Prof. Dr. Anette Baumann: "Dieses Gericht ist unheimlich modern. Die Richter sind das erste Mal professionelle studierte Juristen. Das ist also nicht zweite Hand, Erfahrungsschatz usw., sondern die können nach wissenschaftlichen Regeln einen Streitfall begutachten."
1495 waren auf dem Reichstag zu Worms, unter dem deutschen König und späteren Kaiser Maximilian, wichtige Reformen beschlossen worden. Eine der Neuerungen war es, das bislang geltende Fehderecht abzuschaffen. Nach ihm war es bislang möglich gewesen, Rechtsstreitigkeiten auf direktem Wege zwischen den beiden Parteien zu lösen. Dabei war es oft zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen, bei denen das Recht auf der Seite des Stärkeren gelegen hatte. Diesen Ungerechtigkeiten wollte Maximilian ein Ende setzen und rief auf dem Wormser Reichstag den Ewigen Landfrieden aus. Der machte die Einführung einer neuen Rechtsinstanz nötig, das Reichskammergericht. Und das bot eine, für die damalige Zeit, überaus fortschrittliche Möglichkeit, den sogenannten Untertanenprozess.
"Dass vorm Reichskammergericht ein Untertan gegen seine Obrigkeit klagen kann, das ist ganz, ganz wichtig, denn eine sogenannte Ständegesellschaft, die ist ja durch Ungleichheit bestimmt. Und wenn jetzt einer von einem ganz niedrigen Rang auf gleiche Höhe sich mit einem Fürsten begibt, dann ist das eine ganz besondere Sache."
Diese Untertanenprozesse stehen im Mittelpunkt eines wissenschaftlichen Projektes, an dem die Gesellschaft zur Reichskammer-Gerichtsforschung und die Universität Frankfurt beteiligt sind. Anette Baumann ist die Projektleiterin.
"Es geht hier um gerichtliche und außergerichtliche Konfliktlösung. Bei diesen ganzen Gerichtsverfahren in der frühen Neuzeit geht man nicht nur vor Gericht, sondern versucht auch andere Möglichkeiten der Konfliktlösung, indem man Gespräche führt."
Bis zur Einführung waren Könige und Kaiser oberste Instanz
Diese Mediationen sollten letztendlich eine gütliche Einigung zwischen beiden Parteien erzielen. Bis zur Einführung des Reichskammergerichts waren die jeweiligen Könige und Kaiser die oberste Rechtsinstanz im Reich gewesen. Doch sie waren Reisemonarchen. Sie regierten ihr Land vom Sattel aus. Bei vielen Konflikten konnte daher die Rechtsprechung nur mit großer Zeitverzögerung erfolgen. Das führte zu Unzufriedenheit und endete nicht selten in Akten der Selbstjustiz. Auch in dieser Problematik brachte das Reichskammergericht eine wichtige Neuerung mit sich, die bis in die heutige Zeit nachwirkt, wie die Historikerin Anette Baumann erläutert.
"Dieses Gericht agiert unabhängig vom Wohnsitz des Kaisers. Also so, wie heute in Karlsruhe Recht gesprochen wird und nicht in Berlin, so wurde damals in Speyer und später in Wetzlar Recht gesprochen und eben nicht am Kaiserhof in Prag oder Wien."
Die fortschrittliche Idee vom festen und dezentralen Sitz des Reichskammergerichts war zunächst einmal nicht einfach zu verwirklichen. Es wechselte seinen Standort im Reich mehrere Male, bis es ab 1527 in Speyer unterkam. Als diese Stadt infolge des Pfälzischen Erbfolgekrieges fast vollständig zerstört worden war, suchte man einen neuen Standort, den man schließlich in Wetzlar fand, wo das Reichskammergericht von 1689 bis 1806 seinen Sitz hatte und wo heute das Reichskammergerichtsmuseum beheimatet ist.
Die wissenschaftliche Arbeit der dort ebenfalls ansässigen Forschungsstelle hat interessante Details zur Besetzung der Richterposten am Reichskammergericht ergeben, wie die Leiterin der Forschungsstelle Anette Baumann schildert.
"Die Richter, die kommen aus den gesamten Territorien des Reiches. Der Kaiser darf nur eine bestimmte Anzahl von Stellen besetzen, aber auch die einzelnen Territorien. Da kommt auch das Wissen aus diesem ganzen Reich zusammen. Grundlage dafür ist das Römische Recht."
Bei der wissenschaftlichen Analyse der Akten des ehemaligen Reichskammergerichts hat Anette Baumann festgestellt, dass mit der Einführung dieser neuen Rechtsinstanz im Jahre 1495 nicht nur Frauen und Männer vor Gericht gleichgestellt waren, sondern auch das Armenrecht geschaffen wurde. Konnten Kläger oder Beklagte nachweisen, dass das nötige Geld für einen Prozess fehlte, hatten sie dennoch die Möglichkeit, vor Gericht zu bestehen. Ein Anwalt wurde ihnen kostenfrei zur Seite gestellt. Und wenn es notwendig war, wichtige Zeugenaussagen zur Beweisführung heranzuziehen, dann mussten diese Zeugen nicht etwa selbst den weiten Weg nach Speyer oder später nach Wetzlar antreten, "sondern es wurde eine Kommission gebildet, die reist Vorort, ins örtliche Wirtshaus, bestellt da alle ein, befragt die, das muss dann mit Hand mitgeschrieben werden, dann entsteht ein so genannter Zeugen-Rotulus, der wird versiegelt und verpackt und ans Gericht geschickt. Und bei der Urteilsfindung muss dann der Richter diese ganzen Zeugenaussagen lesen und bewerten."
Schriftstücke befinden sich in Archiven im In- und Ausland
In den rund dreihundert Jahren, die das Reichskammergericht tätig war, sind gewaltige Aktenberge entstanden. Für die Wissenschaft eine wahre Fundgrube, doch die Akten sind weit verstreut. Als Napoleon mit seinen Truppen weite Teile Europas eroberte, führte er in den besetzten Gebieten seinen Code Napoleon ein, der das Zivil- und Strafrecht neu regelte. Ein Reichskammergericht hatte in dieser Rechtsordnung keinen Platz mehr und wurde aufgelöst. Schriftstücke und Urkunden wurden an die Staaten verteilt, aus denen die Prozessbeteiligten stammten. Sie befinden sich heute in 48 Archiven im In- und Ausland, von Metz bis Stettin und von Kopenhagen bis Wien. Dort war Anette Baumann wochenlang damit beschäftigt, ein riesiges Kontingent an Prozessakten auszuwerten.
"Die Beweismittel und die Argumentationen der Anwälte waren in Deutsch, mit entsprechenden lateinischen Fachbegriffen, aber die Gutachten und Voten der Richter waren im 16. Jahrhundert nur Latein. Und da nützt Ihnen ein Latein, was sie in der Schule lernen, gar nichts, denn es ist juristisches Fachlatein. Also man muss Schriftkunde über drei Jahrhunderte haben, um so einen Akt überhaupt lesen zu können. Und ich spreche jetzt nicht von zwei Zentimetern. Den größten Akt, den wir kennen, ist acht Meter. Acht Meter handgeschriebenes Material."
Die Richter, am Reichskammergericht Assessoren genannt, taten sich zuweilen schwer damit, zu einem Urteil zu kommen. Prozesse wurden schon einmal auf die lange Bank geschoben. Die Assessoren-Stellen waren konfessionell paritätisch besetzt. Die Ausgewogenheit von katholischen und evangelischen Richtern sollte eine Benachteiligung aus Glaubensgründen vermeiden. Auch Juden, die in der damaligen Gesellschaft unter Vorurteilen und Benachteiligungen zu leiden hatten, konnten beim Reichskammergericht auf einen fairen Prozess hoffen. Anette Baumann hat viele jüdische Prozesse untersucht. Sie nennt einen Fall, der sich Ende des 18. Jahrhunderts im badischen Ettlingen ereignet hat:
"Es ist Französische Revolution und der Bischof von Straßburg geht auf seine rechtsrheinischen Gebiete, kommt mit seinem Hofstaat da an und setzt die Juden dieser kleinen Kreisstadt vor die Türe. Und die Juden wehren sich, gehen vors Reichskammergericht und die sagen, Eigentum und Besitz ist ein höheres Gut als ein Bischof, der mal eben eine neue Bleibe braucht. Und die Juden bekommen recht. Natürlich haben diese Assessoren ihre Vorurteile, aber wenn es um Rechtsprechung geht, wird nach Recht gesprochen und die Person spielt keine Rolle.