Jörg Münchenberg: Eine handfeste Überraschung hat es gestern Abend auch in Thüringen gegeben. Zunächst einmal waren eigentlich nur unverbindliche Gespräche zwischen der CDU und den Vertretern von SPD, Grünen und Linkspartei angesetzt, um nach Auswegen aus der verfahrenen Lage zu beraten.
Der frühere Ministerpräsident Bodo Ramelow ist mit einem sehr konkreten Vorschlag vorgeprescht: Bis zu Neuwahlen solle eine Expertenregierung übernehmen, unter Führung der früheren Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht von der CDU.
Wir haben mit Politikwissenschaftler Hans Vorländer von der Technischen Universität Dresden darüber gesprochen, wie er diesen Coup von Bodo Ramelow, der jetzt plötzlich die ehemalige CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht faktisch aus dem Hut gezaubert hat, bewertet?
Hans Vorländer: Ja, es ist gleichermaßen überraschend und genial. Wenn man in der Sprache des Spiels "Mühle" bleibt, dann ist das ein genialer Zug, der die CDU wirklich in eine Zwickmühle hineinmanövriert hat. Sie kann eigentlich dieses Angebot nur noch annehmen, wenngleich sie natürlich kein Interesse hat an schnellen Neuwahlen. Insofern ist das sicherlich richtig, auch was Ihr Korrespondent gerade sagte, dass sie den Preis noch hochtreiben möchte, denn sie hat kein Interesse an schnellen Neuwahlen. Insofern: Je später desto besser. Und die Umfragen sehen eigentlich auch im Augenblick einen drastischen Verlust an Wählerstimmen bei der CDU vor.
CDU könnte von Lieberknecht als Ministerpräsidentin profitieren
Münchenberg: Würden Sie sagen, das bringt tatsächlich noch was, wenn man jetzt sagt, okay, wir machen die Neuwahlen nicht in 70 Tagen, sondern deutlich später? Kann die CDU da tatsächlich noch mal viel aufholen? Denn die Kritik an der Vorgehensweise bei der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten, die war ja doch sehr verheerend.
Vorländer: Ja! Aber es gibt, glaube ich, zwei Momente. Erstens ist die CDU selbst ja führungslos. Sie muss sich selbst noch finden. Dazu braucht sie Zeit. Und sie muss dann ihren neuen Spitzenkandidaten oder die Spitzenkandidatin auch im Wahlkampf positionieren, bekannt machen, wenn es eine neue Kandidatin oder ein neuer Kandidat ist.
Zum zweiten: Wenn Frau Lieberknecht Ministerpräsidentin ist in einem Kabinett, das rein technisch ist oder überparteilich ist, dann ist sie aber gleichwohl Ministerpräsidentin. Das heißt, sie ist die Spitze der Exekutive. Sie nimmt auch repräsentative Termine wahr. Und das kann natürlich ein bisschen wieder der CDU in die Hände spielen, denn dann wird die Erinnerung an die große Tradition der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten im Freistaat Thüringen deutlich, die alle von der CDU gestellt waren: Vogel, Althaus und Lieberknecht. Das könnte zu einer Beruhigung der Lage führen, von der die CDU sicherlich auch profitieren kann, wenn nicht sofort gewählt wird und ein bisschen Gras über diese Sache hinwegwächst.
Münchenberg: Also kann man schon sagen, das ist ein faires Angebot, was Ramelow da gemacht hat?
Vorländer: Es ist sicherlich ein Angebot, das die CDU nicht gänzlich ablehnen kann. Aber es ist natürlich schon ein kluger Schachzug, weil er die CDU unter Druck setzt. Sie wird ja dann zusammen mit der Linken eine Ministerpräsidentin wählen müssen. Auch das ist ja etwas, was bislang unvorstellbar war auch für die CDU. Insofern wird die CDU auch da wieder erschüttert werden. Das, was sie bisher als Äquidistanz immer formulierte, bricht in sich zusammen. Das heißt, die CDU ist eigentlich dazu dann auch verdammt, sich neu zu orientieren, aufzustellen und ihre Identität zu beschreiben. Insofern ist das schon ein hartes Brot, was hier der alte Ministerpräsident Ramelow der CDU jetzt aufgegeben hat.
"CDU und FDP wollen auf den Status quo ante zurück"
Münchenberg: Herr Professor Vorländer, die Frage ist trotzdem: Warum braucht man überhaupt eine Übergangsregierung? Warum sagt man nicht gleich, wir machen einfach Neuwahlen?
Vorländer: Ja, das kann man natürlich machen. Aber ich glaube, dass man dazu doch die Mehrheiten so schnell nicht zustande bekommt, weil man einfach die CDU dabei haben muss, und das ist im Augenblick so ohne weiteres nicht möglich. Außerdem wäre dann womöglich der geschäftsführende Ministerpräsident, nämlich Herr Kemmerich, weiter im Amt, denn die Auflösung bedeutet ja noch nicht automatisch, dass übergangsweise eine neue Ministerpräsidentin oder ein Ministerpräsident geschaffen wird. Erst wird man ja die neue Ministerpräsidentin etablieren, aber das muss ja auch erst mal geschehen im Landtag durch ein konstruktives Misstrauensvotum. So sieht das die Verfassung vor. Dann kommt Frau Lieberknecht ins Amt und dann wird aus der Mitte des Parlaments der Antrag gestellt werden für die Neuwahlen, und das macht die Sache doch ein bisschen komplizierter.
Münchenberg: Die Frage ist ja auch, muss es tatsächlich Neuwahlen geben. Es gab ja auch schon viel Kritik an dem Vorstoß, dass man die Wahl von Thomas Kemmerich faktisch rückgängig machen wollte, dass es da sehr viel politischen Druck gab. Wenn man Neuwahlen ausruft, kann man ja auch den Parteien vorwerfen, ihr seid eigentlich faktisch nicht in der Lage, mit den herrschenden Mehrheitsverhältnissen klarzukommen.
Vorländer: Das ist ja im Augenblick tatsächlich die vorherrschende Meinung, dass der Parlamentarismus nicht funktioniert, dass keine funktionsfähige Regierung zustande kommt. Aber ich glaube, man will das jetzt doch bereinigen, und alle, vor allen Dingen auch CDU und auch FDP, haben ja doch zu verstehen gegeben, dass es ein Fehler war (oder zumindest große Teile) und das muss bereinigt werden. Insofern will man auf den Status quo ante zurück und alles auf neu setzen und auf Los, und dann geht es wieder los, zumal sich die Beteiligten, Die Linke wie auch SPD, vielleicht auch Grüne, einen Vorteil versprechen von einer Neuwahl.
Ein Team ohne Frau wäre ein Rückschritt
Münchenberg: Herr Vorländer, lassen Sie uns noch mal kurz auf die Bundespolitik schauen. Da will jetzt auch Norbert Röttgen für den CDU-Vorsitz kandidieren, der vierte Interessent mittlerweile. Man muss faktisch sagen, ein offener Machtkampf.
Vorländer: Ja, es ist ein offener Machtkampf, zumal alle aus Nordrhein-Westfalen kommen. Auch das geht an dem Landesverband sicherlich nicht spurlos vorüber. Und wie sich das Feld dann wirklich aufmischt und wie die Strategien und die taktischen Überlegungen dahinter sind, ist ja noch ganz offen. Man kann davon ausgehen, dass nicht alle vier nachher sich in einem Team wiederfinden, und es ist ja auch bemerkenswert, wo heute ein Gespräch zwischen Frau Kramp-Karrenbauer und Merz stattfindet, dass jetzt auf einmal Herr Röttgen da reingrätscht und die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Auch das ist ja bemerkenswert. Was sich hier hinter den Kulissen abspielt, lässt sich nicht wirklich erschließen, und wie das Spiel ausgehen wird, auch nicht.
Münchenberg: Was sagt das aus über den Zustand der CDU, dass plötzlich vier Kandidaten da sind?
Vorländer: Zunächst einmal ist es ja bemerkenswert, dass keine Frau dabei ist. Auch das ist ja schon mal sehr bemerkenswert. Und ich glaube auch noch nicht, dass es wirklich bei den vier Kandidaten bleibt, denn Frau Widmann-Mauz hat ja heute auch noch mal an anderer Stelle sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass es ohne Frauen in dem Team nicht geht. Das wäre sozusagen auch ein Rückfall für die CDU. Und dass vier Kandidaten da sind, ist ja nicht von Übel. Das heißt, die Partei hat vier Personen, die von sich sagen, wir können das, und denen das womöglich auch zugeschrieben wird. Das ist für eine demokratische Partei eher ein Plus als ein Negativum.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.