Jasper Barenberg: Mehr als einen Kandidaten oder eine Kandidatin für den Parteivorsitz, das hat es in der CDU nur ein einziges Mal überhaupt gegeben, und noch nie einen Wahlkampf, wie wir ihn auf dem Weg zur Entscheidung auf dem Parteitag nächste Woche gerade erleben. Spürbar belebt das die Partei, erkennbar freuen sich durchaus auch die Mitglieder über offene Debatten und sicher auch darüber, dass sie ein Wort mitzureden haben. Gestern gab es die vorletzte Vorstellungsrunde der Kandidatin und der beiden Kandidaten in Bremen.
Am Telefon ist der Publizist Albrecht von Lucke. Er schreibt unter anderem für die Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik". Schönen guten Morgen!
Albrecht von Lucke: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Wieviel Aufbruch spüren Sie denn?
von Lucke: Eine Menge! Das muss man sagen. Diese Regionalkonferenzen vitalisieren die CDU. Das ist immens. Man kann erkennen, dass diese Partei ersichtlich diskutieren will. Und das merkt man auch: Es geht hinter all dem, was sich momentan tut, um eine Richtungsentscheidung in dieser Partei.
"Polarisierung, die die alte CDU in der Weise nicht kannte"
Barenberg: Jetzt haben ja die drei Kandidatinnen und Kandidaten ein klares Profil. Bei Friedrich Merz spricht man vom wertkonservativen Wirtschaftsliberalen, bei Jens Spahn ist die Rede von einem konservativen Quälgeist und bei Annegret Kramp-Karrenbauer erwartet man am ehesten so etwas wie die Fortsetzung der Methode Merkel. Passen diese Schachteln?
von Lucke: Nein, sie passen nicht. Ich glaube zunächst einmal: Wenn wir wirklich die Frage fokussieren, wer denn ernsthafte Chancen hat, muss man Jens Spahn ausnehmen. Die Äußerungen, die er jetzt bereits ins Feld führt, Vision 2040, CDU 2040, die kann man in gewisser Weise auch als Ankündigung werten, dass er sich weiterhin für den Mann der Zukunft hält, der aber genau weiß, dass er keine Chancen hat. Das ist ganz klar.
Es geht im Kern um eine Richtungsentscheidung zwischen zwei Kandidaten, nämlich Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz. Und der Kern dieser Auseinandersetzung ist die Frage, und die kommt bisher auf den Regionalkonferenzen gar nicht vor: Wie sozial soll diese Gesellschaft aufgestellt sein, also die eigentliche gesellschaftspolitische Debatte.
Während wir es bei Annegret Kramp-Karrenbauer mit einer klassischen traditionellen CDU-Vertreterin der katholischen Soziallehre zu tun haben, die die gesamte Mitte einnehmen will, letztlich auch sozialen Ausgleich stark macht, steht Friedrich Merz explizit für einen Kurs der Polarisierung - Sie haben es deutlich gemacht -, der explizit Sozialdemokratisierung als Unwort begreift und die CDU stärker nach rechts ausrichten will. Er hat faktisch gar keine klassische Sozialpolitik im alten CDU-christdemokratischen Sinne, sondern will als Wirtschafts- und man kann sich sogar fragen, ob als Wirtschaftsliberaler, sondern vielmehr als Neoliberaler Politik machen, der sehr stark – so sagt es Gerhard Schick, der Grünen-Politiker zurecht – vor allem ein Vertreter der Finanzindustrie ist.
Das ist eine Polarisierung, die die alte CDU in der Weise nicht kannte. Damit wird er in der Tat die SPD eher profilieren. Aber es ist faktisch für mein Verständnis so etwas wie eine Umcodierung der CDU, denn die soziale Komponente kommt dabei faktisch nicht in nennenswertem Maße vor.
"Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung findet nicht statt"
Barenberg: Aber was Sie auch sagen, oder was man daraus schließen muss ist ja, dass die beiden Kandidaten, über die Sie jetzt vor allem gesprochen haben, das gut zu verstecken wissen, wo die Unterschiede liegen?
von Lucke: Absolut! Und das ist für mich auch das Bemerkenswerte dieser gegenwärtigen Debatten. Es ist oftmals ein großes Konzert der Einigkeit. Es wird zum Beispiel ganz stark herausgestellt, dass beide für das Gewaltmonopol des Staates sind – völlig verständlich. Nach den Ereignissen von 2015 macht man den ordnenden Staat als Rechtsstaat, als Sicherheitsstaat stark. Aber das, was bisher nicht stattfindet, ist die eigentliche gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, wirklich die große Frage, wie ist Zusammenhalt in dieser Gesellschaft zu leisten.
Interessanterweise hat Annegret Kramp-Karrenbauer ihr stärkstes Wort eigentlich noch vor den Regionalkonferenzen gesprochen, als sie klar sagte, Armut ist der Sprengstoff in dieser Gesellschaft. Darauf hat Friedrich Merz bisher noch keine Antwort gegeben. Seine Antworten sind eher die klassischen, die er bereits vor 13 Jahren gegeben hat: Starke Deregulierung, mehr Kapitalismus wagen – so das Buch, das damals 2008 vor der Finanzkrise herauskam.
Das heißt, es gibt eigentlich noch keine Auseinandersetzung auf diesem sozialpolitischen Feld, und ich glaube, es liegt daran, dass Annegret Kramp-Karrenbauer in dem Fall defensiv sich verhält, weil sie Sorge hat, dass sie letztlich vermeintlich als nicht wirtschaftspolitisch stark genug ausgewiesen würde, sich nicht traut, letztlich deutlich zu machen, dass es eigentlich darauf ankommt, die klassische alte, man muss sagen, sozialpolitische, auch sozialkonservative CDU zu stärken. Denn nur die hat das geleistet, was wir ja in den letzten Jahren erlebt haben, dass sie eigentlich die Mitte in Gänze besetzt hat.
Wenn Friedrich Merz gewinnt, dann ist das ganz klar vor allem eines: die Revitalisierung der SPD. Diese hofft momentan inständig darauf, dass ein polarisierender Kandidat Merz ihr noch einmal so etwas wie eine vitalisierende Spritze verschaffen könnte. Nur eine Kanzlerin, die die Mitte stark macht, wird die CDU in der Mitte dominant halten können.
Kandidaten wollen ihre Schwächen kaschieren
Barenberg: Wenn Sie recht haben, Herr von Lucke, und diese Differenzen nicht zu Tage treten und Annegret Kramp-Karrenbauer wie Friedrich Merz damit ein wenig hinterm Berg halten, liegt das auch daran, dass die CDU bei aller Offenheit für einen Wahlkampf dieser Art jetzt doch die Schärfe in der Auseinandersetzung scheut und auch gar nicht gewohnt ist?
von Lucke: Sie scheut sie einerseits. Aber es sind natürlich auch Schwächen, die die jeweiligen Kandidaten kaschieren wollen. Bei Friedrich Merz geht es ja vor allem um eines: Es geht mir dabei nicht um die Gehälter, die er verdient hat, die Millionen der letzten Jahre. Das ist nicht das Problem. Die große Grundfrage ist doch die in seinem Falle: Kann ein Mann, der die Drehtür in Richtung Finanzindustrie genommen hat vor zehn Jahren, kann er die Drehtür rückwärts nehmen jetzt in die Politik, all die Verpflichtungen, Verbindungen, auch Loyalitäten, die er aufgebaut hat, abstreifen und jetzt die Politik machen, die eigentlich konservativ wäre, nämlich eine Verteidigung des Staates gegen die übermächtige Finanzindustrie? Das wäre der Inbegriff des Konservativen.
Eigentlich liegt bei Friedrich Merz gerade die Beweislast, deutlich zu machen, dass er konservativ in einem originären Sinne ist. Denn wir haben ja in den letzten Jahren eine dramatische Verschiebung der Macht zur Finanzindustrie erlebt - nicht zuletzt zu BlackRock, dessen Aufsichtsratschef in Deutschland er ist. Das heißt, er müsste viel mehr deutlich machen, wie er sich eigentlich diesen Wechsel vorstellt. Das wird von ihm nicht bespielt. Und bei Annegret Kramp-Karrenbauer ist es, glaube ich, eher die Sorge, dass sie "nur" als Sozialpolitikerin erscheint und sich damit angreifbar machen könnte, obwohl sie natürlich gerade auch als Innenpolitikerin - sie war Innenministerin im Saarland - durchaus ihre Meriten hat.
Diese Sorge auf beiden Feldern schließt die eigentlich entscheidende Auseinandersetzung bisher aus, nämlich die Frage, was ist der gesellschaftspolitische Ansatz der beiden und wie sollen sie beide zur Befriedung dieser Gesellschaft beitragen, die letztlich ob der großen Unterschiede in den Reichtums- und Wohlstandsverhältnissen immer weiter auseinanderdriftet. Das ist übrigens auch die klassische Antwort der CDU gewesen: Durch gesellschaftlichen Zusammenhalt, durch Kompromiss, auch durch Ausgleich Antworten zu geben, und die bleibt bisher vor allem Friedrich Merz schuldig.
Merz als Rückkehrer aus Finanzindustrie in der Pflicht
Barenberg: Dafür punktet Friedrich Merz ja mit seiner Ankündigung, dass er sich in der Lage sieht, die Zahl derjenigen, die zurückfinden und bisher AfD gewählt haben, zur CDU zurückzuholen, dass er da 50 Prozent derjenigen bekommen könnte. Muss sich die AfD jetzt schon fürchten vor einem Vorsitzenden Friedrich Merz, weil die AfD dann ganz alt aussieht?
von Lucke: Das ist bisher ja bloß Ankündigungs-Rhetorik. Das müssen wir uns bewusst machen. Ironischerweise punktet auch Frau Kramp-Karrenbauer, vielleicht aufgrund mancherlei Bescheidenheit, da zu wenig. Sie hat immerhin im Saarland 40 Prozent für die CDU erreicht und dabei die AfD mit sechs Prozent fast marginalisiert. Nein, Friedrich Merz ist auch in dieser Hinsicht eine gewisse Hypothek, denn niemand würde Friedrich Merz als die Inkarnation der Verbindung von Kapital und Politik stärker begrüßen als die Verschwörungstheoretiker der AfD, vor allem im Osten, und die noch weiter stehenden Rechtsradikalen. Sie würden mit Sicherheit gegen einen solchen Mann Politik machen und angehen als jemanden, der die Unterschiede zwischen Politik und Wirtschaft nicht deutlich genug macht.
Und genau das wird die große Aufgabe von Friedrich Merz sein, so er denn gewählt würde, aber eigentlich auch schon auf der nächsten Konstellation, auf dem Nominierungsparteitag am nächsten Freitag. Er muss kenntlich machen, wie er es sich eigentlich vorstellt, aus der Wirtschaft zurückzukehren und nicht nur aus einer bestimmten Wirtschaft, sondern als Vertreter der Finanzindustrie zurückzukehren in eine Politik, deren Aufgabe nicht zuletzt darin wird bestehen müssen, die Exzesse der Finanzindustrie zurückzustufen. Das ist eine bisher noch nicht eingelöste Beweislast und man kann gespannt sein, ob es ihm in der nächsten Woche gelingt.
Merz würde GroKo-Halbwertszeit verringern
Barenberg: Wird es denn einen großen Unterschied machen, setzen wir mal voraus, es bleibt bei dieser Entscheidung zwischen Friedrich Merz und Annegret Kramp-Karrenbauer, wird es einen Unterschied machen für die anderen Parteien für mögliche Koalitionsmöglichkeiten im Bundestag zum Beispiel?
von Lucke: Ja, unbedingt! Das ist ja auch das, was Friedrich Merz - und da hat er völlig recht - zu Anfang aussprach. Er setzt ja auf eine Polarisierung, die sogar einbezieht, dass die andere Seite sich erstarkt. Das hätte ja durchaus etwas, wenn man es positiv begreift, als eine Revitalisierung der linken Seite. Es wäre natürlich ganz klar, dass eine Fortsetzung erstens der Koalition mit der SPD mit einem Parteivorsitzenden Friedrich Merz erschwert würde. Das würde die Halbwertszeit dieser Großen Koalition wahrscheinlich erheblich verringern. Das wäre das eine.
Zum zweiten wäre auch eine Koalition mit einem stark wirtschafts-, ja neoliberal, auf die Finanzindustrie ausgerichteten Friedrich Merz zukünftig auch für die Grünen nicht erleichtert. Das heißt, wir hätten eine neue, stärker ja vielleicht in einem linken Block konfigurierte Konstellation SPD, Grüne, Linkspartei. Es gäbe tatsächlich wieder so etwas wie eine stärkere Lagerbildung, während natürlich der größte vielleicht Fokus der CDU und die Partei, die am meisten Angst vor Friedrich Merz haben müsste, natürlich die FDP ist. Diese würde mit einem wirtschaftsliberalen, ja neoliberalen Friedrich Merz mit Sicherheit sofort einige Prozente verlieren. Aber gleichzeitig wäre die FDP natürlich klassischerweise der bevorzugte Koalitionspartner.
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