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Reihe: Eine Frage der Zeit
Gehetzte Politik

Soziale Medien wie Twitter und Facebook, aber auch die Märkte zwingen die Politik zu schnelleren Reaktionen. Das tut ihr nicht gut, sagte der Journalist und Buchherausgeber Wolfgang Krischke im Dlf. Er mahnt mehr Mut zur Langsamkeit an.

Wolfgang Krischke im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske |
    Eine Frau meditiert auf einem Tisch, an ihr hetzen Kolleg*innen vorbei
    Hektik ist ansteckend. Oder? Der Journalist Wolfgang Krischke sagt, die Politik tue gut daran, sich nicht hetzen zu lassen (imago/Westend61)
    Doris Schäfer-Noske: "Die Welt wartet nicht auf uns." – Mit diesen Worten hat Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Neujahrsansprache eine rasche Regierungsbildung den Wählern versprochen und zugleich von den anderen Parteien eingefordert. Eine Kanzlerin, die sich nach dem Jamaika-Aus unter öffentlichem Druck sieht – und unter Zeitdruck. Auch heute laufen wieder Sondierungsgespräche. Die Regierungsbildung soll möglichst schnell abgeschlossen werden, betont auch CSU-Chef Seehofer. Ostern sei der allerspäteste Zeitpunkt.
    In unserer Gesprächsreihe über das Phänomen der Zeit soll es heute um die gehetzte Politik gehen. "Die gehetzte Politik – die neue Macht der Medien und Märkte", so lautet nämlich der Titel eines Buches, das Interviews mit Politikern und Medienmachern beinhaltet. Und mein Gesprächspartner Wolfgang Krischke ist einer der Herausgeber.
    Herr Krischke, wenn zu Ostern endlich eine neue Regierung steht, dann kann man ja eigentlich nicht von gehetzter Politik sprechen, oder?
    Wolfgang Krischke: Da gebe ich Ihnen völlig recht. Die Sondierungs- und Koalitionsgespräche haben sehr lange gedauert. Das, finde ich, ist auch durchaus positiv zu werten. Das parlamentarische System, seine Akteure haben sich nicht unter Zeitdruck setzen lassen, obwohl der Zeitdruck von den Medien und in der Politik ja teilweise auch aufgebaut wurde. Aber ich denke, die Zeit war notwendig, denn dass es so lange gedauert hat, liegt ja nicht am Unwillen oder der Unfähigkeit der politischen Akteure, sondern das liegt daran, dass wir eine gesellschaftliche Krise haben, dass es gesellschaftliche Konflikte gibt, die schon lange schwelen und die jetzt auch im parlamentarischen System angekommen sind. Und da gibt es bestimmte, länger dauernde Prozeduren, wie damit umzugehen ist, und diese Prozeduren, die werden jetzt durchlaufen.
    "Medien erzeugen oft den Eindruck von Tempo"
    Schäfer-Noske: Bei den Sondierungsgesprächen heißt es ja auch, keine Interviews, keine Zwischenstände, absolute Geheimhaltung. Offenbar will man sich da tatsächlich jetzt nicht unter Zeitdruck setzen lassen. Aber sind denn wirklich mal wieder die Medien schuld am Zeitdruck? Ihr Buch nennt ja im Untertitel auch die neue Macht der Medien.
    Krischke: In diesem Fall haben sich die Medien, glaube ich, einigermaßen zurückgehalten. Es ist ja auch teilweise eher das politische Umfeld, das Druck aufbaut. Es kommen ja Signale aus der EU, dass alle möglichen Prozesse ins Stocken kommen, weil Deutschland politisch nicht in die Strümpfe kommt. Ich denke, die EU wird nicht untergehen, wenn es etwas länger dauert.
    Medien erzeugen oft den Eindruck von Tempo. Es wird eine Meldung nach der anderen herausgejagt. Auf jede Kommentierung folgt schon die Gegenkommentierung oder die Reaktion. Aber die Politik, über die gewissermaßen berichtet wird, die ist ja deutlich behäbiger, als das die Berichterstattung der Medien im Internet-Zeitalter oft suggeriert.
    Schäfer-Noske: Welche Rolle spielen denn da auch die sozialen Medien – es sind ja nicht immer die klassischen Medien, auch nicht unbedingt die Online-Berichterstattung – nach dem Motto, jeder unausgereifte Gedanke landet sofort auf Twitter oder Facebook.
    Krischke: Ja, das ist sicherlich so. Ich glaube aber, dass diese erhitzte Meinungsbildung erst dann politisch wirksam wird, wenn sie von den klassischen Medien - und mit den klassischen Medien meine ich jetzt auch die Online-Portale, die zu Zeitungen beispielsweise gehören –, wenn die solche Meldungen, Meinungen, teilweise sind es ja auch einfach Kampagnen, aufgreifen. Ich glaube, dann bekommen Themen, die in den sozialen Medien hochgespielt werden, erst wirklich ihre öffentliche Durchschlagskraft.
    "Verlangsamung auf Seiten der Medien wäre angebracht"
    Schäfer-Noske: Das heißt, die Medien müssen da auch etwas ändern? Weil zum Beispiel der Medienjournalist Stefan Niggemeier sagt ja in Ihrem Buch, die Politiker müssen das abkönnen.
    Krischke: Da bin ich nicht ganz seiner Meinung. Natürlich müssen Politiker eine gewisse Resistenz haben. Es gibt ja dieses schöne Sprichwort: Wer in der Küche mitkochen will, der muss auch die Hitze aushalten können. Ich denke aber, dass da ein gewisses Urteilsvermögen und auch mal eine gewisse Verlangsamung auf Seiten der Medien durchaus angebracht wäre, was natürlich in der Praxis schwierig ist. Man weiß ja immer nicht genau, wenn so etwas hochkocht, ob es nicht möglicherweise dann doch politisches Gewicht hat. Niemand möchte dann sich vorwerfen lassen müssen, er hätte da etwas verschlafen. Das Ganze ja auch in einem Umfeld, wo Medienkonkurrenz eine wichtige Rolle spielt. Das erfordert schon starke Urteilskraft und auch ja eine gewisse Festigkeit gewissermaßen auf Seiten der professionellen Redakteure. Aber die müssen sie halt mitbringen heutzutage.
    Schäfer-Noske: Politiker treiben das Ganze ja auch manchmal an, weil viele bedienen sich ja inzwischen auch Twitter oder Facebook.
    Krischke: Ja, das ist so in der Tat. Ich habe den Eindruck allerdings, wenn wir jetzt mal Donald Trump außen vor lassen, bei dem das natürlich extrem ausgeprägt ist, ich habe allerdings den Eindruck, dass in Deutschland die Facebook-, Twitter-, Sozialmedien-Euphorie bei Politikern möglicherweise schon etwas nachgelassen hat, wenn ich mir mal den Zeitraum anschaue, in dem dieses Buch entstand – das sind ja ungefähr fünf Jahre her -, dass die ganz große Euphorie da schon wieder etwas abgeklungen ist. Wenn Sie an diese Zeit denken, da war die Piratenpartei stark, die ja damals die Internet-Demokratie sogar propagierte, die Vorstellung, dass alle Bürger online in Echtzeit gewissermaßen an der politischen Willensbildung beteiligt sind. Von dieser digitalen volonté générale gewissermaßen, davon ist ja nicht viel übrig geblieben, und die Piratenpartei ist ja auch weitgehend Geschichte heute.
    Märkte als treibende Kräfte
    Schäfer-Noske: Im Titel Ihres Buches nennen Sie ja noch einen zweiten Schuldigen sozusagen, nämlich die Macht der Märkte. Wie treiben denn die Märkte die Politiker vor sich her?
    Krischke: Märkte treiben Politiker natürlich generell vor sich her, jedenfalls in politischen Systemen, in denen die Politik auch den Anspruch hat, Wirtschaft in gewisser Weise mitzugestalten von einer sozialpolitischen Agenda aus. Eine besondere Dynamik hat das allerdings heutzutage erhalten durch den Hochfrequenzhandel an den Börsen. Das ist ein, glaube ich, echtes Tempoproblem. Wir leben ja in einer Situation, wo automatisch generierte Kauf- und Verkaufsorders abgeschickt werden und wo Zeitvorteile, die im Sekunden- und teilweise auch im Millisekundenbereich liegen, ausgenutzt werden, um Gewinne zu machen. Normale Händler können da nicht gegenhalten. Es ist ein entscheidender Vorteil, den Hochfrequenzhändler und ihre automatischen Systeme haben.
    Und wenn wir uns einmal anschauen, welche, man kann ja fast schon sagen, tektonischen Erschütterungen es da gegeben hat auf dem Finanzmarkt, dann ist da auch die Politik, die versucht, solche Prozesse zu regulieren, eindeutig im Nachteil. Wobei man sagen muss: Es gibt in Deutschland ja inzwischen auch den Versuch, durch eine Gesetzgebung diesen Hochfrequenzhandel zu bändigen. Ich habe allerdings nicht den Eindruck, dass das schon durchschlagend geglückt ist.
    Der Rechtsstaat lässt sich nicht beschleunigen
    Schäfer-Noske: Richard David Precht sagt ja in Ihrem Buch, jede Entscheidung sollte erst noch einmal gegengeprüft werden. Wenn ich Sie jetzt so höre über den Finanzhandel, ist so was heute überhaupt noch möglich?
    Krischke: Ich glaube, das kommt auf den Bereich an. Das stimmt, was den Hochfrequenzhandel, den automatisierten angeht. Das ist, glaube ich, so wie er zurzeit betrieben wird, nicht wirklich möglich. Da gibt es tatsächlich einen großen Bereich in der Gesellschaft, der der politischen Kontrolle entzogen ist. In anderen Bereichen funktioniert das ja nach wie vor.
    Unser gesamtes politisches System mit seiner Gewaltenteilung, mit seiner föderalen Struktur, mit seiner starken Rechtsprechung, seiner starken Justiz, ist ja doch immer noch sehr stark auf Checks and Balances, wie es im amerikanischen Politikbetrieb heißt, ausgerichtet. Es gibt immer noch Kontrollmechanismen. Wir erleben ja, dass gerade heutzutage politische Großprojekte – denken Sie an den Berliner Flughafen, oder denken Sie auch an die Ausbaggerung der Elbe hier in meiner Heimatstadt Hamburg; da sind zehn Jahre vom Antrag bis zur jetzt wahrscheinlich bald erfolgenden Genehmigung vergangen, zehn Jahre, bevor dann tatsächlich mit diesem Vorhaben begonnen wird, weil die Antragsverfahren so lange dauern, weil es rechtliche Einspruchsmöglichkeiten gibt, die sorgfältig geprüft werden. Da kann man von einer Beschleunigung nicht sprechen.
    Schäfer-Noske: Wenn man nun von der gehetzten Politik von heute spricht, dann geschieht das ja immer im Gegensatz zu früher. War denn früher tatsächlich alles langsamer, also überlegter, und damit auch die Politik besser?
    Aktualitätsdruck gab es auch schon in den 20er-Jahren
    Krischke: Ich glaube, dass wir die Bedeutung des Tempos vielleicht doch etwas unterschätzen, was vergangene Zeiten angeht. Wenn Sie einmal an die Weimarer Republik denken, an die 20er- und frühen 30er-Jahre – da erschienen die großen Tageszeitungen drei-, manchmal viermal am Tag. Es gab eine Morgens-, Mittags-, Nachmittags-, manchmal auch noch eine Nachtausgabe. Unter Umständen erschienen auch noch Extrablätter, Sondermeldungen bei besonderen Ereignissen. Das war auch schon ein enormer Zeitdruck, vor allen Dingen, wenn wir bedenken, dass die Kollegen damals natürlich noch nicht digital gearbeitet haben, sondern im Bleisatz.
    Eine sehr schöne Schilderung dieser Situation finden Sie zum Beispiel im Roman "Fabian" von Erich Kästner, der 1931 erschien. Da wird beschrieben, wie Reihen von Stenotypistinnen an ihren Telefonen sitzen, hektisch die Berichte der Reporter in ihre Blöcke kritzeln, damit die sofort in den Satz gehen. Nebenbei wird dort übrigens auch dargestellt, wie im Redaktionsbetrieb mal schnell ein paar Fake News produziert werden, weil hier und da Leerzeilen zu füllen sind.
    Natürlich ist das digitale Tempo noch mal ein anderes, aber der Aktualitätsdruck als solcher und das Gefühl, in einer immer sich weiter beschleunigenden Zeit zu leben, das ist, glaube ich, deutlich älter.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.