Karin Fischer: Wir handeln von der Zeit in diesen Tagen, passend zum Jahresanfang, zu den etwas ruhigeren Tagen, die wir derzeit verbringen, und passend aber auch zu dem Gefühl, immer zu wenig davon zu haben. Von der Zeit. Dieses Gefühl oder auch die Wahrnehmung, dass das Leben sich beschleunigt, kann man an vielen Phänomenen festmachen, an der immer schnelleren Kommunikation durchs Internet, der Verdichtung der Arbeit, am eigenen Älterwerden. "Die Zeit rast" ist zwar kein logischer, aber ein ständig gehörter Satz. Menschen, die sich mit Beschleunigung auskennen, sind Ingenieure oder, wenn wir im Feld der Kultur bleiben, die sogenannten Akzelerationisten. Der Akzelerationismus ist eine neuere politische Theorie, die dem Kapitalismus zu Leibe rücken will, indem sie ihn beschleunigt, und zwar durch Technologie. Ein Vertreter dieser Kulturtheorie ist der Literaturwissenschaftler Armen Avanessian, ihn habe ich vor der Sendung gefragt, ob er uns die Theorie verständlich erläutern kann.
Armen Avanessian: Der Grund, warum ich so zögerlich beginne, ist, dass der Akzelerationismus wie jeder -ismus eigentlich nicht existiert. Trotzdem macht es Sinn, ihn als eine nicht nur Theorie, sondern auch Praxisbewegung zu sehen. Dem zugrunde liegt eine Ansicht, dass unser vorhandenes wirtschaftliches System, der sogenannte Kapitalismus, eigentlich uns schon die entscheidenden Tendenzen oder Grundlagen oder Plattformen zur Hand gibt, um ihn zu überwinden.
Es geht also vielleicht gar nicht darum, wie Sie in der Anmoderation gesagt haben, dem Kapitalismus zu Leibe zu rücken, sondern der zerlegt sich ja eigentlich vor unseren Augen selber. Und die Frage ist, welche positiven, welche progressiven, technologischen, wissenschaftlichen Möglichkeiten haben wir eigentlich schon zur Hand und sind einfach nur bisher, um es salopp zu sagen, politisch zu dumm, uns besser zu organisieren und zu einem anderen oder postkapitalistischen Wirtschaftssystem zu kommen?
Fischer: Kurze Nachfrage: Wie und warum zerlegt sich der Kapitalismus selber?
Avanessian: Ich würde sagen, dass die politische Ökonomie, in der wir großenteils aufgewachsen sind … Wir sind gewohnt an so etwas wie eine politische Ökonomie, die gebunden ist an bestimmte Parameter wie halbwegs feste Nationalstaaten, regulierbare Bevölkerungen, ein Wirtschaftssystem, das sich selber reguliert, Stichwort Globalisierung, Stichwort Flüchtlingsströme, Stichwort Finanzkrise. Das sind alles Indikatoren dafür, dass diese Ökonomie - diese drei Pfeiler, auf der dieser Nachkriegskapitalismus, der ja halbwegs stabil war, zumindest in Westeuropa, in Nordamerika auf Kosten großer Teile der Weltbevölkerung - dass diese Stabilität einfach nicht mehr funktioniert und wir viel eher in etwas eingetreten sind, was wir jetzt noch nicht wirklich anders benennen können, was wir aber mit etwas Zeit, vielleicht in zehn, zwanzig Jahren schon ganz anders nennen werden.
Vielleicht sind wir schon in so etwas wie einem Neo- oder Finanzfeudalismus, der gar nicht mehr sozusagen auf Produktivität, auf Arbeit, auch auf Arbeitskraft setzt, sondern auf spekulative, derivative, ganz andere ökonomische Modelle.
"Moderne ist Kapitalismus ist Fortschritt ist Beschleunigung"
Fischer: Da wären wir also wieder bei der Zeit angelangt, weil tatsächlich Forscher voraussehen, dass wir künftig eher mehr Zeit haben als weniger, weil uns zum Beispiel die Computer die Arbeit sozusagen aus der Hand nehmen. Inwieweit hat der Akzelerationismus mit dem Zeitbegriff zu tun, was spielt Zeit da für eine Rolle?
Avanessian: Es geht im Akzelerationismus, in seinen unterschiedlichen Spielarten, wie gesagt, nicht darum, die Sachen noch schneller zu machen, es geht eher darum, so eine fast diabolische Gleichung, die wir uns alle - ob konservativ oder progressiv, ob links oder rechts - angewöhnt haben oder die in unseren Köpfen drinnen steckt, und die lautet grob gesagt: Die Moderne ist gleich eine Kapitalistische ist gleich eine Fortschrittliche oder auf Fortschritt Bezogene und eine der Beschleunigung. Und wenn wir diese Gleichung von "Moderne ist Kapitalismus ist Fortschritt ist Beschleunigung" akzeptieren, dann bleibt uns gar nichts anderes möglich als zum Beispiel Beschleunigung oder Fortschritt zurückzuweisen, weil wir sie identifizieren mit dem neoliberalen Kapitalismus, den wir kennen.
Ich denke, andere Akzelerationisten, andere linke Theoretiker halten diese Gleichung für falsch und für gefährlich, der Kapitalismus ist gar nicht fortschrittlich, die Moderne hat ganz andere Versprechen, die wir vergessen haben, und Beschleunigung in sich selber ist nicht unbedingt ein negativer Begriff, so wie wir ihn alltagsphänomenologisch oder im Alltag empfinden. Man muss sozusagen differenzieren zwischen einer alltäglichen Beschleunigung, dass wir ganz oft das Gefühl haben, wir haben zu wenig Zeit, und dem, was Akzeleration eigentlich im Deutschen auch meint, nämlich eine Differenz einzuführen in bestimmte Prozesse.
Die von Ihnen angesprochene Automatisierung ist ein gutes Beispiel: Entweder führt die dazu, dass es immer mehr Überflussbevölkerung gibt, die einfach für nichts gut ist und mit ihrer vielen Zeit nichts anfangen kann oder die zu Ängsten führt, zu Ressentiments, zu xenophoben Reaktionen führt - oder es gibt eine progressive politische Antwort darauf, einen politisch progressiven Umgang damit. Das wären sozusagen weitere Stichpunkte des Akzelerationismus.
"Modelle, die politischen Voraussagen zuwiderlaufen"
Fischer: Wie sähe diese Umdichtung der Theorie denn in der Praxis aus? Können Sie mal ein paar Beispiele nennen des neuen Wirtschaftens?
Avanessian: Zunächst mal geht es darum, dass wir wirklich in unserem … Akzelerationismus ist keine politische Partei. Uns geht es auch nicht darum, eine Theorie sozusagen anzuwenden auf die Praxis. Es geht zunächst mal darum, unsere Wirklichkeit zu verstehen und zu verstehen die Möglichkeit, die sie uns zur Hand gibt, und das ein bisschen zu vergleichen mit einer frappierenden Distanz, die das politische Establishment eigentlich zu den technologischen Veränderungen hat. Was ich sozusagen quer durch das politische Spektrum sehe oder beobachte, ist eher ein Blick zurück, kein gegenwartsgenössischer, sondern ein vergangenheitsgenössischer Blick.
Es wird geträumt in der Sozialdemokratie von bestimmten Vollbeschäftigungsmodellen, die wir aus den 70er-, 80er-Jahren kennen, es gibt auch bei den Konservativen oder Liberalen sozusagen Vorschläge von längeren Arbeitszeiten, späteren Pensionszeiten und so weiter. Das sind alles Modelle, die an den politischen Voraussagen, an dem, was alle technologisch versierten Thinktanks uns prophezeien an Arbeitsverringerungen, zuwiderlaufen. Und diese Diskrepanz, denke ich, gilt es zunächst einmal zu verstehen, auch philosophisch zu verstehen. Zunächst mal ist das natürlich auch eine Theorie, die versucht, aus bestimmten Praxisformen etwas zu lernen.
Fischer: Ich verstehe sehr gut, dass die Akzelerationisten auch und vor allem die Linken kritisieren, weil die den Kapitalismus den Neoliberalen überlassen haben, anstatt selbst am Fortschritt sozusagen mitzuwirken. Andererseits, wenn man jetzt - um noch mal an diesem Beispiel zu bleiben - weiß, dass die Zeit der Vollbeschäftigung vorbei ist, dann ist doch tatsächlich die nächste Frage, wie Modelle für so ein wirklich modernes, durch Technologie unterstütztes Arbeiten aussehen könnten, in denen man mehr Zeit hat!
Avanessian: Wie gesagt, ich denke, das Mehr-Zeit-Haben führt uns möglicherweise in die Irre. Wenn ich mir sozusagen einen nachsilvestrigen philosophischen Ausflug erlauben darf: Wir sind so fokussiert auf die Gegenwart, wir denken, die Probleme sind nur in der Gegenwart zu lösen, von populären esoterischen Phänomenen wie Entschleunigung, Slow Food, Ayurveda, Yoga, gegen die ich alles nichts habe, bis in unser sozusagen politisches Denken hinein.
Vielleicht wäre es besser, sich wegzubewegen von diesem Fokus auf die Gegenwart und genau zu verstehen, in welcher Form von Zeit, in welcher Temporalität wir denn im 21. Jahrhundert leben. Und eine meiner Theorien jetzt auch schon, die ich in meinen letzten Texten oder Büchern versucht habe zu plausibilisieren, ist, dass wir in einer fundamental neuen Zeit leben. Und das heißt nicht nur, dass wie immer sich die Dinge ändern, sondern dass sich quasi - um das ein bisschen bildlich zuzuspitzen - die Richtungen der Zeit geändert haben. Wir haben es mit einer Zeit zu tun, mit einer Gegenwart, die in vielen Aspekten, in vielen Dimensionen von der Zukunft her bestimmt wird.
Das heißt, wir können nicht mehr mit Modellen aus der Vergangenheit arbeiten, wir müssen damit umgehen lernen, dass wir ein Ausmaß an Daten in der Vergangenheit, in der Gegenwart produzieren, die nicht einfach uns von der Vergangenheit her ableitbar machen, sondern von der Zukunft. Dass die Zukunft, dass die Algorithmen über uns schon Dinge wissen, die wir noch nicht über uns wissen - was wir zum Beispiel in der Zukunft für Krankheiten haben werden, was wir in der Zukunft gerne an Produkten haben werden, die uns Amazon jetzt schon empfiehlt und so weiter.
Das heißt, für mich ist es, wenn wir über Zeit reden, ganz wichtig, für diesen Paradigmenwechsel möglicherweise ein bisschen Werbung zu machen, dass wir nicht zu wenig Zeit haben, dass es nicht ein Problem einer Quantität ist, sondern einer qualitativ anderen Zeit, die uns nämlich aus der Zukunft entgegenkommt. Und damit haben wir nicht gelernt umzugehen, weder als Individuen noch sozial oder gar politisch.
"Wir brauchen eine Zukunftsgenossenschaft"
Fischer: Vielleicht spielen Sie ja an auf Ihr Buch "Der Zeitkomplex", in dem Sie die Kunst mit der Finanzwelt verglichen haben und behaupten, die Zeit der Kunst als gesellschaftliche Utopie sei vorbei. Was ist damit gemeint?
Avanessian: Ich habe eher angespielt auf mein Buch "Miamification", das letztes Jahr herausgekommen ist. Aber die These bezüglich der Kunst, dass sie etwas aufgegeben hat, was die Avantgarden, was die moderne Kunst ja wiederum schon im Namen hat, nämlich ein bestimmtes Zukunftsversprechen … Contemporary Art ist alles, was contemporary, zeitgenössisch produziert wird. Und mein Plädoyer wäre, zu sagen, wir müssen uns von dieser Gegenwartsobsession lösen angesichts dieser immer mehr werdenden, immer dominanter werdenden Vergangenheitsgenossen, die jeweils diesen "Great Again" machen wollen, die immer sich auf die Vergangenheit konzentrieren.
Was wir brauchen, ist eine Zukunftsgenossenschaft. Wir müssen lernen, dass wir gar nicht eine gemeinsame Gegenwart teilen, dass diese Gegenwart, dieses Jetzt sehr, sehr asynchron ist, dass wir in einer ganz komplexen oder eben zeitkomplexen Gesellschaft leben, in der die schon erwähnten computergesteuerten Systeme, Algorithmen, Automatisierungsprozesse Big Player sind und wir und unsere sozusagen jeweilige subjektive Gegenwart nur ein Mitspieler und anderen ist. Deswegen plädiere ich für so etwas wie eine zukunftsorientierte Zeitgenossenschaft, die versucht, unsere Gegenwart aus der einzigen Perspektive zu verändern, aus der Veränderung möglich ist, nämlich wie gesagt aus der Zukunft.
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