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Regisseurstheater?

Zur Halbzeit des Berliner Theatertreffens hatte das Tagungszentrum Schloss Neuhardenberg zu einer "Standortbestimmung des deutschsprachigen Theaters" eingeladen. "Was heißt - und zu welchem Ende erdulden wir - ein Regisseurstheater?" So war der Vortrag von Gerhard Stadelmaier, Theaterkritiker der FAZ, überschrieben.

Von Karin Fischer | 17.05.2010
    Der einzige noch amtierende Kritikerpapst Deutschlands, wie er mal genannt wurde, zog schon vom Leder – und hatte dafür auch reichlich Stoff. Die Exzesse des "Regisseurstheaters" - ein Begriff, den Stadelmaier erfunden hat - mit seinen menschenunfreundlichen und textignoranten Blut- und Sperma-Orgien und mit dem Regisseur in der Hauptrolle:

    "Er lässt Franz und Karl Moor in den Räubern lange mit Kloschüsseln werfen oder schickt den alten Moor auf den Golfplatz; er steckt die Räuberbande aber in ein Klassenzimmer, wo sie eifrig Würste grillt. Er lässt im Falle von Ionescos "Massakerspiel" mithilfe eines Taschenmessers einer Hochschwangeren das Fruchtwasser abzupfen und zu Cocktails verarbeiten, dieweil eine Nichtschwangere beidhändig zwei Männer masturbiert, die ein Bier verlangt hatten. Er stattet Hebbels Nibelungen mit Aldi-Tüten aus, in die sie ihre nackten Körper hüllen ..."

    Die scheinbar endlose Suada war durchaus amüsant. Der Kritiker polemisierte genüsslich gegen die Uraufführungsvernichter und selbstherrlichen Sonnenkönige des Theaters – auch im Namen zeitgenössischer Autoren. Roland Schimmelpfennig habe zu Protokoll gegeben, er bekäme ganz sicher ein U-Boot oder einen Jeep, wenn er einen Tisch haben wollte - weshalb er sich heutzutage gerne mal einen Jeep wünscht, damit er dann den Tisch kriegt. Historisch betrachtet Stadelmaier das Regisseurstheater als Erbe der DDR, als die Revanche für die wirtschaftliche Dominanz des Westens. Castorfs wütende Provokationen an der Volksbühne ordnete er historisch ein – und verdammte es wütend.

    Stadelmaier bedauert vor allem, dass die Volksbühne republikweit Schule machte. Das Theater der bewussten Anti-Konvention sei im Stadttheater längst zum mehltauartigen Mainstream geworden.
    Dann seine Hausheiligen: Luc Bondy, Andrea Breth, Christoph Marthaler, Robert Lepage. Regisseure, die sich als Diener der Dichtung begreifen, neue Wirklichkeiten zaubern oder Entdeckungsreisen in Sachen Menschlichkeit ermöglichen.

    "Der größte, demütigste und auf allen Abwegen am Schönsten über Abgründe und Klüfte und sich plötzlich öffnende Türen und wegfallende Mauern staunende Entdeckungsreisende dieser Art war der Regisseur Klaus-Michael Grüber, der in einem Mörder einen Tänzer, in einer Priesterin eine Liebesträumerin, in einem Verbrecher einen Komiker und in einem alten Liebhaber einen jungen Raubvogel entdecken konnte bei seinen Theaterabenteuerreisen."

    In der anschließenden Diskussion nahm der Theaterkritiker der "ZEIT", Peter Kümmel, den kulturkritischen Faden auf. Seine Analyse des Gegenwartstheaters lautet:

    "Mir fiel seit einigen Jahren auf, dass die anstrengende Arbeit der Darstellung immer mehr in den Hintergrund tritt. Der Schauspieler vertritt nicht mehr eine Figur, sondern es gibt eine Entourage, die die Figuren auf die Bühne geleiten. Das Ensemble ist so eine Art Escortservice für das dramatische Personal. Man schützt sich etwas vor dem 1:1-Verhältnis zwischen Darsteller und Figur. Mir kommt es vor, als ob, wie damals sich die Malerei durch die Fotografie aus der Darstellung vertreiben ließ, so hat sich jetzt das Theater durch Film und Fernsehen aus dem Augenblick vertreiben lassen."

    Ansonsten wurde, von Ulrich Khuon und Lars-Ole Walburg, tapfer Zeitgenossenschaft behauptet gegen die klugen alten Männer in der Runde, Manfred Osten als Moderator und Joachim Kaiser. Der befand zwar, Cosí fan tutte als lustiges Rokoko-Getändel gehe ihm auf die Nerven. Aber:

    "Selbstverständlich können Sie Don Giovanni als hinreißenden Liebhaber machen oder aber fast als Gewaltverbrecher. Aber wenn ich in Salzburg sehe, dass er ein gelähmter schwuler Greis im Rollstuhl ist, dann scheint mir das eine Willkür, die auch verstören und aufregen soll, da mache ich dann nicht mehr mit."

    Und so wurde wieder einmal über die Grenzen des Regietheaters und über Nacktheit auf der Bühne diskutiert. Die drängenden Probleme der Bühnen von Sparzwang bis Publikumsvergreisung kamen nicht zur Sprache. Dabei braucht das Gegenwärtige am Gegenwartstheater eigentlich keine Rechtfertigung, es ist täglich auf deutschen Bühnen zu sehen. Auch Lars-Ole Walburg setzt - wie jeder kluge Intendant - auf formale Ansätze in ganzer Breite. Er bringt am Staatsschauspiel Hannover jetzt Pflanzen ins Spiel. Das Fünf-Jahres-Projekt "Die Welt ohne uns" denkt den Rückbau der Natur vor, wenn der Mensch die Erde verlassen hat. Schlechtes Theater wäre dann kein Problem mehr.