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"Regen über Santiago"

1973 putschte das chilenische Militär gegen die gewählte Regierung, es folgten 15 Jahre Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Tausende Gefangene wurden verschleppt, gefoltert und ermordet. Zu den Schriftstellern, die damals das Land verließen, gehörte auch der Drehbuchautor Antonio Skármeta.

Antonio Skármeta im Gespräch mit Jochanan Shelliem |
    Jochanan Shelliem: Antonio Skármeta, Ihre Eltern emigrierten aus Kroatien von der kleinen Insel Brac, gegenüber Split gelegen, Anfang des 20. Jahrhunderts war das, an das andere Ende der Welt. Das war die erste Emigration, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Vielleicht auch ein Exil. Spät, um das Jahr 2000 erst, schildern Sie in Ihrem Roman "Die Hochzeit des Dichters" die Situation dieser dalmatischen Familie, die Ihre Wurzeln trägt.

    Sie selbst, geboren im November 1940, sind 1973 33 Jahre alt, Schriftsteller, Philosoph, ein Schüler von Julián Marías und José Ortega y Gasset, die Doktorarbeit 1964 über, ich nehme an, das damals große Vorbild, den wortkargen brillanten Julio Cortázar. Sie sind ein hoffnungsvoller junger Autor, der den chilenischen Alltag mit Sprachwitz und surrealistischen Bildern abbilden will, in diesen Jahren bereits ausgezeichnet mit dem Premio Casa de las Americas - 1968 erhalten Sie ihn für Ihre Kurzgeschichtensammlung "Nackt auf dem Ziegeldach - Desnudo en el tejado", dies einerseits.

    Und andererseits politisch engagiert, damals ganz selbstverständlich auf der Linken als Mitglied der "Movimiento de Acción Popular y Unitaria", kurz MAPU, im Rahmen der "Unidad Popular", der Volksfront, die den gewählten Präsidenten Salvador Allende trägt. Wo sehe ich Sie im September 1973, als mit dem Sturz und der Ermordung von Salvador Allende vor vierzig Jahren die Hoffnung eines ganzen Volkes begraben wird?

    Antonio Skármeta: Im Jahre 1973 befindet sich die Gesellschaft Chiles durch die politischen Spannungen im Lande hin und hergerissen zwischen den Kräften, die soziale Reformen und eine weitere Demokratisierung der Gesellschaft anstrebten und der Reaktion, die die Reformen stoppen wollte. Der Alltag hatte sich in eine Wiederholung von Konflikten verwandelt. Konflikte, die immer häufiger ausbrachen, die sich zuspitzten. Man rechnete mit einem Putsch. Unter uns Demokraten kursierte sogar ein Losungswort zur Bekanntmachung eines möglichen Putsches. Im Radio würde das Schlüsselwort gesendet werden, diese Losung, die ständig wiederholt werden würde, um den befürchteten Militäranschlag zu melden, bestand aus einem einzigen Satz: "Regen über Santiago”.

    Am 11. September hat es nicht geregnet, aber man hörte diesen Satz "Regen über Santiago”. Ich habe ihn bei mir zu Hause gehört, Minuten später berichteten alle Sender von dem Staatsstreich der Militärs. Ich hörte auch die letzte Ansprache von Präsident Allende, bevor die Radiostation, von der diese Rede gesendet wurde, bombardiert worden ist. Ich ging dann in mein Büro in der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Universität von Chile, wo wir - Professoren und Studenten - uns sehr rasch darüber verständigten, dass die Lage ernster war, als wir befürchtet hatten. Der Militärputsch war brutal, nahm keine Rücksicht auf Menschenleben. Es begann die Flucht vieler ins Exil. Kollegen von mir suchten Asyl in ausländischen Botschaften. Ich blieb noch einige Zeit in Chile, um die Situation zu beobachten, bis ich beschloss, nach Europa zu gehen, um meinen Gedanken als Schriftsteller weiterhin freien Ausdruck verleihen zu können.

    Shelliem: Gab es den Gedanken an Widerstand, was haben Sie gesehen in diesen ersten Tagen der Diktatur des Generals Augusto Pinochet Ugarte?

    Skármeta: Sofort nach dem Putsch der Militärs entfaltete sich ein immense Gewalt gegen alle, die den Staatsstreich nicht unterstützten. Willkürlich wurden Menschen eingeschüchtert und geschlagen, inhaftiert, gefoltert, Leute, die mit allem nichts zu tun hatten, Menschen, die an keinerlei Aktionen teilgenommen hatten. Viele Unschuldige wurden Opfer eines Generalverdachts. Jeder wurde damals verdächtigt, ein Revolutionär zu sein, ein Feind der neuen Ordnung. Diese ersten Tage nach dem Putsch der Militärs waren dramatisch, voller Tragödien und voll von Angst. Ich war verheiratet und hatte zwei Kinder, um die ich mich auch sorgte.
    Auch für mich selbst stellte sich die Frage, was zu tun sei. Ich habe mich gefragt, wohin das alles führt, habe viele entsetzliche Szenen mit angesehen, manche haben sich mir eingebrannt, Szenen von denen Andere mir erzählten, Schilderungen von Festnahmen und Hinrichtungen geliebter Künstler, von Intellektuellen erfüllten mich mit Angst.
    Beispielsweise hatten sie den Komponisten und Sänger Victor Jara festgenommen, hatten ihn in ein Stadion gebracht, drei-, viertausend Menschen waren da gefangen. Die Militärs brachten ihn in einen der Räume dieses Stadions, folterten ihn, den Sänger und Gitarrenspieler, sie brachen ihm die Hände und erst jüngst enthüllten die Ergebnisse seiner Autopsie - dreißig Jahre danach -, dass er mit 43 Schüssen hingerichtet worden ist.

    Ich erzähle das nicht, um dem Ganzen einen pathetischen Unterton zu verleihen, sondern um die Gewalt, den Wahnsinn dieses faschistischen Terrors zu illustrieren, der sich damals im Land ausbreitete. Und das erklärt, warum so viele Tausende von Chilenen damals beschlossen, das Land fluchtartig zu verlassen. Alle Intellektuellen, die ihre Sicherheit und ihre Arbeitsmöglichkeiten gefährdet sahen, sie flohen.

    Shelliem: Welche Atmosphäre trafen Sie, welche schufen Sie in Berlin als Exilierter? Wie ging es Ihnen, wie ging es den anderen Chilenen, wie ging es den anderen chilenischen Intellektuellen und Künstlern, die sich dann in Deutschland wiederfanden? Wie sah das aus?

    Skármeta: Man muss sich vergegenwärtigen, dass dies eine immense Welle von chilenischen Emigranten war. Es waren Zigtausend von Chilenen, die nach Europa gekommen sind, manche kamen in die Bundesrepublik, viele davon nach Westberlin, manche gingen in die DDR.

    Ich kam nach Westberlin und die Atmosphäre, in der wir von den Westdeutschen begrüßt worden sind, war außerordentlich herzlich, verständnisvoll, brüderlich, voller Mitgefühl und zuweilen zärtlich. Es waren die Jahre um 1973, 74, 75 als die meisten der chilenischen Flüchtlinge in Westberlin angekommen sind.

    Willkommen geheißen wurden die Chilenen im Exil von Mitgliedern der deutschen Parteien, der SPD, der CDU. Die Grünen gab es damals noch nicht, doch viele, die später dazugehörten, engagierten sich. Es waren auch die Kirchen, deren Mitglieder sich um Chilenen kümmerten, aufopferungsvoll und unabhängig von ihrer Konfession, auch die Studenten und ihre Organisation haben uns umarmt, boten uns Arbeit, deutsche Intellektuelle brachten uns zum Rundfunk, gaben uns kleine Arbeiten, baten uns, Artikel zu verfassen, boten uns die Mitarbeit in ihren Zeitschriften an, besorgten uns kleine Stipendien. Der Empfang der Chilenen durch die Deutschen war sehr solidarisch, herzlich, warm. Und dafür sind wir Chilenen, die wir dies erfahren durften, dankbar. Bis heute haben sich Freundschaften erhalten, die damals entstanden sind.

    Natürlich gab es unter den Chilenen, die in Deutschland lebten, unterschiedliche politische Orientierungen. Die Volksfront zurzeit von Präsident Salvador Allende hatte aus Gruppierungen mit sehr unterschiedlichen Einstellungen bestanden, da gab es Sozialisten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen von der Linken und so weiter. Jeder hatte eine eigene Ansicht von dem, was zu machen sei. Das aber führte zu internen Debatten unter uns Chilenen, Debatten, die unsere Beziehungen zu den Deutschen nicht berührten. Die Deutschen sahen uns nicht als Parteimitglieder an, sondern als Chilenen. Und manche dieser Chilenen hegten mehr Sympathie für den Sozialismus oder die Sozialdemokratie als andere. Unserem Erscheinungsbild tat das keinen Abbruch.

    Shelliem: Pinochet, der Militärputsch hat Ihnen zunächst die Sprache geraubt. Sie kamen in ein Land, dessen Sprache Sie gar nicht sprachen, was ist mit Ihrer Kultur geschehen, was ist mit Ihrer Sprache geschehen? Es dauert ein Jahrzehnt ... 1984 erringen Sie als Schriftsteller Ihren Durchbruch mit dem Roman Mit brennenden Geduld. Wie hat dieses Jahrzehnt Ihre Arbeit, Ihre Sprache, Ihre Fantasie verändert?

    Skármeta: Auf zweierlei Weise: Solange ich als chilenischer Schriftsteller in Chile schrieb, konnte ich dem komplexen Sprachverständnis meines Publikums vertrauen, ich konnte mit unterschwelligen Zwischentönen spielen, Anspielungen einsetzen, die von den Menschen verstanden worden sind, die über die Kultur verfügten, die die Meine war. In Europa fiel dieser Teil meiner Sprachspiele weg, meine Mitspieler, das Publikum und ich, verfügten nicht über gemeinsame kulturelle Wurzeln.

    Meine deutsche Leserschaft verstand nur noch, was ich ihnen schwarz auf weiß aufschrieb, meine Anspielungen zwischen den Zeilen verstanden sie nicht. Ich entschied mich also für eine klarere Form der Kommunikation, näherte mich einer eher klassischen Struktur von Literatur. Das war für mich nicht nur eine Notwendigkeit, um besser verstanden zu werden, es war meine Evolution, ich habe meine Sprache im Exil ganz neu erfinden müssen und auf diese Weise wurden meine Arbeiten berühmt.

    Shelliem: Wo findet Antonio Skármeta seine Heimat, als er in Berlin lebt, und lässt sich das verknüpfen mit der Erklärung des Erfolgs Ihres Romans "Mit brennender Geduld", der ja Ihre Arbeit, Ihre Sprache im Exil auch verändert, denn Zentrum der Geschichte ist die Begegnung zwischen dem chilenischen Nobelpreisträger Pablo Neruda und seinem Postboten Mario auf der Isla Negra, der seine Angebetete mit Neruda-Gedichten gewinnen will, also im Kern die Rolle des Künstlers bei der Überwindung der Diktatur.

    Skármeta: Meine Kreativität und die Inspiration hat sich in der Zeit, als ich in Deutschland lebte, aus zwei Quellen gespeist: Einerseits aus den Erfahrungen, die ich in Deutschland machen durfte, in einer Kultur, die nicht die Meinige gewesen ist, aus dem Umgang mit dieser großen Gruppe von Chilenen und Lateinamerikanern in Westberlin, die mich die ganze Zeit umgab und in deren Gesellschaft ich mich befand. Gleichzeitig erschloss ich mir die deutsche Sprache, die ich erlernte, begegnete der deutschen Kultur, begann zu lesen, teilzunehmen und entwickelte mit deutschen Kollegen gemeinsam Initiativen, die der Verbreitung der chilenischen Literatur und Demokratie in Deutschland dienten. Ich begann auch Texte deutscher Schriftsteller ins Spanische zu übersetzen. Als Fremder in der Bundesrepublik erschloss ich mir die deutsche Kultur, eine Kultur, die mich bereicherte. Ich begegnete dem deutschen Kino, der Musik und seiner Poesie, entdeckte - verblüffenderweise - die deutschen Dichter der Romantik für mich. Begeisterte mich für Kleist, der zu einem meiner Lieblingsdichter wurde.

    Auf der anderen Seite gewann ich die Erinnerungen an mein Chile in meinen Arbeiten zurück. In meiner Literatur - und das gab mir viel Kraft - versuchte ich meine Erinnerungen an mein Land zurückzuerobern. Dieses Chile, aus dem ich vertrieben worden war, baute ich mit meinen eigenen Worten wieder auf. Es wurde zu meinem kleinen Paradies, zu jenem Land, wo der Poet dem Volke nahe stand, das Volk seine Gedichte kannte, wo wir gemeinsam die Natur genossen und die Demokratie, die Liebe. Und ich empfand es als eine gute Idee, eine Geschichte zu entwickeln, in der ein kleiner Mann aus dem Volke, naiv und jung, wie ein Postbote in der Provinz, auf einen Universaldichter wie Pablo Neruda trifft. Und ich empfand das Spiel mit dieser Reibung, die sich aus der Begegnung dieser Persönlichkeiten entwickelt, als explosiv. Diese Kollision der Subkultur mit der Hochkultur enthüllte eine Magie, einen Zauber, der sich letztlich unabhängig von Sprache und Nation erschloss. Stellen Sie sich vor - "Mit brennender Geduld" - dieser Roman, der in Deutschland veröffentlicht worden ist, im Original vom Piper Verlag, dieser Roman wird heute in 35 Sprachen gelesen und in den meisten Ländern erscheint jährlich eine neue Auflage. In Deutschland auch.

    Shelliem: Wo bleiben die dunklen Seiten des Exils, Antonio Skármeta? Sie haben viele Aspekte des Exils thematisiert, oft aus Kinderaugen von der Sehnsucht nach der Heimat bis zur Ausländerfeindlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, 1986 beispielsweise im Hörspiel Hochzeit für den SWR, all das mit wachsendem Erfolg. Gab es eine Zeit, in der Sie sich geschämt hatten, in der Deutschland schwarz gewesen ist, in der die Depression gesiegt hat? Und wie haben Sie diese überwunden?

    Skármeta: Es ist gut, dass Sie danach fragen. Die Erfahrung des Exils ist eine dramatische, unsanfte Erfahrung, die man machen muss. Nur durch die geschwisterliche Weise, in der wir in Deutschland aufgenommen worden sind, durch die Warmherzigkeit, nur durch die freundschaftliche Weise, mit der die Leute Exilierten begegnet sind, war diese Zeit zu überstehen.

    Der Exilant ist eine Person, die in Wirklichkeit nirgendwo lebt. Er fühlt sich nicht in der Gesellschaft integriert, die ihn aufnimmt und er hat keine Möglichkeit, dorthin zurückzukehren, wo er gern wäre. In die Gesellschaft, die er verlassen musste. Dazu kommt, er lebt nicht in der Gegenwart, er lebt für die Zukunft, für die Zeit, in der er zurückgekehrt sein Land wieder erleben wird. Um diese Zukunft und sein Land zurückzugewinnen, macht er viele Dinge, von denen wenige bedeutungsvoll sind. Als Exilant sucht er Wege, um den im Lande Verbliebenen zu helfen und diese Arbeit ist beschwerlich und voller Frustration. Wenn die Diktatur nicht weichen will und die Zeit vergeht, wird die Solidaritätsarbeit zum monotonen Mühlstein, immer wieder eine neue Demonstration, noch eine Versammlung, stets die gleichen Stände, wo man Empanadas zum Solidaritätspreis verkauft, Abende in der Gedächtniskirche, wo sich 85 Leute einfinden, immer wieder schlechte Nachrichten, es ist ein Prozess, in dem man ermüden kann. Ein Leben, das den Exilanten deprimiert. Eine andere Sache kommt noch dazu.

    Exilanten haben Kinder und die Kinder wachsen mit ihnen im Exil auf. Die Eltern pflegen ihre Verbindungen zum Heimatland, sie unterhalten intensive Beziehungen mit Chile und sie wollen, dass ihre Kinder dieselben starken Gefühle für dieses Chile, das sie verloren haben, empfinden sollen. Doch die Jungen - ja, sie haben die neue Sprache rasch gelernt, ja, sie verstehen die Musik, die sie hören, ja, sie lernen andere Exilanten kennen, deren Probleme ihren ähneln, Griechen, Syrer, Spanier, ihnen ist die Welt viel weiter und komplexer als sie ihren Eltern in ihrem beschädigten Kosmos erscheint.

    Insofern entwickelt sich eine Krise zwischen den Generationen im Exil, das die Eltern auf eine andere Weise erleben als ihre eigenen Kinder. Und mit den Jahren spüren die Eltern, wie sie ihre Kinder verlieren. Und die Kinder stehen vor der Alternative, sich in Deutschland zu assimilieren, deutscher zu werden als es ihre Eltern sind, um in der deutschen Gesellschaft einzutauchen, an ihr teilzuhaben. Oder in dem Getto ihrer Eltern zu verharren. Und die Mehrheit der Jungen geht hinaus in die Gesellschaft, nimmt am deutschen Leben teil. Und so ist es gekommen. Die Alten gingen nach Chile zurück, die Jungen sind in der Bundesrepublik geblieben.

    Shelliem: 1989, als in Deutschland die Mauer fällt, gehen Sie nach Chile mit der Öffnung, Sie nehmen Ihre Familie mit, Ihre Söhne gehen mit. Was für ein Chile finden Sie vor? Wieviel Erfolg hatte Augusto Pinochet, hatte der Militärputsch?

    Skármeta: Die Diktatur hatte keinen Erfolg darin, die chilenische Begeisterung für die Demokratie zu eliminieren. Während der Militärdiktatur in Chile haben viele ihr Leben riskiert und sind bei dem Versuch gestorben, Organisationen aufzubauen für den Widerstand gegen Pinochet. Die sozialen Bewegungen und die politischen Organisationen fanden über die Jahre einen Weg, den Widerstand gegen die Junta zu verbreitern und dieser gemeinsame Widerstand mündete in dem Plebiszit von 1988, das Pinochet angeregt hatte, um seine Position in der chilenischen Gesellschaft öffentlich zu bestätigen. Das Volk hatte sich sehr gut organisiert, es kam zu einer Kampagne und man einigte sich auf den Slogan NO!. Und dieses NO! zu Pinochet markiert den Anfang vom Ende seiner Diktatur und den Beginn der Veränderungen, die Chile heute prägen. Es ist ein Prozess, der durch das Bedürfnis und das Temperament der Chilenen, in einer Demokratie zu leben, befeuert wird.

    Shelliem: "Am Ende des Regenbogens", in Ihrem jüngsten Roman, 2011 erschienen, haben den gewaltlosen Sturz, die Abwahl des Diktators Augusto Pinochet durch die erfolgreiche Fernsehkampagne von 1990 thematisiert, als die chilenische Mehrheit in der Regenbogenkampagne mit "No!" stimmte. In diesem Roman zitiert die Tochter des mutlosen Werbetexters, der die Kampagne zu verantworten hat, eine Schlagzeile von EL PAÍS aus Spanien, 15 Minuten genügten, um 15 Jahre zu beenden. Sehen Sie diese Situation so optimistisch, dass die Folgen, die Narben, die die Militärdiktatur hinterlassen hat, so geschlossen sind heute in der chilenischen Gesellschaft?

    Skármeta: Man muss dazu sagen, dass diese 15 Jahre der chilenischen Diktatur grässliche Jahre gewesen sind, in denen das chilenische Volk seine sozialen Organisationen und Parteien ordnen und im Widerstand gegen Pinochet organisieren konnte, einem Widerstand, der zuweilen heroisch gewesen ist. 1988 bot sich die Möglichkeit, Pinochet durch einen Volksentscheid zu schlagen. Zum ersten Mal nach 15 Jahren hatte Pinochet der Opposition erlaubt, ein kleines Zeitfenster im Fernsehen zu gestalten, also eine Kampagne mit dem NO! gegen Pinochet für die Demokratie. Einem Werbefachmann wurde die Aufgabe übertragen, diese 15 Minuten zu gestalten und den Menschen die Tragweite des Plebiszits vor Augen zu führen. Chilenen, die verängstigt waren, die der Volksabstimmung nicht vertraut haben, die apathisch gewesen sind und deprimiert, sie sollten wählen gehen. Jawohl, es machte Sinn, mit NO! zu stimmen, wenn sie mit NO! stimmten, kehrten Demokratie und Freude in das Land zurück.
    Dieser Werbefachmann kreiert also 15 Minuten - die brillant gewesen sind - voller Humor, voller Poesie und Drama, ein Clip, der sich als sehr motivierend in der Volksabstimmung erwies. Die Chilenen gingen wählen, sie beteiligten sich friedlich, ohne Hass, gaben gewaltlos ihr NO! zu Pinochet an der Wahlurne ab. Dieses Plebiszit und die Kampagne entwickelten sich zu Elementen, wenn auch nicht zu den Entscheidenden, die den Wechsel einleiteten und zu dem Triumph der Demokratie in Chile geführt haben.

    Als die spanische Tageszeitung "La Republica" am Tag nach dem Sieg der Volksabstimmung die Schlagzeile veröffentlichte "15 Minuten haben ausgereicht, um 15 Jahre Diktatur zu beenden" war das sicherlich eine Übertreibung, gleichzeitig aber eine freundliche Geste den Künstlern gegenüber, eine Verneigung vor der Kraft der Kunst, die in dieser Kampagne eine Möglichkeit gefunden hat, etwas zur Freiheit beizutragen, für die das Volk gekämpft hat.

    Shelliem: Im Frühjahr 2000 nehmen Sie das Angebot des chilenischen Präsidenten Ricardo Lagos an, Botschafter Ihres Landes in Berlin zu werden. Wie verstanden Sie sich bis 2003, wie sehen Sie Ihre Rolle als Diplomat?

    Skármeta: Während meiner Zeit im Exil habe ich mich in meiner Literatur wie im alltäglichen Leben stets als Botschafter gefühlt. Als Botschafter einer Demokratie der Herzlichkeit, des Traumes von einer gerechteren Gesellschaft, der Freundschaft und der Zärtlichkeit. Ich habe diese Rolle ebenso ausgefüllt wie meine chilenischen und meine lateinamerikanischen Kollegen. Und als ich später den Auftrag von Präsident Lagos erhielt, Chiles Botschafter in Deutschland zu werden, habe ich sehr gut verstanden, dass er das tat, weil er wusste, dass ich ein bekannter Schriftsteller war, der in Deutschland Filme gedreht hat, dass dort meine Bücher veröffentlicht worden sind, dass ich ein sehr aktives soziales Leben in der Bundesrepublik geführt habe, über Beziehungen zu Persönlichkeiten in allen Schichten der Gesellschaft verfügte, ich kannte Politiker und Intellektuelle, Journalisten, Unternehmer - sie kannten mich. Meine Ankunft als Botschafter in der Bundesrepublik machte vor allem eines klar: Chile hat sich gewandelt. Dies war nicht mehr das Chile von Augusto Pinochet, es war das demokratische, das freundliche Chile mit einem Freund, den man schon kennt. Und ich habe diese Zeit als Botschafter in Deutschland genossen, sie war sehr angenehm, sehr positiv, wieder - auch als Repräsentant der chilenischen Republik - standen mir alle Türen offen, sie blieben es und auch die Presse blieb mir wohl gesonnen.

    Shelliem: Wenn Sie ein Resümee ziehen, ist mit dem Militärputsch eine Generation zum Schweigen gebracht worden, die Generation des Magischen Surrealismus, hat der Militärputsch die Sprache der Literatur einer Generation verändert?

    Skármeta: Nein, die Sprache hat sich nicht verändert. Was sich verändert hat, das war das Leben, das Leben aller Menschen und die Schriftsteller sind Teile der Bevölkerung. Sie teilen ihr Leben. Die Menschen hatten unter der Folter gelitten, gehungert, Zeiten der Arbeitslosigkeit erlebt, viele gingen ins Exil. Oft hat der Schmerz Familien zerbrochen, ein Klima der Unsicherheit geschaffen und der Angst, der Armut. All das hatte das Leben aller geprägt, auch das der Schriftsteller, die sich dieser Themen angenommen haben. So ist die chilenische Literatur heute eine skeptischere Literatur geworden, eine analytischere Literatur, Innenansichten spielen eine große Rolle, verzweifelte Untertöne spielen manchmal mit - der epische, der euphorische Schwung von früher ist verschwunden.
    Der ehemalige chilenische Diktator, Augusto Pinochet
    Der ehemalige chilenische Diktator, Augusto Pinochet (AP)