Udo Greiner-Pachter zeigt sein Reich:
"In diesem Bereich hier ist die alte Graugussgießerei gewesen, wo ich damals angefangen habe."
Die Gießerei im Mercedes-Werk Mettingen bei Stuttgart. Der kräftige Mann mit dem markanten Schnurrbart ist hier Meister, das heißt, er leitet mit einem Kollegen den Teil des Werkes und ist Chef von den 63 Männern, die hier arbeiten. Hier entstehen Autoteile noch aus Eisen und Stahl. 1800 Grad heiß ist die weißglühende Masse, wenn sie in die Formen gepresst wird. Jetzt einen Schritt zur Seite gehen, warnt Greiner, denn es spritzt. Es ist noch immer kein keimfreier Arbeitsplatz, aber in den vergangenen 25 Jahren hat sich viel verändert:
"Vor 25 Jahren haben wir mit dem Kobolofen geschmolzen, sprich da war Koks mit im Spiel, wo Koks ist, ist etwas schwarz, das haben sie eben an der Halle gesehen."
Hochzeitsreise in den Westen nach Öffnung der Grenze
Aber es ist doch die Halle, in die Udo Greiner-Pachter am 19. Februar 1990 kam. Er war damals 25 Jahre alt, und im Nachhinein hört sich seine Geschichte ein bisschen wie ein Märchen an. Ein paar Wochen nach Öffnung der Grenze beschloss er gemeinsam mit seiner Frau, die Hochzeitsreise nachzuholen, die sie fünf Jahre zuvor aufgeschoben hatten. Mit ihren zwei Kindern zuckelten sie in ihrem Moskwitsch von Jena Richtung Stuttgart, denn in Umkreis hatten sie Verwandtschaft. Aber auf dem Weg leuchtete neben der Straße der Mercedes-Stern:
"Da hab ich damals da vorne am Tor gefragt, ob es da Arbeit gibt. Ich bin sofort ins Personalbüro geschickt worden, und da ist mir die Stelle in der Gießerei angeboten worden."
In Thüringen hatte Greiner Automechaniker gelernt, und nach sechs Jahren Trabant, Wartburg und Moskwitsch träumte er davon, endlich mal einen Mercedes zu reparieren. Zwar sind es noch ein paar Arbeitsschritte von der Gießerei zu einem kompletten Mercedes, aber anschauen kann man sich die Sache ja mal, dachte er damals:
"Der Herr Zacharias damals sagte, Junge, geh da rein und guck dir das an, dann sagst du mir ja oder nein. Ich durfte da rein, damals ganz allein mit einem Meister zusammen, ich habe mir die Gießerei angeschaut und sofort ja gesagt."
Neben der Straße leuchtete der Mercedes-Stern
Ein paar Tage später fing er mit der Arbeit an, drei Monate später kamen Frau und Söhne nach. Der Anfang war hart, sagt Greiner im Rückblick, denn Daimler zahlte zwar nicht schlecht, aber für eine Familie mit zwei Kindern, die sich aus fast nichts eine Existenz aufbauen will, war es dennoch knapp:
"Die erste Zeit war wirklich richtig schwer. Da mussten Sie wirklich aufs Geld schauen, dass ich mir noch ein Brötchen kaufen kann, damit die Kinder noch was zu essen hatten. Das war schon eine sehr harte Zeit am Anfang. Meine Frau hat dann verschiedene Putzstellen angenommen, ich habe noch Hausmeister gemacht nebenher, mehrere Jobs nebeneinander also, sodass man sich dann irgendwann ein bisschen was auf die Seite bringen konnte, was leisten konnte."
Aus den thüringischen wurden also allmählich die schwäbischen Tugenden, aus dem Moskwitsch wurde irgendwann ein Mercedes 190, den es damals noch zu Sonderkonditionen für die Mitarbeiter gab. Die Kollegen in der Gießerei waren schon damals ziemlich international, am Anfang, sagt Udo Greiner, sei er als erster Thüringer zwar neugierig beäugt worden, aber niemals misstrauisch:
"Wirklich super aufgenommen worden, mittlerweile nur noch Freunde hier, also keine, wo man sagt, guckst du mal besser weg."
"Der Thüringer ist irgendwo hängen geblieben"
Tatsächlich, beim Rundgang durch die Gießerei begrüßt Greiner alle Kollegen kameradschaftlich, obwohl er hier mittlerweile der Chef ist. Im Jahr 2000 hat er seinen Meister gemacht, und ein paar Jahre später einen anderen schwäbischen Traum wahr gemacht. Nach der Schicht fährt er mit seiner B-Klasse nach Uhingen im Filstal und zückt stolz den Schlüsselbund für sein Reihenmittelhaus:
"Fliesen selber gelegt, alles Handarbeit, alles selber gemacht."
Die beiden Söhne sind mittlerweile aus dem Haus, übrigens arbeiten beide bei Daimler - in der Gießerei. Sie sind zweisprachig aufgewachsen, sagt Udo Greiner lachend, mit den Kollegen reden sie schwäbisch, zu Hause im Thüringer Dialekt. Kein Wunder, denn wenn man aus dem Wohnzimmerfenster schaut, sieht man ein Gartenhaus mit der Aufschrift:
"Bratwurstlaube, das heißt, der Thüringer ist irgendwo hängen geblieben."
"Traum von einem neuen Leben im Westen"
Und er lacht weiter, als er auf seine Körpermitte zeigt und erklärt, dass auch die ein Beweis für die typisch thüringische Liebe zu gutem, deftigen Essen sei. Neben den Erinnerungen an die thüringische Heimat bewahrt die Familie auch einen Teil des Staunens, das die Greiners erlebten, als sie vor 25 Jahren vom Mauerfall erfuhren.
"Als die Mauer aufgemacht worden ist, habe ich das erst gar nicht mitbekommen. Ich war abends zum Abendessen in einer Gaststätte gewesen und sagt der Wirt, mit einem Schnaps, die Grenze ist offen - alles klar, ja - und dann war's ja wirklich so."
Und über noch etwas haben die Greiners gestaunt, als sie aus dem Osten mit seinen vielen Braukohlekraftwerken und -Heizungen in den Westen kamen: über die Farbe des Grases.
"Kann man sich gar nicht vorstellen, dass das Gras so grün ist, ich habe das damals für einen Blödsinn gehalten, aber viele Leute haben damals gesagt, wenn du in den Westen kommst, ist das Gras viel grüner."
Udo Greiners ursprünglicher Traum, irgendwann mal statt Trabi oder Wartburg einen Mercedes zu reparieren, hat sich zwar nicht erfüllt. Aber der Traum von einem neuen Leben im Westen schon. Mit grünerem Gras.