Archiv

Regel im Handball
Kampf gegen das leere Tor

Dass Sportarten mit Regeländerungen ihrer Entwicklung Rechnung tragen, ist keine Seltenheit. Die Anpassungen haben die Sportarten schneller und damit attraktiver gemacht. Im Handball sorgt eine Regel aber seit ihrer Anpassung für ständige Diskussionen - die 7-gegen-6-Regel, nach der der Torwart gegen einen Feldspieler ausgetauscht werden kann. Damit könnte bald Schluss sein.

Von Sascha Staat | 12.07.2020
Handball-EM: Nach der Niederlage gegen Spanien stehen die deutschen Handballer enttäuscht auf dem Spielfeld.
Die deutschen Handballer versuchten, das EM-Spiel 2018 gegen Spanien mit Hilfe der 7-gegen-6-Regel zu drehen, doch sie scheiterten. (dpa-Zentralbild /Monika Skolimowska)
Es ist das letzte Hauptrundenspiel bei der Handball-EM 2018 in Kroatien. Um noch ins Halbfinale einzuziehen, muss Deutschland gegen Spanien gewinnen. Als noch wenige Minuten zu spielen sind, liegen die Männer von Christian Prokop zurück. In seiner Verzweiflung nimmt er den Torhüter vom Feld, um den Rückstand möglichst schnell umzubiegen. Aber die Spanier erzielen einen Treffer nach dem anderen ins leere Tor. Deutschland verliert und scheidet aus.
Möglich wurde dieser Spielverlauf durch eine Regeländerung aus dem Jahr 2016. Seitdem sind Diskussionen an der Tagesordnung. "Diese neue Regel hat den Handballsport verändert. Er ist durch die 7-gegen-6-Regel sehr unattraktiv geworden. Das Spiel an sich, wie wir es lieben, mit aller Dynamik, mit aller Action, mit allen 1-gegen-1-Situationen, ist uns allen weggenommen worden. Deswegen sehe ich das von Anfang an sehr kritisch und bin fest davon überzeugt, dass man diese Regel überdenken muss", das sagt Maik Machulla, Trainer der SG Flensburg-Handewitt.
"Es wird Stehhandball gespielt"
Mit dem Verein wurde er 2018 und 2019 Deutscher Meister. Machulla ist mit seiner Meinung nicht alleine. Die aktuellen Bundestrainer der Männer und Frauen, Alfred Gislason und Henk Groener, gehören ebenfalls zu den schärfsten Kritikern. Aus Machullas Sicht gibt es viele Gründe, warum die Regel dem Handball und vor allem der Abwehrarbeit nicht gut tut.
"Du kannst nicht so agieren, wie Du möchtest. Du musst mehr reagieren, als zu agieren. Das ist etwas, was wir Trainer nicht mögen. Deswegen finde ich diese Regel nicht gut und würde sie gerne ändern."
Eine aktuelle Umfrage der Handballwoche unter internationalen Spitzentrainern ergab, dass eine große Mehrheit die Rückkehr zur alten Regelung wünscht. Viele geben dabei einen Grund an, der auch Machulla Sorgen bereitet.
"Es wird Stehhandball gespielt und sich wenig bewegt. Es wird wirklich nur darauf geachtet, wann die Abwehr den ersten Fehler macht. Damit verliert man die Aggressivität und Beweglichkeit in der Abwehr. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn wenn man vorne sehr statisch spielt, verliert man auch seine Aggressivität und Beweglichkeit im Abwehrspiel."
Für Regelbefürworter ist es ein Mittel für Schwächere
Die taktischen Feinheiten bleiben Machulla und seinen Kollegen dabei zu sehr auf der Strecke. Beim Weltverband IHF, der verantwortlich ist für das Regelwerk, stoßen die Aussagen der Trainer auf Gehör. Das bestätigt Dietrich Späte, der Vorsitzende der Trainer- und Methodenkommission bei der IHF.
"Wir sind mitten in der Diskussion. Schon im Vorjahr haben wir bei den verschiedenen Kontinentalmeisterschaften angefangen, mit den Trainern über mögliche Regeländerungen, neue Ideen und Vorschläge von Trainerseite zu diskutieren."
Dietrich Späte verweist derweil auf die Fakten, die den Kritikern der Regel teilweise widersprechen. "Nur vier Angriffe pro Spiel sind im Durchschnitt mit sieben gegen sechs Spielern gespielt worden. Im Durchschnitt wurden damit nur zwei Tore erzielt. Das ist ein verschwindend geringer Anteil."
Diese Zahlen beziehen sich auf die Männer-WM 2019 und werden von Fürsprechern des sogenannten Sieben-gegen-Sechs gerne angeführt. Einer dieser Befürworter ist Rolf Brack. Er hat in der Bundesliga zuletzt den HC Erlangen und davor Frisch Auf Göppingen trainiert. Vor allem in seiner Zeit beim HBW Balingen-Weilstetten agierte er fast über ein Jahrzehnt regelmäßig mit dem zusätzlichen Feldspieler, weit vor der Regelanpassung 2016.
"Es ist schon eine andere Art von Handball. Aber da sich die Häufigkeit unter fünf Prozent bewegt, sind die Argumente nicht so stark. Ich finde, es gibt wenige Argumente, dass man deswegen eine Möglichkeit, das Spiel spannender zu machen und eine Überraschung zu schaffen, einem Spiel nochmal eine neue Wende zu geben, abschafft."
Die Regel kann erst 2022 geändert werden
Das war mit ein Grund, warum die IHF die Regel ursprünglich anpasste: Man wollte einen weiteren Spannungseffekt einbauen. Rolf Brack ist die ganze Aufregung zu kurz gedacht. Er sieht vielmehr ein anderes Problem, eine falsche Wahrnehmung der Tatsachen.
"Den Ball ins leere Tor zu bekommen ist viel eher ein emotionales oder psychologisches Problem. Gerade bei Auswärtsspielen, wenn es noch durch Zuschauer hervorgerufen wird. Das ist das Hauptproblem, viel weniger die reinen Fakten."
Brack spricht außerdem von einem probaten Mittel für Schwächere, um einen Leistungsunterschied durch eine taktische Maßnahme zu kompensieren. Egal in welche Richtung sich die Diskussion in den nächsten Monaten entwickelt, eine Anpassung kann nicht umgehend vorgenommen werden, wie Dietrich Späte erklärt.
"Regeländerungen im Bereich der IHF sind immer nur in bestimmten Zeitperioden möglich. Das ist so festgelegt. Die nächste Änderung der offiziellen Spielregelung wird zum 1. Juli 2022 wirksam."
Die Kritiker der Regel müssen sich also noch gedulden. Bis dahin wird jeder Treffer ins leere Tor die Diskussionen aber mit Sicherheit weiter befeuern.