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Reihe "Auf der Suche nach dem Wir" (Teil VII)
"Solidarität ist genauso universal wie Freiheit oder Gleichheit"

Für Markus Gabriel ist das Krisen-Jahr 2020 ein "welthistorischer Beweis" für moralischen Fortschritt. Die Gesellschaft habe extrem solidarisch auf das Virus reagiert: "Solidarität heißt hier, dass wir alle qua Menschsein im selben Boot sitzen", so der Bonner Philosoph. Die fordert er auch im globalen Maßstab.

Markus Gabriel im Gespräch mit Karin Fischer |
Der Philosoph Markus Gabriel
Moralisch handeln! Markus Gabriel reklamiert universale Werte für das 21. Jahrhundert (dpa/picture alliance/Geisler-Fotopress)
"Auf der Suche nach dem Wir" heißt das Thema der Deutschlandradio-Denkfabrik 2021. Es ging bereits um das Thema Solidarität, um die Verführungskraft der einfachen Antworten oder darum, wie Ungleichheit die Gesellschaft zerstört. Der Bonner Philosoph Markus Gabriel will nichts weniger als die Welt in globalem Maßstab auf neue Werte verpflichten, auf eine "neue Aufklärung". Werte, von denen wir in den vergangenen Jahren geglaubt haben, sie wären stark auf dem Rückzug oder überhaupt verloren gegangen - durch eine Öffentlichkeit in den sozialen Medien, die so tut, als ob "wahr" und "falsch" irgendwie dasselbe seien. Durch eine Verrohung des Diskurses, an dem auch Staatsoberhäupter mitgewirkt haben. Durch eine Kritik an der Aufklärung selbst aus postkolonialer Perspektive, die auch an ihrem Begründer, Immanuel Kant, kein gutes Haar lassen will.

Die Kinder im Blick behalten

Gerade der Blick auf die Corona-Krise lässt Markus Gabriel hoffen. Im vergangenen Jahr seien maßgebliche Themen von Corona bis Frauenquote unter moralischen Gesichtspunkten öffentlich verhandelt worden. Der Gesundheitsschutz sei aber nur ein Teil im komplexen Gefüge der Güterabwägung:
"Das, was ich seit letzten März den 'virologischen Imperativ' nenne, fordert uns, unter Berücksichtigung der epidemiologischen Gesamtlage, das möglichst Richtige zu tun, um Menschen zu schützen. Ich halte es allerdings auch für eine moralische Schandtat, was wir unseren ein- bis zehnjährigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern antun, indem wir Schulen und Kitas dauernd schließen." Gabriel fordert rationale Güterabwägung statt Lockdown-Extremismus, der sich nur auf einen Ausschnitt der öffentlichen Gesundheit fokussiere. Und eine grundsätzliche Horizonterweiterung jenen gegenüber, "die gar keine Stimme haben, und das sind die Kinder".
Die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack
Politikwissenschaftlerin: Solidarität muss man sich leisten können
Wie können Empathie und Solidarität in eine Gesellschaft zurückkehren, die mehr und mehr auf Leistung und Konkurrenz ausgerichtet ist? Der Mensch werde als soziales Wesen geboren, sagt die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack. Er dürfe diese Eigenschaft aber nicht verlernen.

Solidarität als Grundpfeiler moralischen Handelns

Die Grundpfeiler der Aufklärung aus der Französischen Revolution von 1789, der wir den demokratischen Rechtsstaat verdanken, möchte Gabriel fürs 21. Jahrhundert "Freiheit, Gleichheit, Solidarität" nennen:
"Solidarität heißt hier, dass wir alle qua Menschsein im selben Boot sitzen. Ich habe die selben Arten moralischer Verpflichtungen gegenüber Bürgern des Kongo wie gegenüber Inderinnen oder Bayern. Dass ich eine besondere Verpflichtung gegenüber meinen Mitbürgern im selben Staat habe, ist eine moralisch gefährliche Verfehlung. Solidarität ist etwas genauso Universales wie die Freiheit oder die Gleichheit, unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Nationalität, Religion etc."

Ethische Wahrheiten sind nicht verhandelbar

Wenn es um die Frage geht, "wer wir sind und wer wir in Zukunft in einer gerechteren Welt sein wollen", müsste – wie derzeit die virologische - auch die geisteswissenschaftliche Expertise an Ansehen gewinnen. Die Politik müsse sich "die philosoph-ethischen Wahrheiten genau so einverleiben wie die medizinischen Wahrheiten, weil sie sonst denselben Fehler begeht wie eine Fake-News-Produktionsmaschine à la Donald Trump."
Auch der Glauben an den globalen Turbo-Kapitalismus ist laut Markus Gabriel "Unsinn", und zwar nicht nur moralphilosophisch, sondern auch ökonomisch: "Wenn die einzige Möglichkeit, wirtschaftlich auf ein Vor-Krisen-Niveau zu kommen, die Rückkehr zum selbstzerstörerischen Turbo-Kapitalismus ist, dann ist die Menschheit zur Selbstausrottung verdammt. Das scheidet meines Erachtens als Option aus."

Konsumgewohnheiten lassen die Gesellschaft verrohen

Aus diesem Grund müssten solche Themen wie zum Beispiel das Lieferkettengesetz massiv vorangetrieben werden: "Ausbeutungs- und sklavenähnliche Verhältnisse müssen auch außerhalb der deutschen Grenzen selbstverständlich illegal werden. Das geht ja gar nicht anders, wie könnten wir das denn zulassen?!" Was wir in Deutschland für unmoralisch und völlig inakzeptabel halten, müssten wir auch in China, Indien oder im globalen Süden für moralisch unakzeptabel halten - mit der gleichen Selbstverständlichkeit:
"Tun wir das nicht, müssen wir mit aller Härte das Folgende sagen: dass wir DAS BÖSE tun. Das ist nichts Geringeres als ein System des Bösen, das wir eingerichtet haben. Und das müssen wir tagtäglich wiederholen, in der Hoffnung, dass die Menschen irgendwann einsehen, dass wir hier gerade verrohen aufgrund unserer Konsumgewohnheiten."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.