Maja Ellmenreich: Wenn wir an diesen ersten Tagen im neuen Jahr in "Kultur heute" über die Zeit sprechen, dann darf natürlich die Musik nicht fehlen: die Musik als Zeitkunst schlechthin. Ohne den Verlauf der Zeit könnten wir schließlich weder das Anschwellen eines mächtigen Orchesterklangs hören noch das Verklingen eines einzelnen zarten Geigenzupfens.
Aber die Zeit bestimmt nicht nur das Musik-Erleben, sondern auch ganz maßgeblich das Musiker-Leben. Wann ist der richtige Zeitpunkt für die große Karriere, wann der für den Abschied von der Bühne? Und wann ist es an der Zeit, dem Profimusiker auch mal eine Pause zu gönnen?
Meine Gesprächspartnerin, die Konzertagentin Sonia Simmenauer, in den USA geboren, in Frankreich aufgewachsen, leitet ihr eigenes Impresariat, ihre eigene Konzertagentur in Berlin. Sie vertritt namhafte Solisten wie die Geigerin Isabelle Faust oder den Pianisten Piotr Anderszewski. Doch insbesondere betreut das "Impresariat Simmenauer" berühmte Streichquartette: etwa das Hagen-, das Artemis-Quartett oder das Quatuor Ébène.
"Es ist erst mal die Frage, ob es einen Durchbruch geben muss"
Frau Simmenauer, Sie begleiten und beobachten beeindruckende Musikerkarrieren. Nicht jedes große Talent wird aber automatisch auch ein erfolgreicher Profimusiker, eine erfolgreiche Profimusikerin. Ist der große Durchbruch auch eine Frage des richtigen Timings?
Sonia Simmenauer: Es ist erst mal die Frage, ob es einen Durchbruch geben muss oder ob es etwas ganz organisch wachsen kann, was dann nie so richtig zu spüren ist, dass es jetzt gerade der Moment ist, sondern dass es eben … irgendwann mal guckt man zurück und sagt, so weit ist er oder sie gekommen. Und das ist da, wo die Zeit eine Rolle spielt.
Ellmenreich: Verstehe ich Sie richtig, Sie plädieren für Geduld und für die Fähigkeit, der Zeit ihren Lauf zu lassen und nicht gleich so ergebnis- und gleich so karriereorientiert zu sein?
Simmenauer: Das auf jeden Fall, es gibt aber Ausnahmen natürlich: Es gibt welche, die ganz, ganz jung durchschießen, weil ihr Talent so enorm groß ist. Ich denke gerade an Herrn Trifonow, der wirklich innerhalb von nur ein paar Jahren von keinem Namen zu einem Gott des Klaviers geworden ist. Ein anderer ist Igor Levit, der auch sehr, sehr schnell Karriere gemacht hat, und es sind keine Schnellschusskarrieren, sondern es sind auch sehr fundierte Karrieren. Andere brauchen 20 Jahre, 25 Jahre, andere fangen mit 60 an. Ich nenne da nur Herrn Sokolow, der sehr, sehr spät als der ganz große, der er ist, erkannt wurde.
Ellmenreich: Aber Wunderkinder, also Musiker, die ganz, ganz früh schon großes Talent zeigen und auch auf den Bühnen präsentiert werden, die haben schon einen ganz besonderen Wert, also die Kürze der Zeit, die kurze Karriere hat schon auch ihren Reiz in diesem Musikbusiness, oder?
Simmenauer: Leider ja. Es wird in jedem Kind ein Wunderkind gesucht, und das ist sehr, sehr schade. Es gibt Ausnahmen, aber die Regel ist, es braucht Zeit.
"Die Lust an dem Geliebtwerden ist doch eine sehr große Gefahr"
Ellmenreich: Die leider viel zu jung verstorbene Pianistin Mihaela Ursuleasa war so ein sogenanntes Wunderkind und hat, als sie so 12, 13 Jahre alt war, von dem Dirigenten Claudio Abbado den Rat bekommen, sich Zeit zu lassen, also für ihre schulische, aber auch insbesondere für ihre musikalische Entwicklung. Ist das also ein Rat, den vielleicht auch andere junge Shooting Stars der Klassik viel häufiger erhalten sollten, sich Zeit zu lassen?
Simmenauer: Ich glaube, den Rat bekommen sie, aber ob sie das umsetzen können, ist die andere Sache. Auch der Druck von außen ist enorm. Wenn jemand so schillernd ist, so lebendig ist wie die Mihaela es war, wird es auch genutzt von anderen Kräften als nur den Musikkräften – von der Presse, von der PR –, und die Lust an dem Geliebtwerden oder vermeintlich Geliebtwerden ist doch eine sehr große Gefahr.
Ellmenreich: Welche Rolle als Konzertagentin nehmen Sie da ein? Sind Sie diejenige, die sagt, ruhig, ruhig, Zeit lassen, oder müssen Sie auch mit dem Blick auf das Konto, auf die Honorare und die Engagements auch manchmal Zeit und Zeitdruck machen?
Simmenauer: Nein, das möchte ich eigentlich nie. Ich gehe davon aus, dass ich mein Auskommen dadurch habe, dass ich erfolgreiche Künstler habe, die eben die Jüngeren so lange tragen, bis sie wiederum weit genug sind, groß zu sein.
Ellmenreich: Also eine Mischkalkulation, wenn man das so will.
Simmenauer: Wenn ich kalkulieren würde, ja.
"Mit dem Künstler darüber sprechen, ob es Zeiten gibt, wo er Pause macht"
Ellmenreich: Sie sind aber trotzdem als Konzertagentin mit langjähriger Erfahrung und mit vielen, vielen renommierten Künstlerinnen und Künstlern unter Vertrag doch auch so etwas wie eine Zeitmanagerin Ihrer Klienten – ich weiß nicht, wie Sie sagen, Klienten oder Kunden oder Künstler.
Simmenauer: Ja, ich weiß es auch nicht, Künstler am liebsten. Ja, natürlich, ich muss zusehen, dass ich denen vielleicht Zeiten einräume oder dass ich denen Zeiten schenke, ohne dass sie das wissen. Sie sind meistens sowieso unvernünftig, weil man kommt in so einen Rhythmus rein. Es ist nicht leicht zu ermessen, was kann ich in zwei Jahren, was kann ich nicht. Wir planen sehr, sehr früh im Voraus, und die Kräfte sind nicht messbar für in zwei Jahren, also liegt es an mir zu wissen, kann ich diese drei Konzerte hintereinander nehmen oder sollte ich nur eins davon nehmen und das auch erklären – mit dem Künstler darüber sprechen, ob es Zeiten gibt, wo er Pause macht, um was ganz anderes zu machen oder um eben was studieren zu können, und mit den Jüngeren vor allem, die Planung zu machen, welche Stücke wann kommen, ob ein bestimmtes Stück jetzt schon gespielt werden kann, ob Zeit genug ist, das zu lernen. Das gehört dazu.
Ellmenreich: Also Sie müssen in gewisser Art und Weise manchmal schon vorausblicken in der Zeit und womöglich auch so den zeitlichen Biorhythmus des Künstlers besser kennen als er selbst?
Simmenauer: Ja, das muss ich, und da hilft schon die Erfahrung und die Tatsache, dass ich weiß, dass wenn man ein bisschen älter wird, manche Kräfte auch nicht mehr ganz so sicher zur Verfügung stehen.
Ellmenreich: Beobachten Sie da bestimmte Typen bei den Musikern, bei den Künstlern?
Simmenauer: Ja, unbedingt. Es gibt diejenigen, die immer schneller werden, je schneller sie sein müssen, und andere, die eine natürliche Bremse haben, und andere, die sehr darunter leiden. Ich muss schon beobachten, wie der Künstler mit dem Rhythmus, der entsteht, umgehen kann. Und ich kann das natürlich spüren, ob er gehetzt ist, ob er in seinem Tun aufgeht.
Ellmenreich: Dafür müssen Sie aber, Sonia Simmenauer, auch sich viel Zeit für den Künstler nehmen, also nicht nur am Telefon und am Computer sitzen, sondern auch ihre Künstler persönlich treffen und ein Gespür bekommen dafür, ob sie gerade gehetzt sind oder ob sie Muße haben und ob sie ein bisschen mehr leisten können, ein Brikett mehr auflegen können. Kostet dann Sie auch sehr viel Zeit als Konzertagentin, oder?
Simmenauer: Ja. Das Reisen – und ich kann es meinen Künstlern sehr nachfühlen, wie anstrengend das Reisen ist, wie dieses Sicheinstellen auf Neues ständig sehr viel Kraft kostet. Aber es ist nicht so, dass ich meine Künstler dauernd hören muss und sehen muss, ich glaube, das Gefühl dafür, ob sie an eine Grenze kommen, das muss ich nicht im Sprechen, das spüre ich schon, weil ich sie kenne.
Ellmenreich: Sie haben ja aus Ihrer langjährigen Erfahrung auch ein Buch geschrieben, über das Streichquartett-Leben insbesondere, mit dem Titel "Muss es sein?" Nun gibt es Quartettmusiker, die es nicht sehr lange miteinander aushalten, und es gibt auf der anderen Seite auch Exemplare als Ensembles, die über Jahrzehnte in derselben Besetzung miteinander musizieren. Gibt es so etwas wie ein Rezept für eine lebenslange Musikerbeziehung, eine lebenslange Quartettbeziehung?
Simmenauer: Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, letzten Endes ist der Kitt die Musik oder das Miteinander-Musizieren. Solange in diesem Musizieren die Luft bereinigt wird, geht es. Und wenn das Musizieren das nicht mehr hergibt, die Luft nicht mehr filtert, dann geht es nicht mehr. Ich würde auch wahrscheinlich dieses Buch heute, zehn Jahre später, noch anders schreiben, als ich es getan habe, weil auch die Zeit, die vergangen ist, diese letzten zehn Jahre, ganz andere Parameter hergestellt hat oder Menschen mit anderen Parametern heute umgehen als vor zehn Jahren oder vor 20 Jahren.
"Weniger Kurven für die Künstler, sich zu suchen"
Ellmenreich: Also ist diese hastige Zeit, in der wir leben oder in der zumindest viele von uns das Gefühl haben zu leben, hat die auch das Musikbusiness härter und schärfer gemacht?
Simmenauer: Ja, unbedingt. Auch in dieser Idee, dass man so schnell so hoch klettern muss und dass man so schnell berühmt werden muss, das hat vieles reduziert, es hat sehr vieles linearer gemacht. Es erlaubt weniger Kurven für die Künstler, sich zu suchen. Wenn ich eine Frau Faust nehme, die über 25 Jahre ganz behutsam immer mehr das gesucht hat, was sie wollte …
Ellmenreich: Sie sprechen von der Geigerin Isabelle Faust?
Simmenauer: Isabelle Faust, die ein phänomenales Beispiel ist für jemanden, der sich die Zeit genommen hat, die nie nachgelassen hat, die immer mit sich und der Zeit gegangen ist, auch wenn sie mit dieser Zeit nach hinten gegangen ist, indem sie zum Ursprung gegangen ist.
Ellmenreich: Nun ist es bei Isabelle Faust noch lange hin, bis sie sich von der Bühne verabschieden wird, aber wenn wir das Thema Zeit uns anschauen, dann sollten wir vielleicht auch noch mal über den Abschied sprechen. Gibt es Parameter, gibt es Anzeichen für Sie, einem Künstler den Rat zu geben, jetzt ist es an der Zeit aufzuhören?
Simmenauer: Jein, es gäbe es schon, aber er muss es selber entscheiden. Ich kann nur ein bisschen helfen, indem ich vielleicht sagen würde, dass wir weniger machen, aber ich kann niemandem sagen, dass er von der Bühne gehen soll. Das hoffe ich manchmal, dass jemand das selber erkennen kann.
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