Nasse Fahrbahn, schlechte Sicht, plötzlich kommt aus der Nebenstraße ein anderes Auto. Voll auf die Bremse getreten, und gerade noch rechtzeitig kommt der Wagen zum Stehen. Die Reifen sind neu, das hat den Bremsweg verkürzt. Ein möglichst kurzer Bremsweg - das ist aber nur eine der Kenngrößen, an denen die Industrie laufend tüftelt.
Verschleiß, Rollwiderstand, Bodenhaftung, Lärmentwicklung und einiges mehr, sagt Patrice Hauret vom französischen Reifenhersteller Michelin. Hauret ist weder Physiker noch Ingenieur, sondern Mathematiker. Und als solcher unterstützt er die Entwicklung auf seine eigene Art:
"Physiker und Materialforscher kommen zu uns mit ihren neuen Ideen und Konzepten, und wir Mathematiker übersetzen das in Formeln und Gleichungen. Diese Gleichungen sind dann die Basis für Computersimulationen. Und diese Simulationen sagen das Verhalten eines Reifens vorher, den es noch gar nicht gibt."
Konzepte für neue Reifen werden in Computersimulationen durchgespielt
Numerische Analysis und partielle Differenzialgleichungen, Rechnerfarmen und Supercomputer - das sind die Werkzeuge, mit denen Hauret agiert. Denn einen Reifen realitätsgetreu zu simulieren, ist ziemlich aufwendig:
"Ein Reifen ist - was man vielleicht gar nicht glaubt - ein hochtechnologisches Produkt. Zum Beispiel gibt es da sehr dünne Drähte im Reifen, sie sorgen für seine Steifheit. Und ohne Berücksichtigung solcher Details lässt sich das Verhalten des Reifens nicht vernünftig simulieren."
Haben die Mathematiker ein neues Design programmiert, folgen virtuelle Dauertests: Dann rollen die Reifen im Rechner über Strecken von 40.000 Kilometern und mehr:
"Wir können ziemlich genau voraussagen, wie ein Reifen nach einigen Jahren aussehen wird und wie sich seine Eigenschaften von denen eines neuen unterscheiden. Dabei versuchen wir zu berücksichtigen, dass jeder Fahrer anders fährt - der eine behutsam, der andere offensiv. Das wirkt sich natürlich auf die Reifen aus, etwa auf ihr Profil. Und mit unseren Simulationen können wir alle möglichen Fahrverhalten durchspielen."
Die Simulationen berücksichtigen unterschiedliches Fahrverhalten
Ähnliches gilt für Situationen, in denen die Reifen so stark belastet werden, dass sie kaputtzugehen drohen - etwa wenn man mit Wucht über den Kantstein brettert. Oder:
"In manchen Ländern sind die Straßen nicht so, wie wir es gewohnt sind. Da gibt es viel mehr und viel größere Schlaglöcher. Auch das können wir im Rechner nachbilden. Unsere Simulationen können verraten, was bei einem Defekt im Reifeninneren passiert und wie sich das Versagen im Detail abspielt."
Die Ergebnisse helfen, Reifen stabiler und haltbarer zu machen, sagt Patrice Hauret, der kürzlich für seine Arbeiten einen renommierten Preis der Europäischen Mathematischen Gesellschaft erhielt. Auf eines allerdings kann man trotz aller mathematischer Raffinesse nach wie vor nicht verzichten:
"Natürlich muss man an einem gewissen Punkt die Ergebnisse einer Simulation mit der Wirklichkeit abgleichen. Deswegen machen wir viele Tests mit realen Prototypen. Aber diese Tests sind teuer. Und ein wichtiger Zweck unserer Simulationen ist, die Anzahl der Tests im Rahmen zu halten und nur die besonders aussichtsreichen Konzepte zu testen."