Friedbert Meurer: Am 22. September wurde neben dem Bundestag auch der hessische Landtag neu gewählt. Schwarz-Gelb verlor wie im Bund seine Mehrheit. Immerhin hat sich die FDP in Hessen gerade noch über die Fünfprozenthürde retten können. Auf der anderen Seite für Rot-Grün hat es auch nicht gelangt und so wird jetzt seit Wochen ein Dominospiel veranstaltet in Wiesbaden: wer sich zuerst bewegt verliert. Nach zwei Monaten gibt es noch nicht einmal Koalitionsverhandlungen, stattdessen ein endloses Sondieren, jeder mit jedem. Damit soll ab heute Schluss sein.
Eigentlich steht für die Große Koalition im Bund der Zeitplan. Nächste Woche soll der Vertrag unterzeichnet werden, Mitte Dezember die SPD-Basis abstimmen. Nach ihrem Parteitag in Leipzig legt die SPD-Führung aber die Latte jetzt etwas höher. Die Reaktion lässt nicht auf sich warten.
Die Große Koalition im Bund, kommt sie wirklich? Was geschieht in Hessen? – Professor Jürgen Falter ist Parteienforscher an der Universität Mainz. Guten Tag, Herr Falter.
Jürgen Falter: Guten Tag!
Meurer: Bevor wir über den Bund reden, kurz die Frage: Wenn Sie von Mainz aus rüber nach Wiesbaden über den Rhein schauen, können Sie sehen, was da herauskommt?
Falter: Das kann man noch nicht sehen. Aber es ist doch ganz interessant, dass wieder etwas auf die Tagesordnung geholt wird, was schon mal vorher still, leise diskutiert worden ist, nämlich eine mögliche Minderheitsregierung von Schäfer-Gümbel. Mit Duldung der Linken wäre das dann. Er müsste ja gewählt werden mit deren Stimmen, denn die FDP wird das bestimmt nicht machen.
Meurer: Offensichtlich steckt hinter dieser möglichen Minderheitsregierung die Aversion der SPD in Hessen gegen die CDU. Ist das so eine Parallele mit dem Bund, auf keinen Fall mit der CDU zu koalieren?
Falter: Hessen ist schwieriger. In Hessen herrscht wirklich ein raues politisches Klima. Und da Sie schon davon sprachen, wenn man von Mainz nach Wiesbaden schaut: In Mainz geht das alles sehr viel ruhiger zu, im rheinland-pfälzischen Landtag, da sind die Gegnerschaften eher in den Parteien und nicht zwischen den Parteien, während in Wiesbaden doch ein ziemlich vergiftetes Klima herrschte, und das lag nicht nur an Roland Koch. Das lag eigentlich an allen und das macht es viel schwieriger, tatsächlich jetzt ernsthaft Koalitionen ins Auge zu fassen mit Gegnern, die man fast als Feinde behandelt hat.
Große Koalition in Hessen nur aus Machtkalkül möglich
Meurer: Sie glauben nicht an die Große Koalition in Hessen?
Falter: Ach Gott, sie kann kommen. Aber das ist dann eine reine Vernunftskoalition, das ist ohne jegliche Liebe, ohne Zuneigung, ohne gemeinsames Projekt. Das ist einfach dann aus staatsbürgerlicher Verantwortung und aus Machtkalkül heraus.
Meurer: Sie haben eben Ihre Einschätzung gegeben, dass das Verhältnis zwischen CDU und SPD im Bund besser sei. Der Parteitag in Leipzig hat jetzt bei der SPD gezeigt: Da steckt offenbar noch viel, ich sage mal, rebellisches Potenzial an der SPD-Basis. Glauben Sie noch an die Große Koalition im Bund?
Falter: Ich glaube immer noch daran, und zwar deswegen, weil die Vernunft dafür spricht. Die Vernunft spricht vonseiten der SPD vor allen Dingen dafür, denn was wäre denn die Alternative für die SPD? Entweder Opposition gegen eine Regierung Schwarz-Grün - das kann der SPD nicht recht sein, weil die Grünen dann sozusagen aus dem Linken Lager herausgebrochen würden -, oder aber Neuwahlen – das kann der SPD noch viel weniger recht sein. In den Umfragen, wirklich in allen Umfragen der letzten Wochen steht sie nicht besser da als bei der Bundestagswahl.
Meurer: Die Mitglieder entscheiden häufig nach Herz und nicht nach Verstand. Wie groß ist die Gefahr, dass die Mitglieder Nein sagen?
Falter: Ich schätze, es werden vielleicht 40 Prozent Nein sagen und 60 Prozent ja sagen, und zwar deswegen, weil ja noch eine erhebliche Seelenmassage und vielleicht auch Herzmassage stattfinden wird nach der Koalitionsvereinbarung, wenn sie unterzeichnet ist. Dann wird es Regionalkonferenzen geben, dann wird sich die gesamte SPD-Führungsmannschaft dafür ins Zeug werfen müssen, weil ja alle eingebunden sind in den Verhandlungen.
Das heißt mit anderen Worten: Da dürfte der eine oder andere Schwankende noch überzeugt werden. Und wenn man denen dann auch noch vor Augen führt, was die Alternativen sind, glaube ich, wird der Verstand vielleicht dann doch über das Herz siegen.
Merkel wird der SPD nur symbolisch Zugeständnisse machen
Meurer: Glauben Sie, Angela Merkel, die Bundeskanzlerin, wird sagen, na gut, dann geben wir der SPD ein bisschen mehr, Hauptsache die Basis spielt mit?
Falter: Ich glaube, es geht vor allen Dingen um symbolische Zugewinne. Ich glaube nicht, dass Angela Merkel bei bestimmten Dingen wie beispielsweise dem Betreuungsgeld der SPD wirklich etwas offerieren würde – schon deswegen, weil sie Angst haben muss, dass das im Unions-Lager zu einem wirklich tiefen Zerwürfnis führen würde. Das will sie auf keinen Fall haben. Ich glaube nicht, dass sie wirklich am schwächeren Ende sitzt, solange die SPD es ausschließt, mit der Linken eine Koalition einzugehen. Das tut sie zwar für 2017 nicht mehr, aber für 2013 und wohl auch 2014 hat sie das ausgeschlossen. Das wäre ein Wortbruch und darauf setzt Angela Merkel meines Erachtens.
Meurer: Ich erinnere mich daran, dass der "Spiegel“ mal 1998 Gerhard Schröder in den Wolken gezeigt hat, während der Koalitionsverhandlungen zu Rot-Grün, und sozusagen den ganzen Job Oskar Lafontaine überließe. Haben Sie den Eindruck, Angela Merkel schwebt im Moment auch über den Wolken und kümmert sich zu wenig um die Koalitionsverhandlungen?
Falter: Ich glaube, das wäre Angela Merkel unterschätzt. Die ist, wenn ich das richtig sehe, wenn ich richtig informiert bin, über alles informiert, sozusagen über den jeweiligen Stand. Sie nimmt Einfluss nicht nur über SMS, sondern auch auf vielen anderen Wegen, nämlich über Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung.
Ich glaube schon, dass sie im Auge hat, was machbar ist, was sie der Union zumuten kann, was nicht zumutbar ist, nur dass ihre Vorstellungen natürlich über die Zumutbarkeit andere sind, als die in, sagen wir, konservativeren Teilen der Union.
Meurer: Die Kanzlerin denkt vom Ende her, heißt es immer. Ist das Ende Neuwahlen?
Falter: Das Ende könnten Neuwahlen sein. Das will keiner wirklich. Neuwahlen bedeuten nicht nur einen enormen finanziellen, sondern auch einen riesigen persönlichen und organisatorischen Aufwand. Und die Gefahr ist natürlich, dass das Patt wieder herauskäme, das wir im Augenblick haben. Aber sie muss sie nicht fürchten und deswegen wird sie sie sicher als Ultima Ratio mit einkalkulieren.
Meurer: Professor Jürgen Falter, Parteienforscher an der Universität Mainz, zu den Koalitionsverhandlungen im Bund und auch zu den Sondierungen in Hessen. Herr Falter, danke und auf Wiederhören nach Mainz.
Falter: Gerne.
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