtssystem, da kann kein Politiker ... Ich kann in meiner Sprechstunde, wenn ich noch so gerührt bin, niemandem sagen: "Also du bekommst eine Anerkennung als Asylbewerber.“ Das kann doch nicht der Volker Kauder entscheiden, sondern dafür haben wir ein Rechtssystem und das müssen wir auch einhalten. Und da bitte ich darum. Man kann nicht auf der einen Seite verlangen, in Europa mehr Rechtsstaatlichkeit.
Detjen: Herr Kauder, lassen Sie uns am Ende dieses Gesprächs vorausschauend auf Europa blicken. François Hollande, der französische Staatspräsident, hat nach dem Gipfel von Brüssel, am Nationalfeiertag, am 14. Juli, einen Vorschlag für echte, wirkliche institutionelle Reformen der EU als Lehren aus der Krise gemacht. Er hat eine Wirtschaftsregierung gefordert und ein Eurozonen-Parlament gefordert. Ist das die richtige Lehre aus dem, was wir in den letzten Monaten/Jahren in der Eurokrise erlebt haben? Das ist ein Vorschlag, der auch aus der Union immer wieder formuliert worden ist.
Institutionen müssen ihre Aufgaben machen
Kauder: Ja. Ich glaube, dass wir zunächst einmal deutlich machen müssen, dass wir uns an das halten, was wir vereinbart haben, nicht immer noch neue Institutionen, die sich dann wieder nicht an das halten, was vereinbart worden ist. Ob wir ein Eurozonen-Parlament brauchen, da habe ich meine großen Bedenken. Das würde der Integration des Europas insgesamt doch eher einen Schritt zurückgeben, als einen Schritt voran. Wir haben ein Europäisches Parlament, das seine Aufgabe wahrzunehmen hat. Aber jetzt in Europa noch einmal ein Parlament, da habe ich erhebliche Vorbehalte.
Detjen: Aber das war ein Vorschlag, der auch zum Beispiel von Wolfgang Schäuble mal formuliert worden ist 2012.
Kauder: Er hat von einem Europa von zwei Geschwindigkeiten gesprochen mit diesem Thema. Ich kann nur sagen: Zunächst, bevor ich mich über weitere Institutionen unterhalte, möchte ich, dass die Institutionen, die wir jetzt haben, ihre Aufgabe richtig machen und sich an das halten, was wir in Europa vereinbart haben.
Detjen: Aber ist es nicht an der Zeit, jetzt auch in dieser Situation, wo man eine Zeit hat, zwei Jahre lang ohne Wahlen, ohne nationale Wahlen in Deutschland und in Frankreich, wirklich noch mal daran zu gehen, die Versäumnisse, die ja jeder eingesteht bei der Gründung der Währungsgemeinschaft, nachzuholen und eine politische Union zu befördern?
Deutschland muss sich für ein starkes Europa entscheiden
Kauder: Wenn ich sehe, wie es bei der Flüchtlingsfrage gelaufen ist, habe ich da meine Bedenken, ob das überhaupt gelingt, dass man jetzt weitere Souveränitätsrechte abgibt. Wir haben auch noch das Bundesverfassungsgericht, das gesagt hat, dass es alles gar nicht so einfach ist. Und deswegen sage ich mal, wenn wir das, was wir jetzt haben, ausfüllen, richtig machen, uns konsequent an das halten, was vereinbart worden ist, dass jeder in der Eurozone weiß: 'Ich kann nicht damit rechnen, dass da ein politischer Deal gemacht wird', wenn wir mal soweit sind, dass das alles gilt, dann kann man auch über die Frage nachdenken, ob man noch zusätzlich etwas macht.
Detjen: Aber jetzt deutet sich ja etwas an: Europa kriegt sozusagen zwei Entwicklungspfade aufgezeichnet. Den einen jetzt von Hollande, der sagt: 'Politisch engeres Zusammenwachsen, politische Union stärken' und den anderen von David Cameron, der durch die Hauptstädte geht und sagt: 'Wir müssen da wieder Kompetenzen auf die Nationen zurückverlagern, Brüssel, die gemeinschaftlichen Institutionen eher schwächen'. Wofür entscheidet sich Deutschland?
Kauder: Deutschland muss sich für ein starkes Europa entscheiden. Und genau, wenn ich auf Großbritannien schaue, weiß ich nicht, ob es für ein starkes Gesamteuropa sinnvoll wäre, dass die einen sich in der Eurozone verdichten und die anderen immer weiter sich davon entfernen. Ob das ein gutes Europa ist, da habe ich noch meine Zweifel.
Detjen: Herr Kauder, vielen Dank für das Interview.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.