Die sehr alte Frage "Wie wollen wir leben?" stelle sich unter den Bedingungen der Gegenwart neu, so Georg Diez, und zählt auf: Der sich vollziehende Klimawandel, die Folgen der menschengemachten Naturzerstörung, die technologische Revolution, die wir durchleben sowie wachsende Ungleichheit in unseren Gesellschaften. Ausgehend von der Erkenntnis, dass wir so nicht weiter wirtschaften können auf diesem Planeten, weil sonst ein Leben in einer würdevollen Form für die meisten von uns nicht mehr möglich sei, stelle sich die Frage, wie man – ökonomisch, aber auch demokratisch – anders miteinander umgehen könne. Und das innerhalb eines Wertesystems, das - in Form einer allgemeinen Richtlinie - die Verantwortung für den Planeten miteinbezieht.
Ein neues Menschenbild für einen gerechteren Markt
Das Wirtschaften in den vergangenen vierzig Jahren stand mehr und mehr im Zeichen des Neoliberalismus, sagt Georg Diez, verbunden mit einem Menschenbild, das eine krude darwinistische Vorstellung beinhalte davon, dass der Mensch egoistisch und selbstzentriert sei. Das Wirtschaften, der Markt, kenne deshalb nur Gewinner und Verlierer, so Georg Diez. "Und das führte dazu, dass der Staat als Institution mehr und mehr abgeschafft wurde und das Gemeinschaftsgefühl auch. Und, größer gefasst, zu einer wirtschaftlichen Durchdringung aller Lebensbereiche."
Nach den Vorstellungen neuer Denker, wie sie sich im Programm "Value and Values" des "New Institute" niederschlagen, solle "das große Wir, die große Community, das Gemeinschaftssystem das sein, das letztlich auch die Marktwirtschaft antreiben sollte - nicht die Konkurrenz, sondern die Vorstellung eines gerechten Marktes." Dieses Menschenbild setze auf Gemeinsinn, Empathie und das Zusammengehörigkeitsgefühl, also auf Eigenschaften, die evolutionär das Überleben des Menschen gesichert hätten.
Klimawandel und Gerechtigkeit zusammendenken
Am Beispiel der französischen Gelbwesten-Prostete verdeutlicht Georg Diez den Konflikt: "Da haben sich französische LKW-Fahrer oder Menschen, die auf dem Land leben, also aufs Auto angewiesen sind, plötzlich einfach ungerecht behandelt gefühlt, weil der Kampf gegen den Klimawandel nun dazu führen sollte, den Benzinpreis zu erhöhen." Die Bereiche Nachhaltigkeit und Gerechtigkeitsfragen müssten künftig zusammengedacht werden. Die Bewegung "Fridays for Future" betone deshalb ja immer, dass sie ein "climate justice movement", eine Klima-Gerechtigkeits-Bewegung sei. Und viele Menschen stellten heute die Frage, ob man nicht auch Eigentum gemeinschaftlich definieren könne, sei es Wohnraum, Wasser oder Boden: "Das hat nichts mit Sozialismus zu tun, sondern einfach damit, dass man bestimmte Dinge dem Markt entnimmt." Im Sinne des Gemeinwohls gewinnt der Allmende-Gedanke deshalb derzeit wieder an Bedeutung.
Technologie für offenere, hierarchiefreie demokratische Diskurse
"Technologie kann es ermöglichen, dass man zum Beispiel Wahlen oder Repräsentation anders organisiert. Das ist mit dem Begriff "Liquid Democracy" gemeint. Man kann Räte einführen, man kann seine Stimme teilweise an Experten abgeben, teilweise selber abstimmen, einen kurz getakteten demokratischen Diskurs einführen mit sehr viel intensiverem Austausch, der einen dauernden Abgleich ermöglicht, wo man sich hinbegeben will als Gesellschaft. Das klingt anstrengend, ist es womöglich auch, aber es ist – wie es der brasilianische Denker Roberto Unger sagt - mehr eine ‚high energy democracy', also so eine Hitze in der Gesellschaft, die sich auch durch Konflikte bildet, aber eben doch ein sehr anderes Modell ist als die eingefahrene, stillgelegte Gesellschaft, die wir meiner Einschätzung nach gerade haben. Das technologische Potential ist jedenfalls da, dass man einen sehr viel intensiveren, offeneren, hierarchiefreien, transparenteren Diskurs führt."
Dlf-Denkfabrik 2021 – Auf der Suche nach dem "Wir"
Wenn sich eine Gesellschaft nicht mehr auf grundlegende Werte einigen kann, entzieht sie sich selbst den Boden – sei es in der analogen Welt oder im digitalen Raum. Wenn wir uns nicht mehr einig sind, was wahr und was falsch, was gut und was böse ist, dann können wir uns nicht mehr sinnstiftend miteinander auseinandersetzen. Wie viel Differenz halten wir aus und wer baut Brücken für den notwendigen Diskurs und Zusammenhalt?
Wenn sich eine Gesellschaft nicht mehr auf grundlegende Werte einigen kann, entzieht sie sich selbst den Boden – sei es in der analogen Welt oder im digitalen Raum. Wenn wir uns nicht mehr einig sind, was wahr und was falsch, was gut und was böse ist, dann können wir uns nicht mehr sinnstiftend miteinander auseinandersetzen. Wie viel Differenz halten wir aus und wer baut Brücken für den notwendigen Diskurs und Zusammenhalt?