Archiv

Regierungsbildung in Großbritannien
"Cameron hält alle anderen für Vollidioten"

David Cameron hat nach seinem Rücktritt gesungen - der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees wertet das als einen Ausdruck von Frust über seine Partei und den Ausgang des Brexit-Votums: "Er hat zu den Briten gesagt, bitte, macht den Mist ohne mich", sagte Glees im DLF. Für den Ausgang des Referendums macht Glees auch Angela Merkel mitverantwortlich.

Anthony Glees im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Anthony Glees
    Der Politologe Anthony Glees (June Costard)
    Martin Zagatta: Erst sah es nach einer Hängepartie aus, doch jetzt soll alles ganz schnell gehen, zumindest die Bildung der neuen Regierung in Großbritannien. Schon morgen wird Theresa May, die neue Premierministerin, in die Downing Street einziehen und sie ist schon dabei, ihr neues Kabinett zusammenzustellen. Auf der Insel sind wir jetzt mit dem Politikwissenschaftler Anthony Glees verbunden. Herr Glees, schönen guten Tag nach London!
    Anthony Glees: Guten Tag, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Glees, wie es jetzt bei Ihnen weitergeht, darüber reden wir gleich. Aber was war das denn gestern für ein merkwürdiger Abgang von Premierminister Cameron, als er seinen Rücktritt verkündet hat? Welches Lied hat er da eigentlich angestimmt?
    Glees: Wissen Sie, ich habe da Homer Simpson gehört, Homer Simpson und sein "Do, do, do". Das bedeutet, den Mist könnt ihr alleine und ohne mich machen, oder ihr seid ja alle bekloppt, ich hau jetzt ab. Aber was das wirklich war, das weiß nur David Cameron.
    "Ein katastrophaler Ausgang für David Cameron"
    Zagatta: Jetzt ist aber David Cameron Brite und kein Italiener wie Berlusconi. Wie wird denn das Singen heute bewertet in London? Wollte Cameron zeigen, dass er zufrieden abgeht, oder hat er die Kontrolle verloren? Was sagen denn heute Ihre Landsleute?
    Glees: Die Landsleute sagen, dass wie viele politische Karrieren auch die Karriere von David Cameron in Tränen geendet hat. Er hat gerade das herbeigebracht, was er nicht haben wollte. Er ist noch ein junger Mann, keine 50 Jahre alt. Seine beste Zeit hätte ihm noch bevorstehen müssen. Er hat es alles weggeworfen und alles weggeworfen, weil er die Stimmung in seiner eigenen Partei missverstanden hat. Er hat ständig auf die Europäische Union geschimpft und dadurch seine eigene Karriere gemacht, nur dann ein Referendum haben zu müssen, das er nicht haben wollte, und dann gleich überraschenderweise das Referendum verloren. Ein katastrophaler Ausgang für David Cameron, ähnlich wie für Tony Blair durch den Irak-Krieg. Cameron wird vom Referendum, vom Austritt aus der Europäischen Union auf alle Zeit jetzt geprägt werden.
    Zagatta: Aber wenn ich es recht in Erinnerung habe, Tony Blair ist ja mit versteinertem Blick abgegangen. Frau Thatcher, glaube ich, die hat sogar geweint, als sie die Downing Street verlassen hat. Was war das für ein merkwürdiger Auftritt gestern? Wie erklärt man sich dieses Singen?
    Glees: Ich erkläre mir das Brummen, das Singen, mit dem Gedanken von David Cameron, dass er wirklich alle anderen für Vollidioten hält. Seine eigene Partei hat ihn in den Rücken gestoßen. Die Leute, die eigentlich für ihn hätten wählen müssen, haben ihn verlassen. Und wie gesagt: Er hat zu den Briten gesagt, bitte, macht den Mist ohne mich.
    "Wir haben weder eine Regierung, noch eine Opposition"
    Zagatta: Das geht ja jetzt auch so weiter. Was ist da bei Ihnen auf der Insel eigentlich los, weil Großbritannien ist ja für uns so etwas wie das Mutterland der Demokratie? Jetzt schmeißen die Brexit-Sieger hin, ihre vom Parlament ausgesuchte Kandidatin bei den Tories dann auch. Was ist da bei Ihnen los im Moment, Herr Glees?
    Glees: Es ist allerlei los. Ich meine, wir haben hier eine tiefe politische Krise, denn man darf nicht vergessen: Es sind nicht nur die Tories, die in einer Krise stecken. Sie hoffen, herauszukommen durch Theresa May. Wir müssen das mal abwarten. Aber auch Labour steckt in einer Krise. Wir haben weder eine Regierung, noch eine Opposition, und für eine Demokratie, die immer als die stabilste Demokratie in der Welt galt, ist das sehr schmerzlich, besonders natürlich für die 16 Millionen, die für ein Verbleiben in der Europäischen Union gestimmt haben. Es waren 17, die heraus wollten, 16, die drin bleiben wollten, und diese 16 Millionen sind enttäuscht und sehen plötzlich eine ganz andere Zukunft für sich, und ob diese Zukunft die wirtschaftliche Erneuerung bringen wird, die Großbritannien bestimmt dringend nötig hat, das wissen weder die 16 Millionen noch die 17 Millionen. Denn alle, die für den Brexit waren, sind jetzt abgehauen, und Theresa May, die war ja für ein Verbleiben, obwohl sie sagt, wir sind alle jetzt Brexitiers. Bei ihr war das gar nicht der Fall.
    "Wir sind gespalten"
    Zagatta: Gehen Sie denn davon aus, dass Theresa May jetzt die Tories und auch vielleicht das Land überhaupt, dieses gespaltene Land, das Sie uns da gerade schildern, wieder zusammenführen kann?
    Glees: Wir wissen genau, was Theresa May will. Aber ob sie das bekommt, was sie will, das ist eine ganz andere Frage. Nicht nur gespalten, aber das Referendum war hauptsächlich auf die Migrationsfrage gekämpft. Das war es! Wir wissen schon, die Politologen wissen schon aus den Fakten, dass gerade die Orte in Großbritannien, die am wenigsten von der EU-Migration betroffen wurden, am stärksten für Brexit gewählt haben. Und genau umgekehrt: Die Orte, wo es am meisten Immigranten aus der Europäischen Union gab, die haben die meisten Stimmen für ein Verbleiben hervorgebracht. Das Land ist gespalten, Theresa May sagt, ja wir sind eine Nation, wir müssen uns jetzt vereinigen auf das Brexit-Programm, aber kein Mensch weiß, was dieses Programm ist. Und wie gesagt: Wir sind gespalten. Sie will bestimmt eine Scheidung, eine Scheidung auf englische Art, wo die Briten das Gute bekommen und Sie in der Europäischen Union das Schlechte für sich behalten. Das will sie!
    Zagatta: Was eine Rosinenpickerei wäre, was Frau Merkel ja so schon abgelehnt hat. - Herr Glees, wie stark gilt denn diese neue Premierministerin? Es gibt ja schon Vergleiche mit der legendären Margaret Thatcher. Die Frage, ob Theresa May so etwas wie eine neue Eiserne Lady werden kann, oder ähnelt sie vielleicht sogar eher Angela Merkel?
    Glees: Sie ist eisern. Sie ist hart. Als unsere Innenministerin war sie eiskalt und hart. Es waren von ihr wenig Emotionen zu spüren. Aber die Partei, die sie hat, ist gespalten. Sie muss jetzt sofort überlegen, was sie mit den Brexitiers tut. Bringt sie diese Leute mit ins Kabinett, gibt sie denen führende Positionen im Kabinett, oder lässt sie die ganz heraus und bekommt dann in Monaten schon einen Dolchstoß in den Rücken, eben weil sie den Brexit nicht schnell genug oder nicht zugunsten von Großbritannien herbeigeführt hat? Es ist eine sehr, sehr schwierige Zeit. Es werden Sachen gemacht wie in einer richtigen Scheidung, Sachen gemacht, die jahrelang hindauern werden. Und ob sie die Kraft hat, das zu machen, was Cameron nicht machen konnte, was John Major nicht machen konnte, letzten Endes auch Margaret Thatcher nicht machen konnte, das würde ich sehr bezweifeln.
    "Das kann Ihnen in Deutschland auch passieren!"
    Zagatta: In welcher Stimmung ist man denn da als langjähriger politischer Beobachter so wie Sie? Sind Sie da sehr besorgt? Das klingt ja schwierig, was Sie uns da alles schildern. Oder sind Sie zuversichtlich?
    Glees: Ich bin sehr besorgt, denn die 16 Millionen, die nicht heraus wollten, sind natürlich immer noch sehr deprimiert. Aber von den 17 Millionen hört man kein Jubelgeschrei und man kann keine Zuversicht haben, dass die eigentlich verstehen, worum es geht. Aber wissen Sie, es gibt auch eine andere Sorge. Die andere Sorge ist: Viele der führenden Brexitiers wollten nicht nur Großbritannien aus der Europäischen Union haben. Sie wollten die Europäische Union als solche zerstören. Die Kräfte, ich würde fast sagen, die parafaschistischen Kräfte in Großbritannien, die gegen Migranten sind, auch wenn sie keine kennen, gegen Migranten und deswegen so gestimmt haben, diese Kräfte gibt es in der Europäischen Union überall. Wenn Frau Merkel letzten Sommer eine andere Politik gegenüber den Flüchtlingen geführt hätte, so menschlich diese Politik auch war, wäre wahrscheinlich Großbritannien immer noch Mitglied der Europäischen Union. Aber das, was uns jetzt zugefügt worden ist, das kann Ihnen auch noch in Deutschland in den kommenden Monaten und Jahren zukommen. Also passen Sie auf!
    Zagatta: Machen Sie uns keine Angst, Herr Glees.
    Glees: Ich bin Politologe.
    Zagatta: Das ist alles kompliziert, komplizierte Verwicklungen. Frau Merkel sei mit schuld, sagt der Politologe Anthony Glees, an dem, was sich in Großbritannien getan hat. Alles ein bisschen schwer zu verstehen, aber ich bedanke mich ganz herzlich für diese Erläuterungen und für Ihre Einordnungen. Schönen Dank nach London!
    Glees: Gerne geschehen, Herr Zagatta.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.