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Reihe "Fachkräfte auf Wanderschaft"
Argentiniens IT-Branche setzt auf Expertise aus Venezuela

Argentinien steckt derzeit in einer schweren Wirtschaftskrise. Doch eine Branche boomt: Die Software-Industrie ist seit 2007 um fast 70 Prozent gewachsen. Trotzdem bleiben rund 5.000 Stellen jährlich unbesetzt. Daher setzt die Branche zunehmend auf Fachkräfte aus dem Ausland. Zum Beispiel aus Venezuela.

Von Anne Herrberg |
Blick auf Buenos Aires.
IT-Fachkräfte sind in Argentinien Mangelware und heiß begehrt (dpa /Julian Stratenschulte)
Alberto Rincones steht auf der Terrasse seiner neuen Arbeitsstelle und blickt über sein neues Zuhause: Die breite Avenida 9 de Julio, im Hintergrund der Obelisk, das Wahrzeichen von Buenos Aires. Vor einem Monat ist Alberto aus Caracas nach Argentinien gekommen.
"Es ist sehr hart in Venezuela. Es reicht nicht mal mehr für das Nötigste. Wasser ist knapp, das Essen, Strom. Wer kann, geht. Ich war ständig auf der Suche nach Möglichkeiten, fürs Ausland zu arbeiten – viele Unternehmen nutzen das auch aus."
Vier Millionen Menschen haben Venezuela in den letzten Jahren den Rücken gekehrt – darunter viele junge, gut ausgebildete Fachkräfte wie Alberto. Der 23-Jährige ist Programmierer.
"Ich habe vorher aus Caracas für eine chilenische Firma gearbeitet, die hat mich sehr schlecht bezahlt, ich hatte keinen richtigen Vertrag, musste ständig Überstunden machen. Das Angebot aus Argentinien war für mich eine Riesenchance."
Alberto kam mithilfe eines privaten Programms nach Argentinien. "Plan Venezuela", ins Leben gerufen von einer privaten Firma aus Buenos Aires, "intive Argentinien". Denn dort werden Fachkräfte wie Alberto Händeringend gesucht, sagt Recruting Managerin Carla de Stefanoni
"Man sieht es ja in den Nachrichten und auf der Straße, Millionen Venezolaner verlassen derzeit ihr Heimatland aufgrund der schweren Krise dort. Und darunter sind sehr viele gut ausgebildete Leute. Eine venezolanische Kollegin, die zu uns kam, machte uns darauf aufmerksam, dass viele Venezolaner zwar gerne emigrieren möchten, aber nicht die Mittel haben, für das Flugticket, die Unterkunft, die ersten Schritte. Und da haben wir beschlossen, das zu übernehmen."
Boomende IT-Branche
Argentinien steckt derzeit in einer schweren Wirtschaftskrise – doch die Software-Industrie boomt, ist seit 2007 um fast 70 Prozent gewachsen, eine halbe Million Jobs sind entstanden. Argentinien ist zum wichtigsten Hub Südamerikas für Softwareentwicklung geworden.
Sofas, helle Holzmöbel, Lounge-Musik und überall klappernde Tastaturen. La Maquinita, die "kleine Maschine" im Hipster-Viertel Palermo von Buenos Aires ist einer von Dutzend Co-Working-Spaces von Buenos Aires in denen ausschließlich entwickelt und programmiert wird.
Nicolas Federico hat, gemeinsam mit Freunden, vor knapp einem Jahr das Software Start-up Zarego gegründet. Von Argentinien aus entwickeln sie Apps und digitale Plattformen vor allem für die USA und Europa.
"Zum ersten Mal in meinem Berufsleben – und ich habe schon viel ausprobiert – ist es schwerer Leute zu finden, die für dich arbeiten, als Kunden. Unseren Programmierern zahlen wir deutlich mehr als uns selbst, wir zahlen ihnen teilweise Löhne in US-Dollar, trotzdem ist es ungemein schwer, sie zu halten."
Es fehlt an Nachwuchs
Jedes Jahr bleiben rund 5.000 Stellen unbesetzt. Zwar haben mehrere Unis ihre Studiengänge ausgebaut, in der Nähe des Provinzstädtchens Tandil, 350 Kilometer von Buenos Aires entfernt, ist sogar ein eigenes Kompetenzzentrum entstanden. Und die Regierung hat Stipendienprogramme aufgelegt, 2019 ein neues Software-Gesetz ins Leben gerufen.
Trotzdem fehlt es an Nachwuchs. Matias Dominoni von Zarego erklärt das Dilemma
"Viele jungen Leute haben aufgrund der Krise die Notwendigkeit, schnell Geld zu verdienen, deswegen ziehen sie Kurzzeit-Ausbildungen einem langen Studium vor, um sich so schnell in den Arbeitsmarkt einzugliedern. Dazu kommt, bei den Stipendienprogrammen wird derzeit auch wieder gekürzt. Heißt: es gibt zwar mehr Programmierer, aber vielen fehlt die Basis, und damit die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Sie können zwar einzelne Programme bedienen, aber es fehlt das Grundlagenwissen, also wie eine Technologie angewendet werden kann, um Probleme zu lösen."
"Ich war erstaunt, wie einfach alles war"
Alberto Rincon bringt genau das mit. Er ist einer von 30, der mithilfe des "Plan Venezuela" ins Unternehmen nach Buenos Aires gekommen sind. Der Vorteil: man spricht die gleiche Sprache, dazu erleichtern internationale Abkommen die Migration von Venezolanern, die in fast allen südamerikanischen Ländern ohne große Bürokratie Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung beantragen können - die Anerkennung von venezolanischen Schul- und Universitätsabschlüssen wurde erleichtert.
"Und ich war erstaunt, wie einfach alles war. Ich bin kaum einen Monat da und habe schon alle Papiere zusammen, die Leute sind zuvorkommend. Ich kann es selbst nicht glauben."
Alberto Rincones wurde als Programmierer der Neustart in Argentinien leichtgemacht. Viele seiner Landsleute arbeiten dagegen in prekären Verhältnissen, schlecht bezahlt, zum Beispiel als Fahrer für Onlineplattformen wie Rappi, Glovo oder Uber – die andere Seite des digitalen Booms.