"Meine liebe Laura, seit vergangenem Donnerstagabend, als eine Flut von Telegrammen mit den Siegesmeldungen hier eintraf, befinden wir uns in einem ständigen Siegestaumel, der heute Morgen, vorläufig wenigstens, den Höhepunkt durch die Nachricht erreichte, dass wir 1.341.500 Stimmen erhalten haben, 587.000 mehr als vor drei Jahren. Der 20. Februar 1890 ist der Tag des Beginns der deutschen Revolution."
Der bald siebzigjährige Friedrich Engels, der am 26. Februar 1890 diese Zeilen an Laura, die zweite Tochter von Karl Marx und verheiratete Lafargue, so enthusiastisch formulierte, sollte sich irren: Der Beginn einer "deutschen Revolution" war mit dem Wahlergebnis nicht verbunden. Aber er hatte auch wieder Recht:
"Es mag noch ein paar Jahre dauern, bis wir eine entscheidende Krise erleben, und es ist nicht unmöglich, dass wir eine vorübergehende und ernsthafte Niederlage erleiden. Aber die alte Stabilität ist für immer dahin. Wiedersehen für heute - vive la révolution allemande! Immer Dein F. E."
Die von Engels korrekt wiedergegebene Zahl der Wählerstimmen in der Reichstagswahl vom 20. Februar 1890 ist auch so beeindruckend genug: Über 1,3 Millionen Wähler hatten der SAPD, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, ihre Stimme gegeben. SAPD - so hieß die Partei seit Mai 1875, da sie aus dem Zusammenschluss des ADAV, des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, und der SDAP, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, entstanden war.
Radikal marxistische Partei
Die Umbenennung in Sozialdemokratische Partei Deutschlands, mithin zur bis heute bestehenden SPD, erfolgte erst auf dem Erfurter Parteitag im Oktober 1891. Was freilich nicht hieß, dass die Partei zu jenem Zeitpunkt sich einer reformistischen Politik verpflichtet fühlte. Im Gegenteil: Sie wurde zur radikal marxistischen Partei.
Der Friedrich Engels berauschende Erfolg der SPD bei den Wahlen wirkte umso überzeugender, als er in der Atmosphäre täglicher Verfolgung und Unterdrückung errungen worden war. Zwar war das "Sozialistengesetz" am 30. September 1890 im Reichstag nicht verlängert worden. Doch wie ungemein mächtig die Aversion des feudalen und bürgerlichen wilhelminischen Staates gegenüber den angeblich "vaterlandslosen Gesellen" in der SPD blieb, zeigte nicht zuletzt deren Lage auch nach dem Aufheben des "Sozialistengesetzes":
"Seit dem Auslaufen des Sozialistengesetzes bis einschließlich zum "Berichtsjahr" 1912 wurden von deutschen Gerichten gegen "im Dienste der Arbeiterbewegung tätige Personen", das heißt, wohl sozialdemokratische Parteifunktionäre, insgesamt 1209 Jahre Gefängnis und 111 Jahre Zuchthaus verhängt", so Klaus Tenfelde und Gerhard A. Ritter in ihrer einschlägigen Studie über "Arbeiter im Deutschen Kaiserreich".
Nur 35 Sitze von insgesamt 391 im Reichstag
Auffallend blieb das groteske Missverhältnis, das zwischen dem hohen Wahlstimmenanteil der SPD und ihren bloß 35 Sitzen - von insgesamt 391 - im Reichstag bestand. Zwar erlaubte das Wahlrecht im Reich die freie, gleiche, geheime und direkte Wahl - wenngleich nur für Männer ab 25 Jahren. Doch die Crux lag woanders. Der Berliner Historiker Andreas Biefang:
"Das Wahlrecht des Kaiserreichs war ein absolutes Mehrheitswahlrecht in sogenannten Ein-Mann-Wahlkreisen. Gewählt wurde, wer innerhalb eines bestimmten Wahlkreises die Mehrheit erzielt hatte."
Das heißt, ein Reichstagsmandant war nur dann garantiert, wenn ein Kandidat mit der absoluten Mehrheit der Stimmen gewählt worden war. Alle anderen Stimmen aber gingen - anders als im Verhältniswahlrecht - komplett verloren oder mussten in den daraufhin anstehenden Stichwahlen neu verteilt werden. Und anders als die SPD, schlossen die konservativen und nationalliberalen Parteien eher - überdies oft gegen den Kandidaten der Sozialdemokraten - ein Wahlbündnis, um ihre Leute in den Reichstag zu bekommen.
"Die SPD war im Kaiserreich auch dadurch benachteiligt, dass die Wahlkreiszuschnitte den ländlichen Raum bevorzugt haben."
Die Wahlkreise bestanden bei ihrer Festlegung um 1870 noch durchschnittlich aus 100.000 Wählern, hatten sich indessen seither massiv verändert, verursacht durch die im Zuge der Industrialisierung einsetzende Land-Stadt-Flucht und Migrationsbewegungen: Zu leiden hatte darunter vor allem die SPD, deren städtische Wählermassen dadurch ein geringeres Gewicht bekamen als die Wähler in vergleichsweise dünn besiedelten, ländlichen Räumen.
Freilich - der Aufstieg der SPD zur mächtigsten Partei im Kaiserreich war dadurch nicht aufzuhalten. Die Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 bildeten dafür nur den Auftakt.