Ist das Brauch unter Polynesiern? Vorsicht! Sylvia Townsend Warners bezaubernde Inselidylle hält keiner ethnologischen Überprüfung stand. Erstens stammt der Roman aus dem Jahre 1927, als auch unter Völkerkundlern noch wilde Klischees über die Paradiesgesellschaften der Südsee kursierten. Zweitens war die Autorin nie dort, sondern bezog ihr Wissen aus einem einzigen Missionarsbericht, den sie als Jugendliche las; und drittens entstand aus dieser Distanz, die sich mit literarischen Vorbildern von Daniel Defoe bis Joseph Conrad amalgamierte, eine frühe Aussteigersatire, die zugleich einen britisch-skurrilen Abgesang auf die Werte des viktorianischen Empire anstimmte. Denn Timothy Fortune, der seinen Zögling „Theodor“ tauft ("Geschenk Gottes"), ist natürlich kein markiger Kolonialheld, sondern ein ausgesprochener Pechvogel. Kein zweiter Insulaner will sich von ihm bekehren lassen, die erworbene Zuneigung der Polynesier beruht auf seiner Exzentrik, und in einer bitteren Stunde muss er sich eingestehen, dass Lueli ihn zwar als väterlichen Freund verehrt, aber immer noch einen Naturgötzen anbetet. Damit kippt das Geschehen. In der Nacht der Erkenntnis bricht der Vulkan aus und verbrennt den hölzernen Götzen Luelis. Fortan verkümmert der Junge, die Dorfbewohner halten ihn für todgeweiht, und Mr. Fortune macht eine gewaltige Wandlung durch: Wenn sein Glaube den Jungen nicht zu retten vermag, ist es wohl besser, ihm einen neuen, heidnischen Götzen zu schnitzen. Das trägt auch der Tatsache Rechnung, dass der Missionar längst zum Polynesier geworden ist, alle westliche Kleidung abgelegt hat und sein ebenfalls verbranntes Harmonium nicht vermisst.
Wunderbar warme, zugleich spöttelnd-mokante Literatur – und ein Anlass, diese unbekannte Autorin Sylvia Townsend Warner wieder zu entdecken. Bei ihr lässt sich lernen, wie man den urdeutschen Mephisto-Stoff auch ganz leichtfüßig aufbereiten kann, ohne dessen Moral zu verraten. Denn natürlich verkörpert Lueli mit seiner naiven, unviktorianischen Lust an Leib und Leben die mephistophelische Verführung zum Hedonismus; und ebenso natürlich unterliegt der strenge Missionar diesen Verlockungen. Doch nicht ganz: Nachdem Lueli mit dem neuen Götzen seinen Lebensmut wieder gefunden hat, verlässt Timothy Fortune die Paradiesinsel. An Bord der ihn heimführenden Barkasse erfährt er vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Paradise lost.