Erst vor einem Jahr hatte sich Premierminister Saad Hariri dem Druck der Straße gebeugt und nach langanhaltenden Protesten im Libanon seinen Rücktritt angekündigt. Damals feierten die Demonstranten seinen Rücktritt. Doch heute ist nichts mehr von dieser Freude übrig. Die wirtschaftliche Lage des kleinen Mittelmeerstaates ist verheerend, die weltweite Pandemie hat das Land fest im Griff und die Trauer und Wut über die desaströse Explosion im Beiruter Hafen am 4. August ist noch lange nicht verarbeitet. Und: Saad Hariri ist wieder zurück. Er wurde erneut zum Ministerpräsidenten des Libanon ernannt und mit der Regierungsbildung beauftragt. Damit taucht der Sohn des ermordeten ehemaligen Premierministers Rafik Hariri wieder auf der politischen Bühne auf.
Die Demonstranten wollten eine Alternative zu Hariri
Was bedeutet das für die Zukunft des Libanon? Bernhard Hillenkamp ist Islamwissenschafter und war bis vor wenigen Wochen noch in Beirut als Landesdirektor des Forum Ziviler Friedensdienst. Er sagte im Dlf, dass die Demonstranten von damals, die gegen Hariri und das Establishment demonstrierten, sich enttäuscht von Hariris erneuter Ernennung zeigten, weil Hariri für das alte Establishment stehe.
"Auf der anderen Seite gibt es auch politische Analytiker, die sagen, es kann nur jemand wie Hariri eine neue Regierung schaffen, die dann die Voraussetzung für Neuwahlen ist." Es gebe also auch positive Reaktionen auf seine Ernennung. "Hariri muss aber schauen, dass er einen breiten Konsens in der politischen Elite unter den Parteien herstellt." Hariri betone zwar, er wolle eine technokratische Regierung bilden, die nicht aus "den alten Köpfen" bestehe. "Aber er ist selber einer der alten Köpfe, daher glauben es nicht alle. Aber ich glaube schon, dass es möglich ist, eine technokratische Regierung einzusetzen, die mittelfristig die unterschiedlichen Verhandlungen mit den Geldgebern aus dem Ausland führen können", so Hillenkamp.
Die Demonstranten wollten aber eine Alternative zu Saad Hariri, die einen neuen Anfang beschreiben könne. "Das scheint aber nicht möglich zu sein, denn dies ist bereits der dritte Versuch, eine neue Regierung zu etablieren." Es sei auch noch nicht sicher, ob Hariri überhaupt eine Regierung auf die Beine stellen könne. "Das wird sehr schwer werden."
Viele Libanesen wollen das Land verlassen
Der Libanon leidet unter einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise. Hunderttausende sind seit der verheerenden Explosion noch obdachlos. Der Druck auf die Menschen, auszuwandern, sei seither viel größer geworden, sagte Libanon-Experte Hillenkamp. "Die Leute, die können, wollen weg. Viele Libanesen haben einen zweiten Pass." Viele Menschen glaubten auch nicht daran, dass es zu einem Reformprozess kommen werde. Natürlich gebe es auch Menschen, die das Land nicht verlassen wollten. "Viel Hoffnung in einen politischen Prozess haben sie nicht, weil sie die gleichen Menschen immer noch an der Macht sehen."
Wirtschaftlich und demografisch seien die Entwicklungen seit einem Jahr eine große Katastrophe. "Der Libanon muss sich neu erfinden", so Hillenkamp. Aber man dürfe nicht vergessen, dass auch ein Bürgerkrieg 15 Jahre lang das Land zerstört hat und der Libanon in den Neunziger- und Zweitausender-Jahren wieder funktioniert hat." Es werde lange dauern, bis eine demografische und auch wirtschaftliche Neuorientierung umsetzbar sei.