Kapretz sagte, es brauche Vermittlung zwischen Madrid und Barcelona - egal ob durch die EU, die UNO oder die Kirche. "Wichtig ist nicht, wer vermittelt, sondern dass es stattfindet." Sie sieht besonders Madrid in "Zugzwang, sich an den Verhandlungstisch zu setzen".
Kapretz forderte: Unabhängig davon, wie die Wahl ausgehe, dürften die Stimmen der Unabhängigkeitsbewegung nicht ignoriert werden. Man müsse darüber sprechen, wie man den Unmut vieler Menschen kanalisieren könne.
Kapretz stellte infrage, ob die Anwendung des Artikels 155 der spanischen Verfassung, der der Regionalregierung die Macht entzieht, so angewendet werden dürfe, wie die Zentralregierung es getan hat.
Das Interview in voller Länge:
Mario Dobovisek: Sie wählen heute, die Katalanen, ihre neue Regionalregierung, nachdem die alte von Madrid abgesetzt worden ist im Streit um die Unabhängigkeit Kataloniens, das aus Sicht der Zentralregierung illegale Referendum und die Unabhängigkeitserklärung im Parlament. Seine Anhänger nennen ihn weiter Präsident, obwohl Carles Puigdemont längst entmachtet wurde und (mehr noch) nach Brüssel geflohen ist, weil er in Spanien einen unfairen Prozess gegen ihn befürchtet. Wegen Hochverrats ist er dort angeklagt. Von Belgien aus hat er Wahlkampf geführt in Barcelona, in Katalonien. Andere Mitglieder seines früheren Kabinetts haben sich vom Gefängnis aus zu Wort gemeldet.
Am Telefon begrüßen wir nun Marie Kapretz. Sie leitete die Vertretung der katalanischen Regionalregierung in Berlin. Sie war, wenn man so will, ihre Botschafterin in Deutschland. Guten Morgen, Frau Kapretz.
Marie Kapretz: Ja, guten Morgen.
Dobovisek: Ich habe das in der Vergangenheitsform benutzt, denn Ihr Büro wurde gerade geschlossen. Steht das im Zusammenhang mit den Zwangsmaßnahmen der spanischen Zentralregierung?
Kapretz: Genau. Das Büro wurde geschlossen im Zuge der Anwendung des Artikels 155 und seitdem gibt es das Büro nicht und ich bin sozusagen a.D. oder ehemalige Vertreterin seitdem.
"Viele Presseanfragen können nicht bearbeitet werden"
Dobovisek: Was bedeutet das für die Regionalregierung und für das Sprachrohr dieser Regierung in Deutschland?
Kapretz: Das bedeutet, dass zum Beispiel viele Presseanfragen nicht bearbeitet werden können und dass die katalanische Regierung nicht mit eigener Stimme in Deutschland sprechen kann, und das nicht nur in Deutschland, sondern in allen zwölf Ländern, wo es Vertretungen gab, mit Ausnahme der EU. So sieht es jetzt aus.
Dobovisek: Carles Puigdemont hat zum Wahlkampffinale Dienstagabend per Videoschalte versprochen: Wenn er die Wahl gewinnen und wieder in den Regionalpalast einziehen sollte, sei der Verfassungsartikel 155, den Sie auch angesprochen haben, Geschichte, also die Machtübernahme durch die Zentralregierung. Dann würde auch Ihr Büro wieder geöffnet?
Kapretz: Das sagt auch Marta Rovira, die ja den Wahlkampf für die ERC-Partei gemacht hat. Es ist doch klar, dass die katalanische Regierung im Ausland eine eigene Stimme braucht in diesen Tagen, und deswegen ist das, glaube ich, Konsens.
Wir haben ja große Befürchtungen, dass es mit den Wahlen nicht sehr klar laufen wird. Es gibt diese Firma, die die Wahlergebnisse weiterleitet. Indra war in der Vergangenheit in Schmiergeldaffären verstrickt und deswegen wird es in jedem Wahllokal unabhängige Wahlhelfer geben, die die Ergebnisse parallel weiterleiten. Das ist ganz interessant zu wissen.
Dobovisek: Was heißt unabhängige Wahlhelfer?
Kapretz: Das sind freiwillige Bürger und Bürgerinnen, die bei der Auszählung dabei sein werden. Die sind in verschiedenen Vereinen organisiert. Es wird also nicht nur die eine Weiterleitung geben, sondern es gibt mehrere direkt. Und sollte es da zu Divergenzen kommen, dann müssen wir auch wissen, dass das Endresultat erst am 27. Dezember bekannt gegeben werden kann. Dann will nämlich die Junta Electoral Provincial die Ergebnisse noch mal unabhängig auszählen. Das ist immer so gang und gäbe.
"Katalanen sind zwischen hoffnungsfroh, aber auch hilflos"
Dobovisek: Kommen wir zurück zur Machtübernahme durch die Zentralregierung Spaniens. Den Artikel 155 haben wir angesprochen. Wie will Puigdemont im Fall eines Sieges schaffen, das zurückzunehmen?
Kapretz: Den Artikel 155? – Gut! Wenn man das klare Mandat hat aus diesen Wahlen – Sie haben es vorhin schon angesprochen. Die Katalanen sind natürlich zwischen hoffnungsfroh, aber auch hilflos. Man spürt eine gewisse Trauer.
Dobovisek: Müde hat es unser Korrespondent genannt.
Kapretz: Müde, aber auch die nicht aufgearbeitete Trauer vom 1. Oktober. Man steht auch unter Schock, hat der Kollege ja auch gesagt.
"Es ist Aufgabe der Politik, den Status quo herzustellen"
Dobovisek: Heißt das, die Unabhängigkeitsbewegung ist am Ende, zumindest für den Moment?
Kapretz: Das nicht. Aber es ist ganz klar die Aufgabe der Politik – deswegen komme ich auf den Artikel 155 zurück -, hier den Status quo herzustellen, nämlich dass es regionale Instanzen gibt, so wie es zum Beispiel auch in der Verfassung vorgesehen ist.
Dobovisek: Aber wenn die neue katalanische Regierung weiter auf ihrer Unabhängigkeit besteht, dann würde die Zentralregierung in Madrid vermutlich diesen Artikel nicht zurücknehmen. Also: Sind Sie bereit, gegen die Verfassung zu verstoßen?
Kapretz: Dieser Artikel 155, da müsste man, glaube ich, eine eigene Sendung drüber machen, weil der ist ja von dem Artikel – ich glaube, das ist der 35 …
Dobovisek: Dann frage ich lieber anders herum. Respektieren Sie die spanische Verfassung?
Kapretz: Dieser Artikel 155, da steht überhaupt infrage, ob man den so anwenden kann, wie er angewendet worden ist. Weil ich kann mir nicht vorstellen, dass die deutsche Bundesregierung einfach die Regionalpolitiker von Bundesländern ins Gefängnis setzt, weil die nach einem Mandat arbeiten, das denen in Wahlen übertragen wurde. Wir müssen deswegen sehen: Es gibt hier eine Mehrheit von Wählern oder nicht eine Mehrheit, das werden wir heute Abend sehen, die den Politikern den Auftrag zur Unabhängigkeit geben, und das muss ja respektiert werden. Und wenn es da nicht zu Gesprächen kommt – deswegen appelliert man ja immer an die internationale Gemeinschaft, dass es zu Gesprächen kommt -, dann frage ich mich, wie soll das umgesetzt werden. Ich denke, da ist vor allen Dingen die Madrider Regierung in Zugzwang, dass die sich an den Verhandlungstisch setzt, weil man kann diese Mehrheit oder Nicht-Mehrheit, je nachdem wie es ausgeht heute Abend, nicht ständig ignorieren. Selbst wenn die Unabhängigkeit befürwortenden Parteien heute Abend gewinnen werden, dann stellt sich immer noch die Frage: Dieser Unmut, wie wird der kanalisiert werden, der ja in der Bevölkerung ist. Das ist ja ganz klar.
"In der Vergangenheit hat es nie Gewalt gegeben"
Dobovisek: Rechnen Sie mit Gewalt?
Kapretz: Nein. Von der katalanischen Seite auf keinen Fall. In der Vergangenheit hat es nie Gewalt gegeben. Ich denke, die Madrider Zentralregierung sollte auch ihre Lehren gezogen haben aus dem 1. Oktober.
Dobovisek: Welche Lehren haben Sie denn gezogen?
Kapretz: Ich persönlich?
"Ich bin persönlich sehr empört"
Dobovisek: Ja! Sie als Sprachrohr der abgesetzten katalanischen Regionalregierung.
Kapretz: …, dass man von der Zentralregierung die Gesetze durchaus so interpretiert wie man will und sich immer als Rechtsstaat hinstellt, aber auf der anderen Seite macht was man will. Ich bin eigentlich auch persönlich sehr empört, wie die Zentralregierung mit der Gesetzgebung umgeht und Sachen macht, die sie eigentlich nicht machen kann.
Dobovisek: Ist trotzdem wieder eine Schuldzuweisung Richtung Madrid. Das Gleiche macht Madrid in Richtung Barcelona. Wie kommen wir aus diesem Teufelskreis raus, wenn sich beide Seiten offensichtlich nicht bewegen werden?
Kapretz: Sie haben mich nach meiner persönlichen Meinung gefragt und natürlich bin ich auch persönlich betroffen, weil ich abgesetzt wurde, und das hat mich natürlich schon überrascht. Ich werde mir Arbeit suchen, ich werde mir eventuell einen neuen Job suchen, das ist jetzt auch nicht das Problem.
Aber Sie haben mich jetzt nach meiner persönlichen Meinung gefragt und natürlich bin ich Teil von dem Ganzen. – Schuldzuweisungen ja, man braucht Vermittlung. Ich wiederhole, weil wir müssen an einen Verhandlungstisch. Wir müssen diese Schuldzuweisungen ausarbeiten. Ich denke, das Ideale wäre mit internationaler Vermittlung. Anders glaube ich nicht, dass man das packen kann.
Dobovisek: Mit der EU?
Kapretz: Mit der EU oder mit den Vereinten Nationen oder mit der Kirche oder wer auch immer. Die Schweiz hat sich ja angeboten, aber es wurde ja bis jetzt immer alles abgelehnt. Das Wichtige ist nicht wer, sondern das Wichtige ist, dass es stattfindet.
Dobovisek: Marie Kapretz, die frühere Vertreterin der katalanischen Regionalregierung in Deutschland. Vielen Dank für das Interview an diesem Morgen.
Kapretz: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.